Mr. Disinfection Man

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Catty

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Mr. Disinfection Man


Leise fallen die Flocken zu Boden. Kleine Kristalle aus Schnee und Eis, die von den Wolken sachte auf die Erde hinab schweben, auf der sie mit einem sanften „Plop“ landen. Erwartungsvolle Stille umhüllt die Welt. Im Zwielicht, fast verborgen im allgegenwärtigen Weiß, stapfen braune Gestalten langsam durch den Schnee, die Rücken und Geweihe bedeckt von den herabrieselnden Flocken. Nicht weit davon sind Lichter. Kühles, blaues Licht neben einer Tür. Einer Tür, die in ein anderes Reich führt.

Emsiges Treiben herrscht dort. Klopfe, sägen, zischen, piepsen, klingeln, ratschen, rascheln, summen, surren, vom Keller bis unters Dach. Von jeder Etage aus kann man die dir große Halle am Fuße der riesigen Werkstatt blicken. Über Aufzüge, Bänder und Rutschen kommen von überall her Pakete dort an. Bunt verpackt, mit Schleifen und Bändern. Groß, klein, rund, eckig, mal fest, mal weich und manches auch zerbrechlich. Immer häufiger werden die Wünsche nach Smartphones, Tablets, iWatches und smartem Zubehör, aber es gibt tatsächlich noch Klassiker, wie Puppen, Brettspiele, Hörspiele, Bücher und sogar ein Schachspiel ist dabei. Das alles wird in den zahllosen Ebenen der großen Werkstatt hergestellt. Von Männern und Frauen, kaum einen Meter groß, mit spitzen Ohren und Zipfelmützen, bekleidet in Latzhosen, die sie über dicke Wollpullover gezogen haben.

Ganz oben, ganz am Rand, läuft ein Mann unruhig auf und ab. Er ist mindestens doppelt so groß wie die Arbeiter, mit prallem Bauch, schlohweißem Haar und einem ebenso weißen, vollen Bart. Besorgt blickt er zu Boden, und läuft weiter beständig auf und ab. Auf – und ab. Neben ihm steht ein Tisch. Ein Tisch, massiv, aus dunklem Holz. Darauf steht ein großer Globus und neben diesem eine Kugel aus Glas. Die Kugel zeigt ihm jeden Ort, auf den er auf dem Globus zeigt. Besorgt läuft er weiter auf und ab. Auf- und ab.

„Du musst vorsichtig sein. Es schneit so viel wie seit Jahren nicht mehr“, sagt eine rundliche Frau. Sie sitzt in einem Schaukelstuhl neben dem Kamin. Über ihre Beine hat sie eine Wolldecke gebreitet, im Schoß ein Wollknäuel, mit dem sie strickt.

„Das ist es nicht, was mir Sorgen bereitet“, sagt der Mann, und läuft weiter. „Was dann?“, fragt die Frau. Der Mann bleibt stehen. Er tippt auf einen Punkt auf dem Globus. Die Kugel zeigt Menschen im Bett liegend mit Beatmungsgeräten, daneben andere, völlig eingepackt in weiße Anzüge, mit Masken, Brillen und Handschuhen. Er tippt auf einen anderen Punkt: Menschen maskiert in der Fußgängerzone. Beim nächsten maskierte Kinder, dick eingepackt mit Mänteln und Schals auf den Schulbänken. Durch offene Fenster und Türen weht eisiger Wind. Der Mann tippt weiter: geschlossene Restaurants, geschlossene Bäder, eingestaubte Karussells in dunklen Ecken. Trostlose Leere auf den Plätzen, auf denen vor einem Jahr noch Glühwein, Punsch und Kleinode verkauft worden sind. Kein Scherzen, kein Lachen, keine Sorglosigkeit, und keine Vorfreude. Der Mann schüttelt den Kopf. „Nirgends auf der Welt ist es mehr sicher.“ Die Frau hält mit ihrem Stricken inne.

„ Was soll das heißen? Willst du etwa zu Hause bleiben?“, fragt sie. Der Mann schweigt weiter. „Du wirst doch den Kindern nicht auch noch das letzte bisschen Weihnachten nehmen wollen?!“, spricht die Frau vorwurfsvoll weiter. Der Mann schluckt. „Natürlich nicht…Ach, ich weiß nicht, was ich machen soll…“, murmelt er kleinlaut vor sich hin. Die Frau hört ihn trotzdem. „An Weihnachten die Geschenke verteilen, so wie jedes Jahr!“ Der Trotz steht ihr aufs Gesicht geschrieben. „Aber wenn ich mich anstecke, verteile ich es an den Rest gleich mit…“ „Dann sorg dafür, dass du dich nicht ansteckst.“



Am Weihnachtsabend ist es dann soweit. Alle Vorbereitungen sind getroffen, sämtliche Säcke und der Schlitten sind gepackt. Die Rentier einsatzbereit eingespannt. Der Weihnachtsmann erscheint klassisch in Rot und Weiß. Nur dieses Mal nicht mit seinem Mantel. Stattdessen hat er über Hose und Pullover einen roten Schutzanzug aus reißfestem Kunststoff gezogen, dazu passende Handschuhe und Stiefel in weiß. Statt einer Mütze trägt er die Kapuze des Anzugs auf dem Kopf, dazu eine eng abgeschlossene Schutzbrille. Auf seiner Maske steht in goldenen Lettern der Aufdruck: „Merry Christmas“. Die Rentiere sind allesamt mit Atemschutzmasken und Sauerstoffflaschen auf dem Rücken ausgestattet.

Unter dem alljährlichen Jubel treibt der Weihnachtsmann die Tiere an. Obwohl er durch den dicken Anzug alles nur gedämpft wahrnimmt, ist er frohen Mutes. Der Schlitten fährt an, gewinnt an Geschwindigkeit und hebt ab.

Beim ersten Kind angekommen, landet er wie gewohnt auf dem Dach. Er steigt aus, zurrt sich eine große Flasche auf dem Rücken fest und nimmt sich den ersten Sack. Mit der Flasche auf dem Rücken gestaltet sich der Weg durch den Kamin etwas schwieriger. Aber er schafft es. Unten angekommen, nimmt er sich den Sprühkopf, der durch einen Schlauch mit der Flasche auf seinem Rücken verbunden ist. Er löst die Sicherung und versprüht das Desinfektionsmittel im ganzen Raum. Erst danach holt er das Päckchen aus dem Sack, um es an seinen Platz unter dem bunt geschmückten Baum zu legen. Zufrieden wendet er sich zum Gehen – dann fällt sein Blick auf das Tischchen neben dem Kamin. Darauf sind wie jedes Jahr ein Glas Milch und ein Teller mit Plätzchen. Extra vorbereitet, nur für ihn. Er ist schon drauf und dran, sich die Maske herunter zu ziehen. Dann besinnt er sich eines besseren. Wer gibt ihm die Garantie, dass sich Corona nicht auf den Plätzchen oder in der Milch befindet? Also lässt er alles so stehen, wie es ist und setzt seinen Weg fort.

Ein Päckchen nach dem nächsten liefert er aus. Die Süßigkeiten lässt er stehen. Bis er beim Ablegen eines Päckchens unter dem Baum ein rascheln hinter sich wahrnimmt. Gespannt dreht er sich um. Von der Tür aus sieht ihn ein kleiner Junge von vielleicht fünf Jahren an. Seine kleine Schwester hält er an der Hand. Sie schaut den Weihnachtsmann mit großen Augen an. Wie in jedem Jahr gibt es auch diesmal jemanden, der ihn entdeckt. „Danke, Mr. Disinfection Man“, sagt der Junge. Er zeigt auf den Tisch. „Möchtest du keine Plätzchen?“ Verwirrt schüttelt der Weihnachtsmann den Kopf. Mr. Disinfection Man? Er sieht auf den Sprühkopf in seiner Hand. Wahrscheinlich sieht es gerade so aus „Nein, danke“, sagt der Weihnachtsmann. „Dieses Jahr leider nicht.“ Und geht.



Schüchterne Strahlen der Morgensonne zeigen sich am Horizont, als er nach getaner Arbeit nach Hause kommt. Er schält sich – endlich! - aus dem ganzen Zeug heraus. Er atmet tief, ganz tief, durch, dann setzt er sich erschöpft auf den Sessel neben seine Frau. Mit einem Stöhnen legt er seine Beine auf den Hocker vor sich. „Also“, meint er. „Wenn das so weiter geht, werde ich noch rank und schlank.“

Ende​
 
" ... die von den Wolken sachte auf die Erde hinab schweben, auf der sie mit einem sanften „Plop“ landen."
Naja Christmas-bussiness as usual --
aber nie, niemals landen Schneeflocken mit einem "Plop", und sei es noch so sanft! Weder wirklich noch symbolisch!!
 



 
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