Mondsee

Herr Wilson

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Als ich damals mit Ben am Lagerfeuer saß und im klaren Nachthimmel über dem Waldsee die 14. Sternschnuppe zählte, dachte ich, das müsse der glücklichste Moment meines bisherigen Lebens sein.

Wir, eine Gruppe aus 5 Jungen und drei Mädchen, waren mit unserer Camping-Ausrüstung auf Fahrrädern zu dieser Waldlichtung gekommen, um ein Wochenende dort miteinander zu verbringen. Monsi hatte sich besonders aufs Angeln im Mondsee gleich unterhalb der Lichtung gefreut.
Der See war am Tag wunderschön und lud zum Baden ein. An einer Stelle hing der wuchtige Ast einer alten Buche über das Wasser hinaus. An ihn hatte jemand ein Tau gebunden. Und so konnte man sich vom Hügel daneben abstoßen und, nachdem man regelrecht durch die Luft geflogen war, die coolsten Sprünge ins Wasser machen – meist mit mindestens einem Salto.
In der Nacht hatte dieser Ort bisweilen etwas Verwunschenes, konnte aber auch unheimlich wirken, inmitten der finsteren Wälder, die in der Dunkelheit erschienen, als würden sie zum Leben erwachen mit fremden Geräuschen, die einem schnell die Gänsehaut und den kalten Angstschweiß ausbrechen ließen. Hier hatte sich schon so manches ereignet und jeder wußte am Feuer eine Geschichte zum Besten zu geben, die sich darin zugetragen haben soll.

Jetzt saßen nur wir beide an der Feuerstelle in unseren Campingstühlen, von vorne angenehm von den Flammen gewärmt, am Rücken die kühle Nachtluft, während die anderen in ihren Zelten lagen. Gelegentlich konnten wir die Schlafenden hören. Im Zelt neben uns hatte vorhin jemand im Schlaf gebrabbelt. Wir hatten uns das Lachen verkniffen und nur leise gekichert, damit wir die anderen nicht weckten. Das wollten wir tunlichst vermeiden. Schließlich war der Moment so am schönsten: zu zweit an der Feuerstelle und Wache halten, einen selbst gemachten Eistee in der Hand, das Licht des Vollmondes betrachtend, das sich im See spiegelte und die Gewissheit, dass der morgige Tag mindestens genau so perfekt werden würde wie der heutige.
Es war also nicht einer dieser organisierten Ausflüge zum Zelten mit irgendwelchen Jugendgruppen, denen Betreuer ständig im Nacken saßen oder ein Pfadfinder-Treffen, kein Familienausflug mit Freunden, keine Väterfahrt, keine Mutter-Tochter-Aktion. Es waren keine Eltern da, keine Erwachsenen, … keine Aufsicht.
Harte Überzeugungsarbeit war nötig gewesen, damit wir die Erlaubnis bekamen ohne Aufpasser los zu ziehen. Andere in unserer Schule hatten mitbekommen, dass wir diesen Trip planten und wollten sich uns unbedingt anschließen, schafften es aber nicht. Sie hatten ihre Eltern bekniet mitfahren zu dürfen, ihnen alles mögliche versprochen, damit sie die Erlaubnis bekämen. Keine Chance. Und auch für ein paar von uns wäre es bald nichts geworden. Ihre Eltern waren zu besorgt, das Wochenende könnte für irgend jemanden schlecht ausgehen, ihr Kind könnte Schaden nehmen oder wir würden einen großen Blödsinn machen. Ich weiß bis heute nicht, wie es Tschisi gelungen ist, sie umzustimmen.

Da ging der Reißverschluss von Tschisis Zelt auf. Und ein heller Haarschopf schob sich durch den Schlitz nach draußen. „Ich muss pinkeln.“, flüsterte er uns zu, krabbelte ganz heraus, stand auf und tapste schlaftrunken zu den Bäumen hinüber. Wir sahen ihm nach. Nach einer Weile hörten wir aus der Richtung einen zufriedenen Seufzer.
„Hhhhhach!, sog Ben neben mir erschrocken die Luft ein. Lara war neben ihm aufgetaucht, als wir uns auf Tschisi und sein Geschäft konzentriert hatten. Nun stand sie da, die Arme in spitzem Winkel leicht nach vorn gestreckt, die Augen offen, starr geradeaus blickend, aber mit einer ganz tiefen Leere. Sie schlief scheinbar. „Sie schlafwandelt.“, stellte Ben fest. Schon setzte sie sich in Bewegung und ging langsam davon. Wir erhoben uns und folgten ihr in geringem Abstand. Tschisi kam zurück und Lara schritt an ihm vorbei. Er warf uns einen verwunderten Blick zu. „Sie schlafwandelt.“ wiederholte sich Ben.
„Was sollen wir tun?“, fragte ich die beiden.
„Auf keinen Fall aufwecken oder erschrecken.“ antwortet Tschisi. „Ich habe gehört, dass das gefährlich sein soll.“
„Kommt, folgen wir ihr erst mal“, meinte Ben darauf, „ schließlich können wir sie nicht so allein in den Wald laufen lassen!“
„Und was ist mit den anderen?“, fragte ich.
„Die schlafen. Lassen wir sie schlafen!, entgegnete Ben.
Tschisi war schon ein paar Schritte voraus und winkte,“ Jetzt kommt!“
„Hier kenne ich mich noch aus. Aber nachts kann man im Wald ganz schnell die Orientierung verlieren.“ sagte ich zu den beiden, als wir uns tiefer in den Wald begaben, ihr vorsichtig folgend. „Wahrscheinlich stellen sich die anderen die gleiche Frage:“, dachte ich, „Wie schafft sie es nur schlafend nicht gegen einen Baum zu laufen oder über irgend eine der tausend Wurzeln zu stolpern?“
„Wisst ihr, in welche Richtung wir unterwegs sind?, fragte Tschisi und gab sich selbst die Antwort: „Sie geht in Richtung des Pestfriedhofs.“

Mit dem alten Pestfriedhof verbanden wir nichts gutes. Eigentlich war dort auch gar kein Friedhof. Es gab nur eine Gedenktafel, die daran erinnerte, dass an dieser Stelle im Wald die Pesttoten bei einer Epidemie im Mittelalter begraben worden waren.
Wir hatten seit etwa zwei Jahren nicht mehr über den Pestfriedhof gesprochen. Wir hatten auch früher nicht darüber geredet. Aber da war dieser Nachmittag im Sommer vor zwei Jahren. Uns war langweilig. Und ich weiß nicht mehr wer... ,aber einer von uns sprach plötzlich vom Pestfriedhof und darauf entspann sich dann sehr schnell eine Geschichte, bei der wir nach Hause liefen, um Hacken und Schaufeln zu besorgen, um der Sache auf den Grund zu gehen.
Wir wollten einen Pesttoten ausgraben. Oder wenigstens das, was von ihm übrig war. Ich kann nicht mehr sagen, was uns da geritten hat. …

Wir kamen dann dort an. Natürlich waren wir nicht leise, vielleicht sogar recht laut, eben so, wie Kinder sind, wenn sie eigentlich gar nicht so mutig sind, wie sie vorgeben. Auf jeden Fall haben wir ein paar Rehe aufgeschreckt, die in wilder Flucht davon stürzten. Ein Kitz blieb in einem Stacheldrahtzaun hängen und schrie. Ich hätte vorher nicht einmal sagen können, ob Rehe überhaupt einen Laut von sich geben, und wenn, wie sich das anhören mag. Es war wirklich laut und klang zum Teil sogar irgendwie menschlich. Mir gingen die Schreie durch Mark und Bein. Nachdem wir nachgesehen hatten und keiner den Mumm aufbrachte, dem Kitz zu helfen - der Draht hatte sich an mehreren Stellen schon ins Fleisch gebohrt- liefen wir davon. Kinder. Vor lauter Leichtsinn und Achtlosigkeit Schaden verursachen und wenn es ernst wird davonlaufen. Den Hang runter. Weg von dem Gehölz, wo das Kitz noch immer diese jämmerlichen Laute ausstieß. Bald trafen wir ein Stück weiter einen Mann, der auf einer Bank am Mühlbach unten saß. Er hatte uns gleich an den Gesichtern abgelesen, dass etwas passiert war, uns etwas richtig erschreckt hatte, es ernst war. Wir erzählten es ihm - den Teil mit der Exhumierung der Pesttoten sparten wir uns. Er sagte, er sei ein Jäger und dass er sich darum kümmern werde. Und in meiner Erinnerung zog er währenddessen ein Messer aus seiner Hosentasche. Es war so ein gebogenes Klappmesser. Dann ging er los, dem Geschrei des Rehkitzes entgegen. Bis das Schreien mit einem Mal abbrach.


Seitdem hatte keiner von uns mehr ein Wort darüber gesprochen.
 

hein

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Hallo Herr Wilson,

im Prinzip ein guter Plot, aber irgendwie hängt der Teil mit dem Camping in der Luft. Nach der Rückblende müsste die aktuelle Geschichte noch einen Abschluss finden.

Und noch etwas fiel mir auf, ist aber nicht erheblich:

Jetzt saßen nur wir beide an der Feuerstelle in unseren Campingstühlen,
Wir waren früher ja auch campen, aber Stühle haben wir nie mitgeschleppt.


LG
hein
 

Herr Wilson

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Hallo Hein,
Danke für die Rückmeldung!
Ja, das sehe ich genauso.
Dies ist die ursprüngliche Fassung und war als Kurzgeschichte gedacht. Es gibt auch schon eine Fortsetzung, die leider noch nicht vollendet ist.

Ich habe an eine recht einfache und handliche Form von Stühlen gedacht. Die bekommt man in ein Säckchen zum Umhängen.

LG
 



 
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