Morgen- und Abendmuffel

EasyIsa

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Einen Morgenmuffel zu haben, ist mitunter das Mühsamste, was man sich vorstellen kann. Nicht genug, dass man morgens aufstehen muss, nein, da ist noch dieser kleine Mitbewohner, der einen auf Schritt und Tritt verfolgt.

Mein Wecker klingelt um 6 Uhr. Ich schlage mit der flachen Hand auf den Wecker und versuche das durchdringende Piepsen aus meinem Kopf zu verbannen. Es gibt tausend gute Gründe, warum es besser wäre, liegen zu bleiben, sich tot zu stellen: Die Arbeit, der kalte Wind, der einem draussen ins Gesicht peitscht, die nervigen Kollegen… aber am schlimmsten ist…

"Diese verfluchte Scheisse!", jault es von neben meinem Bett. Ich drücke die Augen zusammen, versuche es zu ignorieren. "Drei Stunden, ist das zu viel verlangt? Nur drei Stunden Schlaf!" Ich will mir das nicht anhören, will alles ausblenden. Doch bereits fliegt mir in hohem Bogen einer meiner Hausschuhe ins Gesicht und trifft mich an der Wange. Sofort schiesst ein Stechen unter die Haut.
"Elo, hör auf!" Ich spüre, wie mir vor Schmerz Tränen in den Augen brennen.

Doch Elo ist bereits aus seinem kleinen Bettchen gekrochen und zerrt an meiner Decke.
"Raus mit dir! Wenn du mich schon weckst, so musst du auch aufstehen. Das wäre ja der Gipfel!"
Verzweifelt stelle ich meine nackten Füsse auf den Boden, wo mir Elo auch schon voller Wucht gegen das Schienbein tritt.
"He!", empöre ich mich, doch Elo schnaubt nur verächtlich und macht sich auf den Weg in die Küche. Elo unterscheidet sich nicht sonderlich von den anderen Morgenmuffeln. Er reicht mir nur bis zur Kniekehle, trägt einen langen Bart und verwaschene Kleider. Vom ewigen Ärgern haben sich tiefe Falten in sein Gesicht gegraben.

Längst nicht jeder hat einen Morgenmuffel. Morgenmuffel arbeiten hauptsächlich abends, während ich tagsüber unterwegs bin und meinen Aktivitäten nachgehe. Elo verlässt das Haus hingegen am späten Nachmittag und kehrt erst weit nach Mitternacht zurück. Was Morgenmuffel die ganze Nacht hindurch anstellen? Wer weiss das schon? Natürlich habe ich Elo danach gefragt, aber er hatte nur verächtlich geschnaubt und abgewunken. "Das würdest du sowieso nicht verstehen".

Einen Morgenmuffel loszuwerden ist nicht möglich. Viele Menschen haben es bereits versucht – immer und immer wieder, aber sie kommen nur noch wütender und genervter zurück.

In der Küche treffe ich Elo an, wie er das Müsli über die Theke geschüttet hat. Nur ein Teil ist in seinem Teller gelandet. Ich würde das später aufräumen müssen.
"Was glotzt du so? Isst du was mit mir oder weckst du mich nur?" Widerstrebend setze ich mich zu meinem Morgenmuffel und beobachte, wie seine kleinen Beinchen vom Stuhl hängen. Gott, wie soll ich das bloss aushalten? Plötzlich und ohne Vorwarnung wirft Elo die Arme in die Luft.
"Was ist das? Ich meine, W-A-S I-S-T D-A-S?" Er zeigt verzweifelt auf sein Frühstück.
"Müsli?", versuche ich es aufs Geratewohl. "Das ist nicht das übliche Müsli!" Ich habe die Diskussion bereits verloren, es bringt nichts mehr.
Schnell erhebe ich mich vom Stuhl und eile in mein Schlafzimmer um mir etwas überzuziehen. Ich schnappe meine Tasche und schliesse die Tür hinter mir. Sobald sie mit einem leisen "Klick" ins Schloss gefallen ist, merke ich, wie ich mich entspanne.

Als ich ausgelaugt von der Arbeit in meine Wohnung zurückkehre, ist Elo bereits verschwunden. Ich habe etwas Zeit für mich und beginne damit, das Chaos vom heutigen Morgen aufzuräumen. Für wenige Stunden geniesse ich die Ordnung und die Ruhe, schaue fern und lese zum Schluss entspannt in einem Buch. Schliesslich gleite ich in einen traumlosen, tiefen Schlaf.

Eine Tür knallt zu, Schuhe werden in die Ecke geworfen. Der Wecker blinkt mir unbarmherzig die Zeit: 02:48. Elo ist heimgekehrt. Meine Augen sind unendlich schwer, ich könnte direkt wieder einschlafen, wäre da nicht mein Herzschlag, der sich ab Elos Heimkehr beschleunigt hätte. Es macht mich nervös. Elo tritt in mein Zimmer und knipst das grelle Licht an. "Hey, spinnst du?", schreie ich und versuche mich unter meiner Decke zu verkriechen.
"Bla bla bla", höre ich es antworten, "jetzt hab dich nicht so!"

Einen Abendmuffel zu haben, ist so etwa das schlimmste, was einem Morgenmuffel passieren kann. Seitdem ich bei ihr wohne, nervt sie mich jeden Abend mit dem gleichen Getue. "Elo, stell das Licht ab", "Elo, sei leise"… Ja, das könnte ich ihr am Morgen auch sagen, aber interessiert sie das? Nein... Aber von mir wird verlangt, dass ich morgens der perfekte Gentleman bin.

Ein Mal hat sie mich fernab von einer Strasse ausgesetzt und mich beschimpft. Aber es ist nun mal so, dass wir immer zurückkehren müssen. Genauso wie die Abendmuffel uns nicht verlassen können, können wir es auch nicht. Wir treffen uns wieder… ob wir es wollen oder nicht. Ich kann nicht ohne sie existieren und sie nicht ohne mich. Ich habe mitbekommen, wie sich ein Morgen- und ein Abendmuffel miteinander befreundet hatten, das war unheimlich. Sie haben versucht, sich gemeinsam Zeit am Nachmittag freizuschaufeln, wollten gemeinsam etwas unternehmen. Und schwupps, ist der Morgenmuffel verschwunden. Ich habe ihn nie wieder gesehen. Geht es ihm gut? Ist er tot? Beim Gedanken daran steigen mir Tränen in die Augen.

Viele vermuten, dass bei gegenseitiger Akzeptanz aus dem Morgen- und dem Abendmuffel eine Person entsteht, dass sie miteinander verschmelzen und je nach Laune entweder der Morgen- oder der Abendmuffel aus der Gestalt heraustritt. Das würde auch erklären, warum nicht (mehr?) alle Menschen ein Morgenmuffelbettchen neben sich im Schlafzimmer stehen haben… aber jetzt Mal ehrlich, wer möchte schon zu einem unberechenbaren Wesen werden? Da gelobe ich mir doch, offensichtlich ein Morgenmuffel zu sein.
 



 
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