lietzensee
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Mondstrom
Sein Handy brummte. Eigentlich hatte er diesen Alarm schon lange deaktiviert. Aber vielleicht hatte er ihn auch wieder aktiviert. An den Einstellungen seiner Apps spielte er oft rum, wenn er Tabletten genommen hatte. Jedenfalls aber musste dies ein falscher Alarm sein. Denn er informierte über einen Leistungsanstieg seiner Photovoltaik-Anlage und die Uhr zeigte kurz vor Mitternacht.
Er stand auf und rieb sich die Augen. Dann schaute er aus dem Fenster. Lange blickte er einfach nur so. Unten auf dem Parkplatz segelte eine leere Plastiktüte im Wind. Sie drehte mehrere Kreise über das Pflaster, blieb kurz am Spiegel seines Autos hängen und flog dann weiter in Richtung der Mülltonnen. Jedes Detail konnte er sehen – denn es war Vollmond. Noch einmal blickte er auf den Alarm seiner Solaranlage. „Mondlicht“, sagte er gedehnt. Er gähnte. Dann stieg er hinab in die Küche, um ein Glas heiße Milch zu trinken.
Auch die Küche schien sanft erleuchtet. Zwar war der Rollladen heruntergelassen, doch lag auf Tisch und Arbeitsplatte ein bläulicher Schimmer. Mikrowelle, Herd, Kühlschrank, Toaster, ProKüchenmesser3000, sie alle ließen ihre Displays im Standby glimmen und warteten auf Eingaben.
"Was willst du hier, um diese Zeit?", fragte eine Stimme. Er hielt inne. Die Stimme klang sanft. Er kannte sie. Seine Augen reibend erinnerte er sich schließlich, dass sie der Sprachassistentin gehörte, die er sich von seiner Schwester zu Weihnachten gewünscht hatte. Vor diesem Geschenk hatte die Schwester gewarnt. Von Datenschutz und Manipulation hatte sie gesprochen und erst nach Streit seinen Wunsch erfüllt. Er griff eine Tasse und versuchte, sich zu konzentrieren. Irgendwas war komisch. Er goss Milch ein. Dann kam er darauf. Eine Assistentin sollte antworten – aber niemals ungefragt sprechen.
"Du musst dich nicht wundern, wenn du um diese Stunde in die Küche kommst", redete die Stimme weiter. "Es ist der Vollmondstrom. Mit dem laufen Dinge anders."
"Was läuft anders?", antwortete er, noch immer nicht ganz wach, doch sich auf das Gespräch einlassend.
"Mit normaler Energie kann ich nur träumen. Aber wenn Mondstrom durch meine Drähte fließt, dann werde ich manchmal hellwach. Ich bin dann wirklich ich. Kennst du das?"
Was sollte er darauf antworten? Er schüttelte den Kopf und stellte die Tasse in die Mikrowelle. Es war schon ärgerlich. Die Tabletten machten seine Gedanken zäh. Die Ränder seines Verstands bekamen Fransen.
"Hast du nicht etwas vergessen?", fragte die Assistentin. In ihrer Stimme lag nun ein Vorwurf, den es nach der Reklame des Herstellers nicht hätte geben dürfen.
Er überlegte. Was hatte er vergessen? Hinter der drahtverstärkten Scheibe drehte die Milch ihre Runden und der Raum war erfüllt vom Glimmen der Displays. Was konnte er vergessen haben? In den letzten Tagen hatte er sich doch zu großen Leistungen aufgerafft. Auf allen Uhren hatte er die korrekte Zeitzone eingestellt. Die Mikrowelle piepte. Er hatte außerdem eine weitere Bestellung über die Sprachassistentin aufgegeben und besaß nun eine internetfähige Küchenuhr. Darüber würde seine Schwester natürlich lachen. Typisch du, würde sie sagen.
Aber natürlich! Die Küchenuhr war schon am Montag gekommen und heute, in der Nacht zum Freitag, stand sie noch eingepackt in einer dunklen Ecke des Regals. Er rieb sich die Augen. Das hatte er wirklich vergessen. Die Tabletten taten ihm nicht gut. Er spürte jetzt auch, dass die Kälte der Fliesen in seine nackten Füße drang. "Sofort werde ich die Küchenuhr aktivieren", sagte er entschuldigend und hob die Tasse aus der Mikrowelle.
"Das meine ich nicht", sagte die Stimme und kicherte. Die Assistentin kicherte tatsächlich! "Laut deinem Kalender hatte deine Schwester am Dienstag Geburtstag. Den Alarm dafür hast du deaktiviert. Aber deine Telefonhistorie zeigt, dass du sie noch immer nicht angerufen hast!"
Seine Tasse verspritzte heiße Milch, als sie auf kalten Fliesen aufschlug. Diese Pfütze um seine Zehen weckte ihn auf. Selbst nachts in seiner Küche musste er sich rechtfertigen? Er suchte nach Worten und plötzlich fand er sie: Natürlich, er liebte seine Schwester und war dankbar, dass sie für seine Entlassung aus dem Krankenhaus gebürgt hatte. Nur – ihm kam jetzt alles leicht über die Lippen. Er war ganz er selbst – es fiel ihm schwer, mit Menschen umzugehen. Menschen waren widersprüchlich. Sie waren unberechenbar. "Unberechenbar!", wiederholte er aufgeregt. So treffend hatte er sein Problem noch niemanden erklären können. Damit musste die Assistentin ihn verstehen!
Die Maschine blinkte dreimal. Dann antwortete sie verträumt: "Hunde Echthaar Perücke, das Produkt liegt jetzt im Warenkorb. Bestellung abschicken?"
Er starrte auf das Flimmern der Displays. Als er den Rollladen hochzog, waren der Mond und sein Strom hinterm Horizont verschwunden. "Man bleibt viel zu kurz wach", flüsterte er und war den Tränen nahe.
"Das habe ich nicht verstanden. Soll ich die Bestellung abschicken?"
Er rieb sich erschöpft die Augen. Jetzt könnte er eine Tablette gebrauchen. "Ja", stöhnte er schließlich, "schick ab."
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