Monatelang saß ich ...

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Monatelang saß ich eingeklemmt in meiner engen Kammer. Ein langes Geschaukel, ein paar mal Karussell fahren, sonst geschah nichts. Fast nichts. So ist das eben bei uns. Manche müssen jahrelang ausharren, verrosten oder werden zerstört, ehe sie ihre Erfüllung finden.

Nur meinem Kumpel, der lange neben mir gesteckt hatte, passierte was Komisches. Ihm wurde die Seele entnommen. Gewissermaßen. Dann wurde er wieder zusammengeflickt und an einen mir - zunächst - unbekannten Ort verbracht. Als dann geschah, kürzer als ein Augenzwinkern, wofür wir geschaffen wurden, da nutzte ich alle meine Freiheitsgrade - in Wirklichkeit sind es ja höchstens Sekunden, Winkelsekunden, die uns die Physik zubilligt - nutzte ich alle Tricks, jede kleinste Unregelmäßigkeit, um vorbei zu fliegen.

Was durchaus ungewöhnlich ist. Meinesgleichen ticken anders. Die Meisten jedenfalls. Wie Dämonen ergeben sie sich ganz dem Willen des jeweiligen Besitzers, suchen sogar, diesen zu übertreffen. Übertreffen - ein treffliches Wort, fürwahr. So bin - oder besser: war - ich nicht. Immer hatte ich diese Illusion einer höheren Gerechtigkeit.

Du, der mich gefunden hat, eine Meile entfernt vom traurigen dreckigen Vorplatz des Saloons, bist erstaunt. Solche wie wir, dachtest du, haben nichts zu sagen. Kennen nur den einen, heftigen Ausbruch. Wie dumm! Oder dum dum, wie ich gerne witzelte. Jeder Stein, der, sich selbst verzehrend, im Wasser vom Gebirge bis in die Ebene rollt, kennt die Geschichte seiner Reise, bis er im Gewisper der Sandkörner verrauscht. Um wieviel mehr gilt das für solche Wesen wie wir, die wir von euch gemacht werden! Voller Erfahrung und Symbolik stecken wir. Nur seid ihr, fast ausnahmslos, zu blöde, davon etwas zu ahnen.

Als es dann zum Show-down kam und ich das leise, trockene Klacken hörte, dem nicht das befreiende Bellen der Entladung folgte, da war mir die miese kleine Geschichte sofort klar. Darum also hatte man ihm seine Seele genommen, die Treibladung aus dem Leibe gekratzt und ihn sorgfältig wieder zusammengeflickt! Als es gleich darauf bei mir geschah, als mir das gewaltige, teuflische Feuer unterm Arsch entzündet wurde, das mich schnurstracks ins Freie schleuderte, da nahm ich alle meine Kräfte zusammen, um meine Bestimmung - nicht zu erfüllen. Ich bohrte mich nicht durch Haut, Fleisch, Knochen, zerriß keine Adern, Sehnen, Nerven, sondern sauste mit gewaltiger Geschwindigkeit vorbei. Lange noch flog ich dahin, hörte in der Ferne noch eine weitere Explosion, ehe ich sanft und ermattet ins Präriegras glitt.

Ach, Fremder, seit ich hier im Staube liege, sind mir Zweifel gekommen. Was nun, wenn dieser fiese Trick mit der tauben Patrone einem Bösen gegolten hätte? Welche Schuld hätte ich auf mich geladen! Am besten, du nimmst mich mit und tust mich in die Schmelze.
 

lietzensee

Mitglied
Ein Toller Text Binsenbrecher.
Ich hab ihn zwei mal lesen müssen, aber das hat sich gelohnt! Die Idee ist sehr originell und die Umsetzung finde ich sauber.

Wenn ich wirklich was mäkeln müsste, dann würde ich diesen Absatz rausstreichen:

Du, der mich gefunden hat, eine Meile entfernt vom traurigen dreckigen Vorplatz des Saloons, bist erstaunt. Solche wie wir, dachtest du, haben nichts zu sagen. Kennen nur den einen, heftigen Ausbruch. Wie dumm! Oder dum dum, wie ich gerne witzelte. Jeder Stein, der, sich selbst verzehrend, im Wasser vom Gebirge bis in die Ebene rollt, kennt die Geschichte seiner Reise, bis er im Gewisper der Sandkörner verrauscht. Um wieviel mehr gilt das für solche Wesen wie wir, die wir von euch gemacht werden! Voller Erfahrung und Symbolik stecken wir. Nur seid ihr, fast ausnahmslos, zu blöde, davon etwas zu ahnen.
Ich fände die Wirkung noch stärker, wenn es nur ein Monolog der einsamen Kugel bleiben würde und nicht zum Dialog wird.

Viele Grüße
lietzensee
 
Hallo lietzensee,

vielen Dank für Deinen freundlichen Kommentar, und auch für die Bewertung.
Ich finde Deine Überlegungen, es beim Monolog zu belassen und nicht zum Dialog auszuweiten, durchaus bedenkenswert. Der Wunsch am Schluss, endlich zu vergehen und eingeschmolzen zu werden, könnte dann auch im Konjunktiv ausgedrückt werden, etwa so: "Ach, fände mich doch jemand ... usw."

MfG
Binsenbrecher
 

Scal

Mitglied
Hallo Binsenbrecher,

mir gefällt die etwas kuriose Phantasie in deiner kurzen Erzählung. Es gibt einige Stellen, wo ich kleine Veränderungen vorschlagen würde. , Prosa ist allerdings nicht mein Hauptmetier, zur Komposition insgesamt will oder kann ich darum nicht viel sagen. Ich weiß nicht, ob du nicht ohnehin geplant hattest, am Text noch was zu ändern.

LG
Scal
 
Hallo Scal,

vielen Dank für die freundliche Würdigung meines Textchens! Ob ich den noch mal ändern möchte? Ich glaube eher nicht. Auf lietzensees Vorschlag, den Dialog herauszunehmen, habe ich mal versucht, das Geschichtchen auf einen reinen Monolog umzubauen, und, was soll ich sagen - es gefiel mir nicht mehr. Warum sollte die Kugel denn ihre Sache erzählen, wenn da kein Gegenüber ist? Anscheinend ist für mich eine Szene unverzichtbar, etwa wie diese: Ein Cowboy macht Rast, findet zufällig die Kugel, und die erzählt ihm ihre Geschichte.

MfG
Binsenbrecher
 

Scal

Mitglied
Ein Vorspann, der den Text dann doch auch wieder recht reizvoll machen würde. Der Cowboy, weil halb verdurstet herumirrend, könnte sich beispielsweise in einer Art Delirium befinden, oder er liegt mit dem Gesicht- weil angeschossen - direkt vor einer Patrone und meint, deren Stimme zu hören ...
Aber das würde freilich einem Neuansatz für den ganzen Text gleichkommen.

LG
Scal
 
Hallo Scal,
vielen Dank für Deinen Beitrag. Ja, das wäre eine andere Geschichte; und es freut mich, dass mein Text anscheinend mehrere Geschichten enthält. Bzw. in verschiedene Erzählungen hineinpasst. Bzw. wie eine verirrte Kugel bei ihrem Vorbeiflug eine ganze Reihe von Western-Klischees streift. So soll es sein.

MfG
Binsenbrecher
 



 
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