Mortimer

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Matula

Mitglied
Sie fuhr auf der B18 in Richtung Buchfeld. Ein kalter Novemberregen prasselte seit geraumer Zeit gegen die Windschutzscheibe. Sie hätte gern angehalten, um auszusteigen und Arme und Beine zu bewegen, aber sie wollte vor Einbruch der Dunkelheit den Ort erreichen. Noch eine knappe Stunde, dann einen Gasthof suchen, ein warmes Essen bestellen und früh zu Bett. Das Radio hatte sie abgedreht, weil sie das launige Geschwätz zwischen den Musiknummern nicht mehr ertragen konnte. Dann hatte sie die Heizung abgeschaltet, weil sie die Wärme und das Ticken der Scheibenwischer schläfrig machten. Jetzt war es kalt und still im Wagen. Wie halten das die Burschen in ihren Lastkraftwagen aus, dachte sie, jeden Tag, die ganze Woche, Jahr und Jahr?

Geht's dir gut da hinten, fragte sie. Mortimer gab erwartungsgemäß keine Antwort. Er lag steif auf dem Rücksitz und zeigte sein ewig säuerliches Lächeln. Rombach hatte anfangs große Bedenken gehabt. Das ist kein Job für eine Frau, sagte er. Tagelang allein kreuz und quer durchs Land fahren, in fremde Häuser gehen, mit Leuten reden, die nichts hören wollen. Können Sie sich das überhaupt vorstellen? Sie hatte ihn angefleht, es wenigstens mit ihr zu versuchen.

Heute war ihre dritte Tour. Die vorerst letzte in diesem Jahr. Buchfeld - Klosterberg - Halbern - Rautenbach. Die weiteren Ortschaften hatte sie vergessen, aber notiert und auf der Straßenkarte eingezeichnet. Beim letzten Mal war Rombach mit Mortimer aufgekreuzt, ein Mitbringsel aus England. Der Kunststoffbegleiter allein reisender Frauen, der Straßenbanditen, Wegelagerer und andere Unholde abschrecken sollte. Diese Puppen sind dort sehr beliebt, erläuterte Rombach, und von einem echten Mann nur aus der Nähe zu unterscheiden. Es würde mich beruhigen, wenn Sie von diesem Geschenk Gebrauch machten.

Seither lag Mortimer mit angewinkelten Beinen auf dem Rücksitz, wo er seinen Zweck nicht erfüllte, arglose Passanten erschreckte, aber jederzeit vorgewiesen werden konnte, wenn Rombach sich wieder Sorgen um seine Handelsreisende machte. Sie wollte Mortimer nicht neben sich sitzen haben,. Es hätte sie an eine Zeit erinnert, in der sie an der Seite ihres Mannes aus purem Vergnügen Autofahrten unternommen hatte, bis er beschloss, zu einer jüngeren Frau umzusteigen und sie allein weiterreisen musste.

"Buchfeld begrüßt seine Gäste" stand auf einem Schild. Ein Pfeil darunter wies den Weg zum Gasthof. Der Regen hatte ein wenig nachgelassen. Sie stieg aus und blickte sich um. Was für ein schäbiger kleiner Ort. Wer würde hier ein zeitgenössisches Lexikon abonnieren, mit einem Kinderlexikon als Draufgabe? Nicht einmal Bibeln wären hier an den Mann zu bringen. Eher Titel wie "Landmaschinen selbst reparieren" oder "Tierzucht gestern und morgen".

"Sie sollten die Leute nicht unterschätzen," meinte die Wirtin. Hier müssen alle pendeln, aber am Wochenende bleibt Zeit zum Nachdenken, während man den Stall ausmistet oder übers Feld geht." Sie hatte ein trostloses Zimmer anzubieten. Es war immerhin gut geheizt und verfügte über ein Fernsehgerät. "Trotzdem haben Sie eine unmögliche Aufgabe übernommen. Das Schild am Ortseingang hat der Tourismusverband anbringen lassen. Fremde sind bei den Dörflern nicht gern gesehen, vor allem, wenn sie etwas verkaufen wollen."

Am nächsten Morgen fiel ihr das Aufstehen schwer. Ein angenehmer Traum wollte weitergesponnen werden. Er handelte von einer fröhlichen Überlandfahrt mit einer jungen Frau am Steuer eines Coupé. Die Fahrerin kam ihr vertraut vor, aber sie kam nicht auf ihren Namen. Auch nicht nach dem Aufwachen. Noch Stunden später sah sie das helle Haar der jungen Frau im Wind flattern, wenn sie die Augen schloss.

Die Wirtin hatte frisches Gebäck besorgt.
"Es wäre schön, wenn Sie länger blieben. Es ist nämlich ziemlich einsam hier, vor allem im Herbst und Winter. Am Abend kommen die Männer. Sie trinken und streiten, dann gehen sie heim."
"Führen Sie den Gasthof allein?"
Die Wirtin nickte.
"Das heißt, nicht ganz. Er steht mir bei." Sie deutete lächelnd auf ein altes Metallplakat, das neben dem Eingang zur Küche hing.
"Ich und der Mann vom Sternbräu. Er hat ein Auge auf mich." Auf dem Bild war ein rosig-rundlicher Mann mit Schnauzbart zu sehen, der übers ganze Gesicht strahlte und dem Betrachter mit einem Bierkrug zuprostete.

In der Metzgerei erlaubte man ihr, auf einem der Stehtische ein Ansichtsexemplar ihres Lexikons zu präsentieren, zusammen mit der Kinder-Ausgabe. Die wenigen Kunden warfen nur einen flüchtigen Blick darauf. Es waren alte Leute und Mütter mit Kindern. Einer meinte, das sei Ramschware, ein anderer sagte, die Schrift sei zu klein. Bis mein Sohn lesen kann, ist das alles veraltet, erklärte eine Mutter. Später läutete sie an einigen Haustüren, aber niemand öffnete. Ein Kind rief "Geh weg, ich darf nicht aufmachen!". Hinter einem Gartentor verbellte sie ein Hund. Sein Herrchen ließ sich den Ansichtsband über den Zaun reichen, aber als sie ihm den Preis nannte, schüttelte er den Kopf. "Gute Frau, für soviel Geld werden sie hier kein Geschäft machen."

Bis zum Nachmittag hatte sie kein Abonnement verkauft, aber die Sonne war hinter den Wolken hervorgekommen. Sie stieg in den Wagen und fuhr an den Waldrand, wo verfallene Häuser in kleinen, mit Gerümpel angefüllten Gärten standen. In solchen Häusern wohnten im Märchen die armen Köhlerfrauen mit den guten Herzen. Sie wollte eine finden, ließ dann aber den Mantel im Wagen und nahm den Weg in den goldgelben Wald.

Es gab Tage, an denen sie alle Vernunft beiseite schob. Dann ging sie spazieren und kaufte Dinge, die sie nicht brauchte. So wie früher, als sie nicht arbeiten musste. Die braune Tweed-Jacke zum Beispiel hatte sie für eine Reise durch Böhmen gekauft. Sie waren fünf Tage unterwegs, um alte Schlösser zu besichtigen. Es war ein sonniger Oktober, dessen Farben sich im Stoff der Jacke verfangen hatten. Jetzt waren sie wieder deutlich zu sehen. Sein Haar war damals dunkel wie der braune Samtbesatz. - Die handbemalten Keramiken waren auf der Heimreise zerbrochen.

Wie kommt es, dachte sie, dass alles mit dem Alter endet? Nicht mit dem Tod, sondern schon davor, wenn man abgeschrieben und ausgemustert wird, selbst von denen, die selbst nicht mehr jung sind. Sie hatte Rombach beknien müssen, um hin und wieder in seinem Verlag aushelfen und die Werbefahrten unternehmen zu dürfen. Sie hatte ihren Mann angefleht, fünfundzwanzig Jahre gemeinsamen Lebens nicht wegzuwerfen. Nie hatte sie geschrien oder gedroht, immer zu Bedenken gegeben, argumentiert und ein wenig geweint.

Sie stapfte durchs Laub und trieb es mit den Schuhspitzen vor sich her wie in totes Tier. Vielleicht hätte sie kämpfen sollen, den Kriegszustand ausrufen, ihn wie eine Weihnachtsgans rupfen sollen. Es hätte nichts genützt, aber sie hätte nun ein paar befriedigende Erinnerungen an den Schlussakt ihrer Ehe. Der Refrain eines alten Song kam ihr in den Sinn. "These boots are made for walkin', and that's just what they'll do." Sie begann laut zu singen und fühlte sich ein wenig besser. Dann wurde ihr kalt. Sie Sonne war beinahe untergegangen, der Weg schon seit geraumer Zeit ohne Steigung. Irgendwo weit unter ihr mussten die kleinen Häuser der Köhlerfrauen stehen.

Sie machte kehrt und blickte sich um. Ein feindseliger Wald blickte zurück. Schwarze Bäume standen dicht an dicht zwischen Hügeln aus fahlem Laub. Sie versuchte mit dem letzten Rest von Tageslicht, ihre eigenen Spuren zu finden, weil der Weg sich zu verzweigen schien. Wohin war die Böschung verschwunden, die hinunter zur Straße führte? Ein leichter Regen setzte ein und sie fror nun heftig. Aus ihrer Tweed-Jacke waren alle Farben gewichen.

Als es dunkel wurde, setzte sie sich auf ihre alte Lederhandtasche und lehnte sich gegen einen Baum. Ihre einzige Hoffnung war die Wirtin. Das Zimmer war nicht bezahlt, also würde sie vielleicht nach ihr suchen und den Wagen in einiger Entfernung von der Ortsausfahrt finden. Sie stellte sich vor, wie eine Gruppe von Männern aus Buchfeld den Wald durchkämmten, samt dem Hund, der sie am Vormittag angebellt hatte. Mit diesem tröstlichen Gedanken schlief sie ein.

Nach einer Weile weckte sie ein Rascheln. Eine Gestalt kam näher mit ihrem Mantel über dem Arm.
"Mylady werden sich vielleicht über ein warmes Kleidungsstück freuen," sagte Mortimer mit der Stimme Rombachs. "Ich selbst bin nicht empfindlich. Sie wissen, ich komm aus dem Norden. Aber es war langweilig, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf. Ein wenig Musik hätte mir das lange Warten auf Mylady kurzweiliger gemacht. I felt quite lonely, indeed."

Sie erhob sich langsam, während er ihr den Mantel entgegenhielt. Als sie in den Ärmel schlüpfen wollte, fiel sie ins Leere, stürzte und rollte einige Meter über den Abhang. Dort fand man sie am nächsten Morgen.
 
Die trostlosen Atmosphäre , des "Zum,-Alten-Eisen-Gehörens" ist gut eingefangen, sie durchdringt die Geschichte. Eine interessante Idee das mit Mortimer, der nur ein Platzhalter ist und als Beschützer gänzlich versagt, zuletzt nicht mehr ist als eine Phantasie.
Etwas skurril fand ich das mit den Lexika, die auf so ungewöhnliche Weise vertrieben werden sollen. Was hat es damit auf sich? Und irgendwo schreibst du etwas von Abonnement. Aber ein Lexikon kann man doch nicht abonnieren...?
 

Matula

Mitglied
Es freut mich, dass Dir die Geschichte ein bisschen gefallen hat (war besorgt, ob sie nicht etwas zu anrührend ist). Man konnte früher die Encyclopedia Britannica abonnieren und bekam jährlich einen Ergänzungsband. Als es noch die diversen Buchclubs gab, funktionierte die Mitgliederwerbung eine Zeitlang als Haustürgeschäft. Ich habe für die Geschichte die Zeit ein bisschen zurückgedreht.

Schöne Grüße aus Wien,
Matula
 

Rachel

Mitglied
Grüß dich Matula,
das ist eine feine Geschichte! Insgesamt einfühlsame Darstellung, traurig, aber nicht rührselig, im Gegenteil, ein Frau-Sein eingefangen, ihr (auch gesellschaftliches) Schicksal ist glaubhaft und lebensecht - die Achtziger nehme ich an.

Den (fast überirdischen oder surrealen, ich weiß nicht recht) Ausgang mit einem nun sprechenden Mortimer, fand ich richtig schmerzhaft, aber eben deshalb besonders treffend. Sie ist am Ende mutlos, aber das zeigt ihre "Aufgabe" auch im positiven Sinn, ihre Reaktion, die, nach den vorhergehenden Schilderungen, verständlich ist. Es ist ja am Ende (zum Glück) nicht klar, ob sie noch lebt oder gestorben ist. LG
 

Matula

Mitglied
Guten Abend, Rachel !
Danke für Deinen Kommentar. Solche Fälle gibt es tatsächlich nur mehr selten. Die meisten Frauen im Alter der Protagonisten (um die fünfzig) sind wieder im Berufsleben und brauchen keinen Mortimer.

Herzliche Grüße,
Matula
 

Sammis

Mitglied
Wie halten das die Burschen in ihren Lastkraftwagen aus, dachte sie, jeden Tag, die ganze Woche, Jahr und Jahr?

Jahr um Jahr?


Hinter einem Gartentor verbellte sie ein Hund.

Gefällt mir besonders gut. Habe ich so noch nie gelesen. Noch treffender wäre gewesen, wenn sie der Hund damit davongejagt, vertrieben, verbellt hätte.




Sie stapfte durchs Laub und trieb es mit den Schuhspitzen vor sich her wie in totes Tier.

… ein totes Tier.



Sehr gut geschrieben – es ist nicht einfach, den Leser bei Laune zu halten, wenn inhaltlich wenig passiert. Die anfängliche Frage: Who the fuck is Mortimer?, löst sich ja rasch auf.

Das Ende hättest du, für meine Geschmack, durchaus dramatischer oder auch rührseliger gestalten dürfen. Davon leben Geschichten doch, oder? Wenn sie uns ans Herz gehen oder es zum Gefrieren bringen.

Beste Grüße und viel Freude beim Schreiben
 

Matula

Mitglied
Guten Abend !

Danke fürs Lesen und den Kommentar.
"Jahr um Jahr" bezieht sich auf das Berufsleben der Fernlastfahrer und das "tote Tier" könnte zB ein Igel sein, den man aus dem Weg räumen, aber nicht angreifen will. So, wie es mit manchen Erinnerungen geht.

Herzliche Grüße,
Matula
 

lietzensee

Mitglied
Hallo Matula,
hab grad leider nur Zeit für eine Reaktion in Kurzfassung: Eine tolle Geschichte!
Sie ist gut erzählt und sehr angenehm zu lesen. Da ist kein Satz über den man stolpern würde. Äußere Atmosphäre und innere Handlung greifen ineinander. Der Twist am Ende und die ganze Idee von diesem aufblasbaren Mortimer gefallen mir auch sehr gut.

Wie meist, habe ich eine eigene Meinung über das Ende. Ich würde den letzten Absatz weglassen. Mit ihm verlässt du die Perspektive der Erzählerin. (Ich habe den Text so verstanden, dass die anderen Leute sie tot finden. ) Er ist für meinen Geschmack auch etwas zu nah am Klischee. So hat glaube ich schon das Mädchen mit den Schwefelhölzern geendet. Ich fände den magischen Moment mit Mortimer einen befriedigenden Schluss. Der Leser kann sich dann weitere Abenteuer der beiden ausmalen.

Viele Grüße
lietzensee
 

Matula

Mitglied
Grüß Dich, lietzensee,
danke für Deinen Kommentar, der mich sehr gefreut hat.
Die Protagonistin ist nicht unbedingt tot, sie könnte am Leben sein, aber halb erfroren. Das wollte ich dem Leser überlassen. Würde die Geschichte mit Mortimers Auftritt enden, würde man an ein Fieberdelirium und weniger an eine Wunschphantasie denken. Das aber wollte ich betonen: dass sie bis zuletzt hofft, irgendjemandem zu fehlen. Ich glaube, diese Geschichte kann kein gutes Ende haben.

Herzliche Grüße,
Matula
 

lietzensee

Mitglied
Hallo Matula,
vielen Dank für die Erklärung. Ich hatte " Dort fand man sie am nächsten Morgen. " als eindeutigen Tod verstanden. Aber auch Rachel das ja offener gelesen. Ich mag auch eher offene Enden.
Das "man" im letzten Satz führt für mich aber weiter von der Protagonistin weg.
Wie geschrieben, eine klasse Geschichte.

Viele Grüße
lietzensee
 



 
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