Marc Hecht1
Mitglied
Gleich den ersten Zug hatte ich genommen, um fünf Uhr am Morgen.
Eine Reise in die Vergangenheit wollte ich machen. Nach Halle. Halle an der Saale.
Und bereits um viertel nach sechs war ich dort ausgestiegen, war die Leipziger Straße hinabgegangen, direkt in die Altstadt, bis zum Roten Turm und zum Denkmal von Händel.
Alles wie vor 30 Jahren. Aus Hamburg war ich damals hierher gekommen. Als junger Journalist. Nur ein paar Wochen war ich hier gewesen, danach nie wieder. Halle war damals nur eine Etappe auf meinem Weg.
Doch jetzt ging ich durch die Stadt, sah umher, zunehmend erstaunt. Mächtig herausgeputzt schien mir die Stadt zu sein, ein richtiges Schmuckstück war sie geworden, die Fassaden der alten Häuser leuchteten in neuem Glanz.
Damals war das alles hier noch – kurz gesagt – ein ziemliches Drecksnest gewesen. Viele Häuser hatten eingefallene Dächer, waren ausnahmslos grau und wo man ging und stand, lag penetranter Braunkohlegeruch in der Luft, alles war damals noch in einem katastrophalen Zustand gewesen.
Was für ein Unterschied! 30 Jahre später!
Schließlich ging ich über die Peißnitz zur Saale und dann am Fluss entlang. Noch immer war es früher Morgen, alles war still. Über dem Wasser zerriss der Morgennebel im ersten Sonnenlicht. Es war kühl.
Ich hatte den Kopf jetzt voller Gedanken. Erinnerungen an seltsame Monate waren das, eine Welt war hier damals gerade untergegangen, eine ganze Welt.
Ich sah ein paar Enten nach, sie schlugen mit den Flügeln und schrien und endlich stiegen sie auf und flogen über die Saaleauen davon.
Meine Erinnerungen sprangen hin und her. Ich dachte zum Beispiel an die Garderobenfrau, im Restaurant. Sie hatte mir damals den Mantel abgenommen, für 25 Pfennige, hatte ihn sorgfältig über einen Bügel gehängt, ein blechernes Billet genommen und die Ziffer notiert. Und dann hatte sie fünf Pfennige aus der Kasse genommen und sie mir ernst in die Hand gedrückt, als Wechselgeld für meine drei Groschen. Zusammen mit dem Billett aus Blech. Und sie hatte fürsorglich dabei gelächelt.
Und doch – jedes mal wurde ihr Blick damals fragender. Wenn die Gäste geschmunzelt hatten, über die fünf Pfennige Wechselgeld und das blecherne Billett. Aber es war doch ihr Beruf. Und sie hatte also weiterhin ihr Haar zurecht gezupft, hatte sich übers Kleid gestrichen. Um auch den neuen Gästen 25 Pfennige für die Garderobe abzunehmen und ihnen das Billett und das Wechselgeld auszuhändigen.
Heute ist das wie aus einer anderen Welt, hatte ich wieder gedacht, aber damals wurde die Garderobenfrau gerade erst zum Relikt. Und ihre Blicke wurden unsicher.
Denn ihr Land hatte sich damals gerade aufgelöst. Und mit dem Land hatte sich vieles aufgelöst, ja, sehr vieles. Auch ihr Beruf als Garderobenfrau.
Ich wurde traurig, blieb stehen. Am anderen Flussufer ragte eine Anhöhe hervor. Früher war dort, hoch oben, ein Bierlokal, die Bergschenke. Mit einem großartigen Blick über den Fluss.
Doch auch die Bergschänke gab es heute nicht mehr. Die Zeit ist eben darüber hinweg gewalzt, hatte ich gedacht, und war schließlich weitergegangen.
Damals waren es noch fragende Gesichter, die mich angeblickt hatten. Nicht nur die Garderobenfrau, auch die Arbeiter hatten mich morgens auf der Straße angesehen, bevor sie in ihren maroden Fabriken verschwanden, in rostigen Hallen. Sie hatten damals unsicher geblickt, hatten ihre Zweifel aber noch tapfer zur Seite geschoben. In ihrem Blick lag damals noch: Irgend jemand wird sich schon um uns kümmern.
Ich hatte ihr Schicksal damals gesehen. Und es war todtraurig gewesen. Ich hatte gewusst, dass sich niemand um sie kümmern wird. Dass ihre Fabriken abgerissen werden, überall. Früher oder später. Dass kein Platz mehr war, für marode Fabriken voller Arbeiter. Dass die Glocken längst läuteten und dass viele keinen Sitzplatz haben werden, bei der Reise in die neue Welt.
Und heute? Ich hatte den Menschen wieder in die Augen gesehen, vorhin, bei meinem Weg durch die Altstadt. Heute guckte hier kein Mensch mehr fragend. Nein, es waren Augen, die sich eingefunden hatten, in die neue Situation. Keine fragenden Blicke mehr, denn die Antworten waren ja seit langem schon gegeben.
Eine Reise in die Vergangenheit wollte ich machen. Nach Halle. Halle an der Saale.
Und bereits um viertel nach sechs war ich dort ausgestiegen, war die Leipziger Straße hinabgegangen, direkt in die Altstadt, bis zum Roten Turm und zum Denkmal von Händel.
Alles wie vor 30 Jahren. Aus Hamburg war ich damals hierher gekommen. Als junger Journalist. Nur ein paar Wochen war ich hier gewesen, danach nie wieder. Halle war damals nur eine Etappe auf meinem Weg.
Doch jetzt ging ich durch die Stadt, sah umher, zunehmend erstaunt. Mächtig herausgeputzt schien mir die Stadt zu sein, ein richtiges Schmuckstück war sie geworden, die Fassaden der alten Häuser leuchteten in neuem Glanz.
Damals war das alles hier noch – kurz gesagt – ein ziemliches Drecksnest gewesen. Viele Häuser hatten eingefallene Dächer, waren ausnahmslos grau und wo man ging und stand, lag penetranter Braunkohlegeruch in der Luft, alles war damals noch in einem katastrophalen Zustand gewesen.
Was für ein Unterschied! 30 Jahre später!
Schließlich ging ich über die Peißnitz zur Saale und dann am Fluss entlang. Noch immer war es früher Morgen, alles war still. Über dem Wasser zerriss der Morgennebel im ersten Sonnenlicht. Es war kühl.
Ich hatte den Kopf jetzt voller Gedanken. Erinnerungen an seltsame Monate waren das, eine Welt war hier damals gerade untergegangen, eine ganze Welt.
Ich sah ein paar Enten nach, sie schlugen mit den Flügeln und schrien und endlich stiegen sie auf und flogen über die Saaleauen davon.
Meine Erinnerungen sprangen hin und her. Ich dachte zum Beispiel an die Garderobenfrau, im Restaurant. Sie hatte mir damals den Mantel abgenommen, für 25 Pfennige, hatte ihn sorgfältig über einen Bügel gehängt, ein blechernes Billet genommen und die Ziffer notiert. Und dann hatte sie fünf Pfennige aus der Kasse genommen und sie mir ernst in die Hand gedrückt, als Wechselgeld für meine drei Groschen. Zusammen mit dem Billett aus Blech. Und sie hatte fürsorglich dabei gelächelt.
Und doch – jedes mal wurde ihr Blick damals fragender. Wenn die Gäste geschmunzelt hatten, über die fünf Pfennige Wechselgeld und das blecherne Billett. Aber es war doch ihr Beruf. Und sie hatte also weiterhin ihr Haar zurecht gezupft, hatte sich übers Kleid gestrichen. Um auch den neuen Gästen 25 Pfennige für die Garderobe abzunehmen und ihnen das Billett und das Wechselgeld auszuhändigen.
Heute ist das wie aus einer anderen Welt, hatte ich wieder gedacht, aber damals wurde die Garderobenfrau gerade erst zum Relikt. Und ihre Blicke wurden unsicher.
Denn ihr Land hatte sich damals gerade aufgelöst. Und mit dem Land hatte sich vieles aufgelöst, ja, sehr vieles. Auch ihr Beruf als Garderobenfrau.
Ich wurde traurig, blieb stehen. Am anderen Flussufer ragte eine Anhöhe hervor. Früher war dort, hoch oben, ein Bierlokal, die Bergschenke. Mit einem großartigen Blick über den Fluss.
Doch auch die Bergschänke gab es heute nicht mehr. Die Zeit ist eben darüber hinweg gewalzt, hatte ich gedacht, und war schließlich weitergegangen.
Damals waren es noch fragende Gesichter, die mich angeblickt hatten. Nicht nur die Garderobenfrau, auch die Arbeiter hatten mich morgens auf der Straße angesehen, bevor sie in ihren maroden Fabriken verschwanden, in rostigen Hallen. Sie hatten damals unsicher geblickt, hatten ihre Zweifel aber noch tapfer zur Seite geschoben. In ihrem Blick lag damals noch: Irgend jemand wird sich schon um uns kümmern.
Ich hatte ihr Schicksal damals gesehen. Und es war todtraurig gewesen. Ich hatte gewusst, dass sich niemand um sie kümmern wird. Dass ihre Fabriken abgerissen werden, überall. Früher oder später. Dass kein Platz mehr war, für marode Fabriken voller Arbeiter. Dass die Glocken längst läuteten und dass viele keinen Sitzplatz haben werden, bei der Reise in die neue Welt.
Und heute? Ich hatte den Menschen wieder in die Augen gesehen, vorhin, bei meinem Weg durch die Altstadt. Heute guckte hier kein Mensch mehr fragend. Nein, es waren Augen, die sich eingefunden hatten, in die neue Situation. Keine fragenden Blicke mehr, denn die Antworten waren ja seit langem schon gegeben.