Monika

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Kayl

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Monika


Damals war es mühsam. Vertragstexte verbessern war bei meinem Jurastudium noch müham. Ändern, einfügen, streichen, noch einmal tippen auf der Schreibmaschine.
Wie leicht ist es heute. Ich sehe den Vertrag durch, lösche überflüssigen Text. Markieren und Entfernen-Taste. Weg! Als wäre er nie dagewesen.
Ist nicht die Arbeit überflüssig? Jetzt, nach meinem Entschluss?
Auf dem Schreibtisch liegt neben Papieren eine Plastiktüte. Ich setze mich in den Bürosessel, knüpfe einen Schuh auf, ziehe den Schnürsenkel heraus und lege ihn zur Tüte.
Das schwere Schreibmöbel aus dunkler Mooreiche hatte Irmgard aufgespürt. Irmgard! Damals noch Irmchen. Wir waren hingerissen, das gute Stück mit Tisch und Sesseln günstig von einem Kollegen erbeutet zu haben, der sich zur Ruhe gesetzt hatte. Um die dazu passenden Wandpaneele hatte ich mit dem Schreiner sogar noch ein bisschen gefeilscht. Kanzleieröffnung, glückliche Zeit.
Ich bin nun ruhig und gefasst, gehe über den Teppichflaum zum Fenster, sehe hinaus auf die regennassen Dächer, in den düsteren Himmel, sehe noch einmal die aufgezogene Seekarte der Adria an der Wand, die ich inzwischen hatte rahmen lassen, ein Geschenk zum Jubiläum.
Eine würdige Feier. Stolz konnte ich auf 25 Jahre erfolgreiche Anwaltskanzlei zurückblicken. Wie sagte unser Bürgermeister in seiner Rede: Das blanke Messingschild „Dr. Joachim Mehling, Rechtsanwalt und Notar“ hat viele nicht nur auf Recht hoffen lassen, nein, Dr. Mehling hat sich zielstrebig mit jedem Fall identifiziert, für jeden Klienten gekämpft.
Anita, meine Sekretärin, hatte eingeschenkt. In das Gemurmel der Gäste mischte sich das Klingen der Sektgläser. Glückwunschbriefe häuften sich auf dem Gabentisch zwischen Blumen, einem Segelbuch vom Studienfreund Horst von der Rechtsanwaltskammer, an die Wand gelehnt die Karte der Adria.
„Bitte etwas zusammen rücken“, der Fotograf wollte ein Bild für die Zeitung, fragte nach Lebenslauf, meinem Bildungsweg. Meine Ehe wurde ausgespart. Der Reporter wusste was sich gehört.
Mein Einkommen beziehe ich überwiegend aus Scheidungen, aber nicht nur das Familienrecht ist mein Gebiet. Ehrenamtlich fühle ich mich in einer brisanteren Sparte gefordert. Der Herr Pfarrer lobte deshalb meinen Einsatz für missbrauchte Kinder und Frauen. Wie wahr! Ich darf behaupten, dass ich als Experte für Straftaten mit sexuellem Hintergrund weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannt bin. In das Seelengefüge der Täter als auch der Opfer finde ich gut hinein. Die Fachzeitschrift „Der Jurist“, für die ich regelmäßig eine Kolumne geschrieben habe, würdigte meinen Einsatz mit einem Scheck für den Arbeitskreis „Wehr dich!“, von mir gegründet.
Staatsanwältin Frau Schroth streckte kollegial ihre Hand entgegen. Sie ist am Gericht Anlaufstelle für Befragungen und Verhöre weiblicher Opfer und Zeugen. Wir arbeiteten gut zusammen.
Anita kam herüber geschwebt, eine Schönheit, gewiss. Ihr wird immer wieder ein Verhältnis mit mir unterstellt. Horst, der sich in der Gerüchteküche unserer kleinen Stadt auskennt, hat es mir anvertraut. Ich habe nichts mit ihr. Sie ist mir zu alt! Dabei bin ich über 50, sie ist 28. Ich hänge in der Luft wie zwischen zwei Seelen.
Da ist doch dieses Junge, Unschuldige, Hilflose, wie ein Magnet. Es lässt mich nicht mehr los seit den Tagen auf der Adria, in denen ich von einem süßen Strudel verschlungen wurde, der Törn auf der Adria, ein Geschenk zum ersten runden Geburtstag.
„Achim, ich muss dir deinen Doppelgänger vorstellen!“ Anita übertrieb etwas, aber der Mann um die dreißig hatte auch einen gepflegt gestutzten Vollbart, ebenmäßig markante Gesichtszüge und trug eine randlose Brille.
Anita flirtete schon wieder mit Horst.
„Schön, Sie kennenzulernen, Peter Kern, Klassenlehrer Ihrer Monika.“ Ich ließ mein Glas sinken, wieso meine Monika? Sie ist die Nichte meiner Frau, jetzt zwölf Jahre alt, mir vom Jugendamt zur Erziehung und Betreuung zugewiesen. Sie wohnt bei mir seit Irmgards Schwester bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam und Monikas Vater mit einer anderen ausgerückt ist.
Lehrer Kern nippte am Glas. „Ich muss sie loben, sie ist in fast allen Fächern Klassenbeste.“
Klar, auch da war ich hinterher.
„Ich habe manchmal den Eindruck, sie würde mit ihrem Fleiß einen Schuldkomplex kompensieren.“
Was glaubte der Jungpädagoge herausgefunden zu haben? Da ging mir etwas gegen den Strich, ich fühlte eine Spur Eifersucht. „Ihre pädagogischen Fähigkeiten will ich nicht anzweifeln, aber Schuldkomplexe habe ich bei unserer Nichte nicht zu erkennen vermocht. Aber Sie scheinen sich für das Kind zu interessieren.“
„Ja, ihr extremer Ehrgeiz ist mir aufgefallen.“
Herr Lehrer war hartnäckig. „Wenn Sie die Zeit hätten, würde ich Ihnen einen Vorfall schildern, der auch Ihnen zu denken geben sollte.“
Mir war unwohl, ich sah mich um. „Aber bitte!“
„Ich redete mal mit ihr unter vier Augen, über ihre Wünsche, Vorstellungen und dergleichen. Sonst sehr still, schrie sie mich von einem Moment auf den anderen an, ich solle weggehen, das Klassenzimmer verlassen, sie wolle mich nicht mehr sehen. Als ich beruhigend den Arm um ihre Schultern legen wollte, schrie sie noch lauter, ich täte ihr weh. Es kam so weit, dass sie sich zu Boden warf, sich mit Händen und Füßen wehrte, obwohl nichts abzuwehren war. Dann hielt sie schreiend die Hände vor die Augen. So etwas habe ich noch nie erlebt.“
Wie zur Bestätigung nahm er einen großen Schluck.
Da traf mich etwas.
Gedanklich auf einem Nebengleis, denn einen Moment sah ich in Monikas unschuldig dreinblickende Augen, wandte ich mich bald wieder gefasst dem Lehrer zu. „Sie haben so etwas noch nie erlebt, sagen Sie. Nun, Sie sind noch relativ jung, und ich kann Sie beruhigen. Von solchen hysterischen Anfällen habe ich mehrfach erfahren. Ich sehe sie als Folge eines Zusammentreffens von Hochbegabung und Pubertät.“
Der Lehrer sah mich schweigend an. Sagte dann leise: „Ich tue mein Möglichstes. Sie sind informiert!“
Wie eine Anklage!
Ich hätte damals behutsamer mit Monika umgehen müssen, aber es wäre mir schwer gefallen.
Soeben komme ich von der Mittagspause, als Anita einen Anruf meldet. Monika? Ich eile in mein Büro, schließe die Tür, greife zum Hörer.
„Ach du, alter Freibeuter, wie geht´s?“ Mein Kugelschreiber klappert auf die Tischplatte. Ich sinke in den Sessel.
„Mäßig, der Papierkram nervt. An einigen Tagen Hochbetrieb bis in den Abend, dann wieder Leerlauf.“
„Horsti, wie wäre es mit Urlaub?“ Mir ist nach Flucht.
„Du gibst mir das Stichwort. In der nächsten Woche ist so ein Leerlauf abzusehen. Wenige Termine am Gericht. Was wollte eure Nichte dort?
Zu deinem Stichwort, also zum Urlaub: Wozu haben wir die Yacht? Hast du Lust zu einem Törn eine Woche auf der Adria? Auf hoher See nach Piran, dann die Küste Istriens hinunter, Novigrad, Limski-Fjord, Rovinj, Pula, das wär´ doch was!“
Mir blieb die Luft weg.
„Ist zu überlegen, hört sich gut an. Aber nun zum Gericht. Wo und wann hast du Monika gesehen?“
„Gestern Vormittag auf dem Flur. Sie sah ziemlich verheult aus. Auffällig für mich, weil doch Unterrichtszeit war. Es kommen schon mal Schulklassen, die den Gerichtsalltag beobachten, aber außer ihr habe ich keinen Schüler gesehen.“
„War jemand bei ihr?“
„Ja, ein Mann mit Vollbart. Ich dachte erst, das wärst du. Sie sind dann in das Zimmer von Frau Schroth gerufen worden.“
Stets fühlte ich mich sicher wie hinter einem Bollwerk, ein Bollwerk der Zustimmung, Anerkennung für meine Arbeit, Ehrung durch die ganze Stadt.
Ich starre auf die Seekarte. Zum ersten Mal sehe ich im dunklen Blau die Tiefe: 198 Meter. Die Zahl verschwimmt.
„Was ist? Bist du noch da?“
Ich lege auf, muss einige Schritte gehen.
Es klopft. Bevor Anita herein kommt, kann ich Papiere über Plastiktüte und Schnürsenkel legen.
„Achim, an einem Schuh fehlt der Schnürsenkel!“
„Ja, schon gut.“ Und als sie noch immer kopfschüttelnd auf meinen Schuh sieht: „Er ist mir gerissen! Anita, lässt du mich eine halbe Stunde allein? Ich muss diesen Vertrag sorgfältig überdenken.“
Sie nickt und verlässt das Büro.
Ich tippe in die Tastatur: „Ein Augenblick, gelebt im Paradiese, wird nicht zu teuer mit dem Tod gebüßt.“
Den Computer fahre ich herunter, ziehe die Plastiktüte über den Kopf und knüpfe den Schnürsenkel um meinen Hals zu.
 

jon

Mitglied
Teammitglied
Gut konstruiert, "süffig" zu lesen. Der Anfang holpert ein bisschen. Alles in allem aber richtig gut.

Schade nur, dass ich zu alt bin und zu oft solche Themen im Medien und Filmen/Texten sah, so dass ich viel zu schnell wusste, worauf es hinausläuft. Zwar gelang es dir, mich einen Moment lang zweifeln zu lassen (die etwas arrogant gefärbte Abneigung gegen den Lehrer scheint – im ersten Moment! –  nicht zu passen) aber das ging schnell vorbei.

Ich weiß, das ist ein gefährliches Thema, aber mir würde gefallen, wenn die Fassade manchmal mehr bröckeln würde.

Ich meine damit: Mehling ist, so scheint es mir, kein schlechter Mensch; er hat "nur" ein Problem. Wie sehr es ein Problem ist, könnte noch etwas besser spürbar werden … Vielleicht könnte er (er ist ja Point of View) in der Passage

Ehrenamtlich fühle ich mich in einer brisanteren Sparte gefordert. Der Herr Pfarrer lobte deshalb meinen Einsatz für missbrauchte Kinder und Frauen. Wie wahr! Ich darf behaupten, dass ich als Experte für Straftaten mit sexuellem Hintergrund weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannt bin. In das Seelengefüge der Täter als auch der Opfer finde ich gut hinein. Die Fachzeitschrift „Der Jurist“, für die ich regelmäßig eine Kolumne geschrieben habe, würdigte meinen Einsatz mit einem Scheck für den Arbeitskreis „Wehr dich!“, von mir gegründet.
deutlich einsilbiger sein. Er ist intelligent genug zu verstehen, dass das, was anfangs wohl ehrlich als „Widerstand gegen sich selbst“ gedacht war, inzwischen nur noch ein bitteres Alibi ist.

Dieser Ton hier klingt eher nach einem "schlechten Menschen", einem, der dieses „Engagement“ in Wirklichkeit als "Pool für seine Triebe" nutzt. Auch anderes passt zu dieser Lesart, vielleicht ist das ja auch eher der Mehling, den du meinst. Dann würde die bröckelnde Fassade mehr Narzissmus freilegen, Mehling würde nicht arrogant-abwehrend gegen den Lehrer agieren, sondern alarmiert (und eventuell mit Spott zu verharmlosen suchen) …
 

Kayl

Mitglied
Monika


Damals war es mühsam. Vertragstexte verbessern war bei meinem Jurastudium noch müham. Ändern, einfügen, streichen, noch einmal tippen auf der Schreibmaschine.
Wie leicht ist es heute. Ich sehe den Vertrag durch, lösche überflüssigen Text. Markieren und Entfernen-Taste. Weg! Als wäre er nie dagewesen.
Ist nicht die Arbeit überflüssig? Jetzt, nach meinem Entschluss?
Auf dem Schreibtisch liegt neben Papieren eine Plastiktüte. Ich setze mich in den Bürosessel, knüpfe einen Schuh auf, ziehe den Schnürsenkel heraus und lege ihn zur Tüte.
Das schwere Schreibmöbel aus dunkler Mooreiche hatte Irmgard aufgespürt. Irmgard! Damals noch Irmchen. Wir waren hingerissen, das gute Stück mit Tisch und Sesseln günstig von einem Kollegen erbeutet zu haben, der sich zur Ruhe gesetzt hatte. Um die dazu passenden Wandpaneele hatte ich mit dem Schreiner sogar noch ein bisschen gefeilscht. Kanzleieröffnung, glückliche Zeit.
Ich bin nun ruhig und gefasst, gehe über den Teppichflaum zum Fenster, sehe hinaus auf die regennassen Dächer, in den düsteren Himmel, sehe noch einmal die aufgezogene Seekarte der Adria an der Wand, die ich inzwischen hatte rahmen lassen, ein Geschenk zum Jubiläum.
Eine würdige Feier. Stolz konnte ich auf 25 Jahre erfolgreiche Anwaltskanzlei zurückblicken. Wie sagte unser Bürgermeister in seiner Rede: Das blanke Messingschild „Dr. Joachim Mehling, Rechtsanwalt und Notar“ hat viele nicht nur auf Recht hoffen lassen, nein, Dr. Mehling hat sich zielstrebig mit jedem Fall identifiziert, für jeden Klienten gekämpft.
Anita, meine Sekretärin, hatte eingeschenkt. In das Gemurmel der Gäste mischte sich das Klingen der Sektgläser. Glückwunschbriefe häuften sich auf dem Gabentisch zwischen Blumen, einem Segelbuch vom Studienfreund Horst von der Rechtsanwaltskammer, an die Wand gelehnt die Karte der Adria.
„Bitte etwas zusammen rücken“, der Fotograf wollte ein Bild für die Zeitung, fragte nach Lebenslauf, meinem Bildungsweg. Meine Ehe wurde ausgespart. Der Reporter wusste was sich gehört.
Mein Einkommen beziehe ich überwiegend aus Scheidungen, aber nicht nur das Familienrecht ist mein Gebiet. Ehrenamtlich fühle ich mich in einer brisanteren Sparte gefordert. Der Herr Pfarrer lobte deshalb meinen Einsatz für missbrauchte Kinder und Frauen. Wie wahr! Ich darf behaupten, dass ich als Experte für Straftaten mit sexuellem Hintergrund weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannt bin. In das Seelengefüge der Täter als auch der Opfer finde ich gut hinein. Die Fachzeitschrift „Der Jurist“, für die ich regelmäßig eine Kolumne geschrieben habe, würdigte meinen Einsatz mit einem Scheck für den Arbeitskreis „Wehr dich!“, von mir gegründet.
Staatsanwältin Frau Schroth streckte kollegial ihre Hand entgegen. Sie ist am Gericht Anlaufstelle für Befragungen und Verhöre weiblicher Opfer und Zeugen. Wir arbeiteten gut zusammen.
Anita kam herüber geschwebt, eine Schönheit, gewiss. Ihr wird immer wieder ein Verhältnis mit mir unterstellt. Horst, der sich in der Gerüchteküche unserer kleinen Stadt auskennt, hat es mir anvertraut. Ich habe nichts mit ihr. Sie ist mir zu alt! Dabei bin ich über 50, sie ist 28. Ich hänge in der Luft wie zwischen zwei Seelen.
Da ist doch dieses Junge, Unschuldige, Hilflose, wie ein Magnet. Es lässt mich nicht mehr los seit den Tagen auf der Adria, in denen ich von einem süßen Strudel verschlungen wurde, der Törn auf der Adria, ein Geschenk zum ersten runden Geburtstag.
„Achim, ich muss dir deinen Doppelgänger vorstellen!“ Anita übertrieb etwas, aber der Mann um die dreißig hatte auch einen gepflegt gestutzten Vollbart, ebenmäßig markante Gesichtszüge und trug eine randlose Brille.
Anita flirtete schon wieder mit Horst.
„Schön, Sie kennenzulernen, Peter Kern, Klassenlehrer Ihrer Monika.“ Ich ließ mein Glas sinken, wieso meine Monika? Sie ist die Nichte meiner Frau, jetzt zwölf Jahre alt, mir vom Jugendamt zur Erziehung und Betreuung zugewiesen. Sie wohnt bei mir seit Irmgards Schwester bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam und Monikas Vater mit einer anderen ausgerückt ist.
Lehrer Kern nippte am Glas. „Ich muss sie loben, sie ist in fast allen Fächern Klassenbeste.“
Klar, auch da war ich hinterher.
„Ich habe manchmal den Eindruck, sie würde mit ihrem Fleiß einen Schuldkomplex kompensieren.“
Was glaubte der Jungpädagoge herausgefunden zu haben? Da ging mir etwas gegen den Strich, ich fühlte eine Spur Eifersucht. „Ihre pädagogischen Fähigkeiten will ich nicht anzweifeln, aber Schuldkomplexe habe ich bei unserer Nichte nicht zu erkennen vermocht. Aber Sie scheinen sich für das Kind zu interessieren.“
„Ja, ihr extremer Ehrgeiz ist mir aufgefallen.“
Herr Lehrer war hartnäckig. „Wenn Sie die Zeit hätten, würde ich Ihnen einen Vorfall schildern, der auch Ihnen zu denken geben sollte.“
Mir war unwohl, ich sah mich um. „Aber bitte!“
„Ich redete mal mit ihr unter vier Augen, über ihre Wünsche, Vorstellungen und dergleichen. Sonst sehr still, schrie sie mich von einem Moment auf den anderen an, ich solle weggehen, das Klassenzimmer verlassen, sie wolle mich nicht mehr sehen. Als ich beruhigend den Arm um ihre Schultern legen wollte, schrie sie noch lauter, ich täte ihr weh. Es kam so weit, dass sie sich zu Boden warf, sich mit Händen und Füßen wehrte, obwohl nichts abzuwehren war. Dann hielt sie schreiend die Hände vor die Augen. So etwas habe ich noch nie erlebt.“
Wie zur Bestätigung nahm er einen großen Schluck.
Da traf mich etwas.
Gedanklich auf einem Nebengleis, denn einen Moment sah ich in Monikas unschuldig dreinblickende Augen, wandte ich mich bald wieder gefasst dem Lehrer zu. „Sie haben so etwas noch nie erlebt, sagen Sie. Nun, Sie sind noch relativ jung, und ich kann Sie beruhigen. Von solchen hysterischen Anfällen habe ich mehrfach erfahren. Ich sehe sie als Folge eines Zusammentreffens von Hochbegabung und Pubertät. Auch als Lehrer können Sie lernen!“
Der Lehrer sah mich schweigend an. Sagte dann leise: „Ich tue mein Möglichstes. Sie sind informiert!“
Wie eine Anklage!
Ich hätte damals behutsamer mit Monika umgehen müssen, aber es wäre mir schwer gefallen.
Soeben komme ich von der Mittagspause, als Anita einen Anruf meldet. Monika? Ich eile in mein Büro, schließe die Tür, greife zum Hörer.
„Ach du, alter Freibeuter, wie geht´s?“ Mein Kugelschreiber klappert auf die Tischplatte. Ich sinke in den Sessel.
„Mäßig, der Papierkram nervt. An einigen Tagen Hochbetrieb bis in den Abend, dann wieder Leerlauf.“
„Horsti, wie wäre es mit Urlaub?“ Mir ist nach Flucht.
„Du gibst mir das Stichwort. In der nächsten Woche ist so ein Leerlauf abzusehen. Wenige Termine am Gericht. Was wollte eure Nichte dort?
Zu deinem Stichwort, also zum Urlaub: Wozu haben wir die Yacht? Hast du Lust zu einem Törn eine Woche auf der Adria? Auf hoher See nach Piran, dann die Küste Istriens hinunter, Novigrad, Limski-Fjord, Rovinj, Pula, das wär´ doch was!“
Mir blieb die Luft weg.
„Ist zu überlegen, hört sich gut an. Aber nun zum Gericht. Wo und wann hast du Monika gesehen?“
„Gestern Vormittag auf dem Flur. Sie sah ziemlich verheult aus. Auffällig für mich, weil doch Unterrichtszeit war. Es kommen schon mal Schulklassen, die den Gerichtsalltag beobachten, aber außer ihr habe ich keinen Schüler gesehen.“
„War jemand bei ihr?“
„Ja, ein Mann mit Vollbart. Ich dachte erst, das wärst du. Sie sind dann in das Zimmer von Frau Schroth gerufen worden.“
Stets fühlte ich mich sicher wie hinter einem Bollwerk, ein Bollwerk der Zustimmung, Anerkennung für meine Arbeit, Ehrung durch die ganze Stadt.
Ich starre auf die Seekarte. Zum ersten Mal sehe ich im dunklen Blau die Tiefe: 198 Meter. Die Zahl verschwimmt.
„Was ist? Bist du noch da?“
Ich lege auf, muss einige Schritte gehen.
Es klopft. Bevor Anita herein kommt, kann ich Papiere über Plastiktüte und Schnürsenkel legen.
„Achim, an einem Schuh fehlt der Schnürsenkel!“
„Ja, schon gut.“ Und als sie noch immer kopfschüttelnd auf meinen Schuh sieht: „Er ist mir gerissen! Anita, lässt du mich eine halbe Stunde allein? Ich muss diesen Vertrag sorgfältig überdenken.“
Sie nickt und verlässt das Büro.
Ich tippe in die Tastatur: „Ein Augenblick, gelebt im Paradiese, wird nicht zu teuer mit dem Tod gebüßt.“
Den Computer fahre ich herunter, ziehe die Plastiktüte über den Kopf und knüpfe den Schnürsenkel um meinen Hals zu.
 

Kayl

Mitglied
Hallo jon,
das Schönste ist, sich mit Sprache zu beschäftigen. Das Zweitschönste, auf Menschen zu treffen, die dabei mitmachen.
In unserem Kreis von Hobby-Autoren um Stefan Valentin Müller ist „Monika“ schon mal durchgekaut worden, aber nicht so intensiv durchleuchtet worden wie von dir (Das Du fällt mir immer noch schwer). Danke für deine konstruktive Kritik.
Den angesprochenen Absatz wollte ich zunächst ändern. Dann habe ich doch Mehlings Schizophrenie gelassen. Aber am Schluss habe ich eine spöttische Bemerkung eingefügt: „Auch als Lehrer können Sie lernen!“
Liebe Grüße - Horst
 



 
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