Mondkälbchen

Omar Chajjam

Mitglied
Mondkälbchen


Daß ich auf dem Mond lebe, weiß jedes Kind. Sie sagen zu mir, Omar, du lebst auf dem Mond oder sogar hinter dem Mond. So schreibt man doch keine Gedichte mehr. Aber das macht mir nichts, ich lebe gerne auf dem Mond. Ich will gar nicht die vielen Vorteile aufzählen, die man hier vom erdlichen Standpunkt aus hat. Eins aber ist schon wichtig für mich, ich sehe die Erde nicht mehr, wenn ich auf die Rückseite des Mondes gehe, und besser noch, die Erde sieht mich nicht mehr, niemand auf der Erde.

Dort, hinter dem Mond begegne ich dem Mondkälbchen. Das Mondkälbchen ist wie alle Kälbchen der Welt das Kind einer Kuh. Nur der Vater ist etwas ungewöhnlich. Er ist ein Sternbild, in das sich die Kuh in einer klaren Juninacht verliebt hatte. Das ist auch der Grund, warum das Mondkälbchen einmalig ist. Ich bin mir also sicher, daß ich immer dem gleichen Mondkälbchen begegne, wenn ich über die Rückseite des Mondes spaziere.

Heute ist das Mondkälbchen sehr nachdenklich. Es sitzt auf einem Mondstein und sieht dem Sonnenuntergang zu.
"Sag mal Omar, du bist doch manchmal auf der Erde, um deinen Wein zu holen, sind die Sonnenuntergänge auf der Erde auch so schön wie hier?"
"Sie sind anders."
"Wie anders."
"Sie haben mehr Atmosphäre, deshalb sind sie auch nicht so klar."
"Ich liebe Klarheit."
"Ich auch."

Das Mondkälbchen blickt mich mit großen, kugelrunden braunen Augen an. Auch die Kälbchen auf der Erde blicken so. Immer. Das ist auch der Grund, warum ich mich immer so schuldig fühle und mich abwende und weggehe.

Heute war ich auf der Erde in dringenden Angelegenheiten. Verschiedene Sachen gibt es nur auf der Erde. Dazu gehört natürlich Wein und leider auch Liebe. Auf dem Mond kann es keine Liebe geben, weil dort alle Wesen einzeln sind. Es gibt den Mann im Mond, das Mondgesicht, die Mondsichel, das Mondpferd. Alle Wesen auf dem Mond mögen einander. Aber Liebe, Liebe gibt es nur auf der Erde - auch den Haß. Daß das möglich wurde, hat die Erde zwei Geschlechter erfunden. Manchmal suche ich dort nach der Liebe. Doch nie kann ich sie mitnehmen auf die Rückseite des Mondes. Auch die Zeichen für Liebe kann ich nicht mitbringen, denn die Gegenstände zerfallen auf dem Mond. Der Mond läßt keine Gegenstände zu.

Das Mondkälbchen hat mich erwartet. Es steht an der Grenze der Rückseite und blickt über den Rand.

"Warst du wieder auf der Suche nach Liebe, Omar?"
"Ja, aber ich habe Wein gefunden."
"Was ist Liebe?"

Das habe ich erwartet. Das Mondkälbchen geht mir mit seinen Fragen auf die Nerven, besonders, wenn ich etwas nicht erklären kann. Aber ich weiß schon, was ich machen muß, um drumherum zu kommen. Ich erzähle ihm die Geschichte vom Wein.

"Paß auf, ich erzähl dir die Geschichte vom Wein. Dann verstehst du die Liebe. - Als die Erde die Liebe erfunden hat, ist sie davon ausgegangen, daß immer ein Wesen ein anderes findet. Das mag wohl am Anfang ganz gut gelungen sein. Aber je mehr Wesen die Erde bevölkerten, desto weniger fanden sie einander. Und so kam der Haß in die Welt. Da sah die Erde, daß sie einen Fehler begangen hatte und ließ den Wein wachsen. Der hilft den Einsamen durchs Leben, wenn sie auch immer nach der Liebe suchen. Manche können damit fliegen. So bin ich zum Mond gekommen."

Ich denke, das reicht. Das Mondkälbchen wird nicht gemerkt haben, daß ich die Liebe nicht erklären kann. Aber ich habe mich getäuscht. Es ist klüger als ich dachte.

"Omar, du solltest der Erde sagen, daß die Wesen zuerst sich selbst lieben sollen. So geht die Liebe nicht verloren."

Die Antwort hat mich sehr überrascht und ich werde mir den Satz merken bei meinem nächsten Besuch auf der Erde.

Ich habe immer weniger Freude daran, zur Erde zurückzukehren. Der Mann im Mond beobachtet die Erde. Er hat von Natur aus einen Gegenstand, eine Laterne. Es ist so ziemlich der einzige Gegenstand, der nicht sofort zerfällt. Das Zerfallen ist übrigens auch der Grund für meine Erdaufenthalte. Es ist nicht die Liebe, es ist der Wein und den gibt es leider nur in Flaschen und Fässern. Mit der Laterne hat er einen besonderen Durchblick. Er kann auf der Erde alles sehen. Nur erklären kann er es nicht. Darum fragt er mich oft um Rat. Er ist sehr geschwätzig. Er hat einen großen Hund gesehen, der ein Kalb fraß. Ich konnte ihm das nicht erklären. Es paßte nicht in mein Schema.

Das Mondkälbchen hat zugehört. Es fragt mich, warum ich das nicht erklären kann.

"Warum, Omar, der doch in beiden Welten zu hause ist, kannst du mir das nicht erklären?"
"Weil ein Hund kein Kalb frißt sondern es hütet."
"Aber - es ist doch mit mir verwandt. Ich bin auch ein Kälbchen!"

Das Mondkälbchen ist sichtlich verstört und ich versuche es zu beruhigen.

"Es wird eine Krankheit sein."
"Was ist Krankheit?"

Das wird schwierig.

"Krankheit ist der Weg in den Tod auf der Erde."
"Erlöschen die Wesen auf der Erde nicht wie die Sterne"
"Nein, sie leiden vorher."
"Was ist Leiden?"

Das habe ich erwartet. Jetzt muß ich gleich Gott ins Spiel bringen. Aber das will ich auf jeden Fall vermeiden.

"Leiden ist etwas, was die Wesen der Erde einander zufügen aus Mangel an Liebe."

Vielleicht hätte ich das mit Gott sagen sollen, vielleicht auch schweigen. Ich vermisse das Mondkälbchen sehr, wenn ich allein die Sonnenuntergänge betrachte.
 

George Polly

Mitglied
Hallo Omar
gefällt mir.
Du scheinst auch einen etwas absonderlichen Ausdruck zu
pflegen.
Mich würde mal interessieren, welchen Stellenwert die
Bildhaftigkeit für dich hat.
Kennst doch bestimmt Rafiq Shami, oder?
 

Omar Chajjam

Mitglied
Ja, es ist tatsächlich ein wichtiger Autor für mich, zumal ich auch Märchenerzähler bin. Für diesen Text trifft aber eher der KLeine Prinz zu.

Und das Bildhafte liegt mir nahe, weil ich Maler bin.

Grüße von
Omar
 

George Polly

Mitglied
Ist ja interessant.
Was malst du so?

Im Mondkälbchen liegt die Befremdung eines
Teiles der menschlichen Seele.
Oder ist das eher ein Stück Objektivität,
soll heißen Selbstbetrachtung, Loslösung
vom Ich ?
 

Omar Chajjam

Mitglied
Nimm einen Spiegel, setz Dich an einen ruhigen Platz bequem hin. Stelle eine Kerze vor Dich und zünde sie an. Und jetzt betrachte Dich, deine Augen, die Augenbrauen, Nase, Mund, aber ganz genau, folge den Faltungen, den Lichtern. Mach das nicht kritisch, nur so zum Kennenlernen einer fremden Gegend. Das ist der erste Schritt auf dem Weg zum Mond.

Das Mondkälbchen ist der Spiegel, aber in Wahrheit ist es Dein Spiegelbild. Es fragt Dich, wieso ist denn die eine Falte so oder so geworden, warum macht denn die Nase so einen komischen Bogen.

Darum schreibe ich die Geschichten vom Mondkälbchen.

Gruß
Omar
 

George Polly

Mitglied
bin auf allen Ebenen zu Hause
auch auf dem Mond.
Jedoch im Unterschied zum
unterbewußten Handeln in der
Gefühlswelt eher auf mystischer
Basis, soll heißen, eine Betrachtung
außerhalb der Tragfähigkeit jeglichen
rationalen Verständnisses-
auch in Bezug zu emotionellen Begriffen.

Übrigens habe ich gehört, durch lange
Selbstbetrachtung im Spiegel soll man
die Gesichter seiner früheren Inkarnationen
wiedererkennen - zweifelhafte Ausführung
einer wohl eher unterschwelligen
Selbstfremdheit.
Danke für die Antworten
Schönen Gruß
Georgie
 

Chrissie

Mitglied
Hallo Omar!

Schön, dass Du hier bist! Jedesmal, wenn ich etwas von Dir lese, ergötze ich mich daran.
Das Mondkälbchen weist tatsächlich Ähnlichkeit mit dem Kleinen Prinzen auf, aber der Text erinnert mich auch ein wenig an Salman Rushdie...

Liebe Grüße
Chrissie
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
eine

sehr schöne geschichte. mal wieder was zum nachdenken und im bekanntenkreis vorlesen, wenn du gestattest. ganz lieb grüßt
 

Omar Chajjam

Mitglied
Na ja Salman Rushdie ist wohl zu hoch angesiedelt. Er schreibt sehr episch und orientalisch farbig. Ich habe in anderen Geschichten wohl eher Ähnlichkeiten mit ihm. danke fürs Vorlesen, das ist mir tatsächlich das Wichtigste. Ich möchte gerne vorgelesen werden.

Gruß
Omar
 
L

leonie

Gast
hallo Omar

Eine Geschichte wie ich sie mag, Zum Träumen und Nachdenken.
liebe Grüße leonie
 



 
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