Münchener Bilder

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Der Weg von der Galerie Lenbachaus in der Luisenstraße bis zum Bierlokal in der Gabelsberger Straße war zu Fuß in etwa gleich lang wie der Weg von seiner Wohnung in der Steinheilstraße zur Galerie. Diese Strecke sollte für Carlo künftig von Bedeutung sein. Er war an einem Freitagnachmittag Anfang Oktober von seinem Scheidungstermin nach Hause zurückgekehrt. Kurz zuvor hatte er sich von seiner nun Ex-Frau Laura knapp und höflich-kühl verabschiedet. Viel zu sagen hatten sich die beiden ohnehin nicht mehr. Laura wurde am Ausgang des Gerichts von ihrem neuen Partner in dessen schwarzem Mitsubishi SUV abgeholt und verschwand zügig in ihr neues Leben. Das war es dann.

Carlo legte den Weg in seine Wohnung zu Fuß zurück und verweilte dort einige Stunden. Das Gefühl eines Trennungsschmerzes kam nicht in ihm auf; mit dem Thema Ehe hatte er emotional bereits vorher abgeschlossen. Da er bereits die letzten Monate dort alleine gelebt hatte, gab es nicht viel umzuorganisieren. Es waren lediglich einige Dokumente neu zu sortieren. Letzte Reste von Erinnerungsstücken an das Zusammenleben mit seiner Ehefrau hatte er vorher schon sondiert, die mussten nur noch entsorgt werden. In dieser Stimmungslage blitzten lediglich kurze Momente der Wehmut in Carlo auf. Damit konnte er gut umgehen, die Endgültigkeit der Trennung hatte schon vorher ihren Schrecken verloren. Sein seelische Gleichgewicht befand sich wieder im Normbereich. Ein erfreulicher Aspekt seines künftigen Single-Daseins war, dass er zum Rauchen seiner Zigarillos ab sofort nicht mehr auf den Balkon gehen musste. Laura war strenge Nichtraucherin und hatte durchgesetzt, dass in der Wohnung nicht geraucht werden durfte; Zigarillos waren für sie dabei das Allerletzte. Bereits bei anfänglichen Diskussionen zu seinen Rauchgewohnheiten hatte sich seine Frau als unüberwindbare Mauer gezeigt, von der zu diesem Thema alles abprallte. Für einen passionierten Tabakgenießer, mit Hang zum Kettenrauchen, wie es Carlo seit vielen Jahren einer war, bedeutete dies eine harte Strafe. Selbst die eindringlichen Ratschläge seines Hausarztes, das Rauchen wegen seines Bluthochdrucks einzustellen, fochten ihn nicht an. Auf die von ihm seit Jahren geschätzten kubanischen Montecristo Club Cigarillos würde er auf keinen Fall verzichten.

Und nun, an diesem Nachmittag der offiziellen Auflösung seiner Ehe, nach einer kurzen Pause der Besinnung, verließ er die Wohnung und hatte kurz darauf die wenigen hundert Meter zur Städtischen Galerie zurückgelegt. Er suchte jetzt Ablenkung. Diese erhoffte er sich von einem Besuch der Gemäldesammlung zum Thema Deutscher Expressionismus. Moderne Kunst, dafür begeisterte er sich schon seit vielen Jahren. Einen solchen Genuss hatte er in seiner gut vier Jahre dauernden Ehe mit seiner Ex-Frau Laura selten erleben dürfen. Laura interessierte sich wenig für bildende Kunst, für moderne Malerei überhaupt nicht. So war es nicht verwunderlich, dass jeder seiner Versuche, ihr diese näherzubringen, immer wieder gescheitert war. Der letzte Anlauf, diesen von ihm so sehr geschätzten Kunstgenuss gemeinsam zu erleben, lag mehr als zwei Jahre zurück. Er hatte dafür ein Wochenende in Bernried am Starnberger See ausgesucht. Dort suchten die beiden die gut ausgestattete Sammlung moderner Kunst im Buchheim Museum auf. Laura war begeistert. Allerdings nur von der gelungenen Gebäudekonstruktion der Galerie. Auch die Park- und Gartenanlage sowie der herrliche Ausblick auf den Starnberger See gefielen ihr sehr. So verließen die beiden die Ausstellungsräume auf Lauras Drängen bereits nach einer guten halben Stunde. Das war es dann mit dem gemeinsamen Erlebnis des Themas Expressionismus.

Jetzt, an seinem ersten offiziellen Tag als Single, fühlte er sich sofort nach Eintritt in die Abteilung für moderne Malerei des Lenbachhauses wie in einer anderen, in einer attraktiveren Welt. Das Interesse für Kunst im Allgemeinen, und moderne Malerei im Speziellen, hatten seine Eltern, beide von Beruf Lehrer, frühzeitig in ihm geweckt und gefördert. So führten viele gemeinsame Urlaubsreisen in seiner Kindheit und Jugend zu Zielen, an denen Kunst und Kultur einen wichtigen Platz einnehmen. Paris, Venedig oder Florenz, das waren Orte, an denen sich sein Kunstsinn entwickelt hatte. Mit entscheidend für seine Vorliebe zur Malerei der Modernen war eine Reise in das pittoreske Städtchen Murnau in Oberbayern gewesen. Die Kunstwerke der dort Anfang des 20. Jahrhundert einige Jahre lang wirkenden Maler Gabriele Münter und Wassily Kandinsky erweckten die Liebe zur Malerei in dem Jungen. Kandinsky hatte 1911 in München mit Franz Marc zusammen die Künstlergruppe Der blaue Reiter gegründet, die die Entwicklung des Expressionismus' in Deutschland wesentlich beeinflusste. Seit der Reise nach Murnau übte diese Art der Malerei eine starke Faszination auf Carlo aus. Beim Betrachten von Gemälden dieser Kunstrichtung verspürte er eine emotionale Bewegung, die seine Gefühle tief im Innersten stark berührten. Es ist ihm immer unverständlich gewesen, dass manche Betrachter diese Art zu malen für grob halten, möglicherweise wegen der verschwenderisch verwendeten kräftigen Farben. Carlo ziehen diese geradezu magisch an. Expressionismus nimmt im Lenbachhaus, hier ist unter anderem die weltweit größte Sammlung der Kunst Blauer Reiter zu sehen, einen bedeutenden Platz ein. Einen uninspirierten Kunstmuseumsbesucher kann die geballte Strahlkraft dieser Werke durchaus überfordern, allein durch die Wucht ihrer komplexen Anmutung.

Nachdem Carlo viele der von ihm geschätzten Gemälde mehrfach mit Begeisterung angesehen hatte, kehrte er wie ferngesteuert zu seinem Bild zurück, August Mackes Gemälde, Zoologischer Garten: farbenprächtige Vögel und exotische Tiere der afrikanischen Savanne, die der Künstler zusammen mit Zoobesuchern in Szene gesetzt hat. Er sah auch dieses Kunstwerk heute nicht zum ersten Mal. Entspannt, aber durchaus fokussiert, setzte er sich auf einen der Ruheschemel und nahm die Aura des Gemäldes aus der Halbdistanz tief in sich auf. Diese Darstellung schlug in seinem Innersten eine Gefühlssaite an, die früher so nie in ihm geschwungen hatte. Wie in einem stimulierenden Gefühl eines Energietransfers nahm dieses Gemälde Besitz von ihm. Wie so häufig beim Betrachten dieses Bildes war es die heitere Farbigkeit des Sujets, in leichter Abstraktion visualisiert, die ihn lange vor diesem Kunstwerk verharren ließ. Er fühlte sich in diesem Moment ganz einfach gut. Auf seinem Weg zum Ausgang, ging sein Blick nur noch oberflächlich zu einzelnen anderen Exponaten hin. Draußen angekommen, setzte er sich nahe der großen Ausgangstür auf eine Bank, und steckte sich genüsslich eines seiner Cigarillos. an. Der aromatische Rauch der Montecristo verstärkte sein Wohlbefinden. Nach einer kurzen Zeit des Verweilens erhob er sich und verließ das Museumsgelände. Er nahm nicht den direkten Weg zu seiner Wohnung. Über die Richard-Wagner-Straße erreichte er die Gabelsberger Straße, bog in diese nach links ein und schlenderte ziellos durch diesen Bereich des Bezirks Maxvorstadt, den er hier nicht gut kannte. Nach wenigen Schritten wurde seine Aufmerksamkeit auf das Aufleuchten einer Bierreklame gelenkt – LÖWENBRÄU, augenscheinlich als Signal für die Öffnung einer Kneipe an diesem Abend bestimmt. Carlo betrat die Gastwirtschaft. Es war ein kleines Lokal, das den abgenutzten Charme der Siebzigerjahre verströmte, inklusive einer Jukebox, die nur mit DM-Münzen zu bedienen war. Im Schankraum war zu diesem Zeitpunkt nur eine Person anwesend, eine Frau im fortgeschrittenen Alter mit stark blondiertem, welligem Langhaar namens Rosi, wie er später erfuhr. Sie begrüßte ihn freundlich und er bestellte ein Getränk bei ihr, ein Müchener Helles, das es hier nur in Flaschen gab. Mit der gesprächsoffenen Wirtin fand er sich rasch in einen Small-Talk wieder, bis weitere Gäste eintrafen, um die sie sich dann ebenfalls zu kümmern hatte. Carlo trank dann im Verlauf der nächsten eineinhalb Stunden noch zwei weitere Biere und zum Schluss einen Asbach Uralt. Diese Weinbrandmarke war hier anscheinend sehr beliebt. Carlo kannte diese nur aus alten Werbesprüchen. Die Wirkung des in Maßen genossenen Alkohols beflügelte sein ohnehin vorhandenes Hochgefühl. Die Tatsache, dass das Rauchen in diesem Lokal gestattet war, rundete den gelungenen Abend ab. Anschließend führte ihn der Weg direkt zu seiner Wohnung, die nicht all zu weit entfernt liegt.

Dieser Ablauf eines Freitagnachmittags wiederholte sich künftig regelmäßig. Stets das gleiche Ritual: erst Lenbachhaus mit seinem Gemälde von August Macke, dann drei Flaschen Helles mit einem Asbach Uralt bei Rosi. Woche für Woche, fast zwei Jahre lang. Nicht nur die Angestellten des Kunstmuseums kannten Carlo inzwischen gut. Auch im Bierlokal bei Rosi war er zum Stammgast geworden, der sich im Lauf der Zeit auch an den dort aktuellen Kneipengesprächen beteiligte. Alles blieb dabei meistens, wie in einem solchen Umfeld üblich, an der Oberfläche. Wohnort, Name, Beruf, bevorzugter Fußballverein, Automarke, das waren die häufigsten Themen. Beim Klatsch über Personen aus der Nachbarschaft konnte er nicht mitreden. Dass er in seiner Abwesenheit bei Rosi und ihren Stammgästen hin und wieder Gesprächsthema war, wusste er nicht. Man nannte ihn dann gerne mal, etwas despektierlich, Macke-Macke, Kurzform von 'Der-mit-der-Macke-Macke'. Das kam daher, dass er des öfteren, oft auch unaufgefordert, sehr anschaulich von seinen ritualisierten Freitagen erzählt hatte, einschließlich seiner exzessiven Bewunderung für den Expressionisten August Macke.

Dann kam der Freitag, an dem Carlo nicht erschien. Der Wirtin, und so manch einem der Stammgäste des Lokals, fehlte dadurch etwas in ihrer Kneipenroutine. Sein extrem starkes Interesse für moderne Kunst war manchen der Gäste des Lokals zwar etwas speziell vorgekommen, trotzdem war er den meisten hier sympathisch. Die Tatsache, dass er ursprünglich aus Franken und nicht aus Oberbayern stammte, und Anhänger des 1. FC Nürnberg statt des FC Bayern war, tat dem keinen Abbruch.

Am Tag nach diesem 'denkwürdigen' Freitag schlug Rosi die Morgenzeitung auf, die mit der Schlagzeile titelte:

ANSCHLAG IM KUNSTMSEUM! IRRER ATTENTÄTER ZERSTÖRT BERÜHMTES GEMÄLDE VON AUGUST MACKE!

Reflexartig brachte sie hervor: „Das war er nicht, das kann nicht sein!“

Wie weiter im Inneren des Blattes zu erfahren war, handelte es sich beim Täter tatsächlich nicht um Carlo. Diem. Das Bild des Attentäters zeigte einen Mitvierziger mit einem verwirrten Gesichtsausdruck. Dessen Motiv lag nach ersten Erkenntnissen in seinem Hass auf die entartete moderne Kunst, wie er sie nannte, begründet. „Vergewaltigung der Natürlichkeit“, schrie er als er vom Ordnungspersonal festgesetzt wurde.

Carlo war an diesem Tag gar nicht bis in das Innere des Museums gekommen. Einige Schritte vor dem Betreten des Geländes brach er zum Zeitpunkt dieser irren Tat zusammen. Ein extrem starker Schmerz traf ihn im zentralen Brustbereich. Er sackte in sich zusammen und fiel mit dem Gesicht voran auf die Gehwegplatten. Ein Reanimationsversuch durch die herbeigeeilten Ordnungskräfte blieb ohne Erfolg. Ärzte im Klinikum sprachen später von einem plötzlichen Herztod. Carlo Diem verstarb im Alter von dreiund vierzig Jahren – er hatte nie an Zufälle geglaubt.
 
Zuletzt bearbeitet:

Mubarby

Mitglied
Radmacher!
Dich bewegt Schicksalhaftes!
Mir gefällt deine Sprache.

Eine Rückmeldung, wie die Kommentare, die es zahl- und detailreich gibt auf der Plattform, ist diese Reaktion natürlich nicht.

Ich finde es imponierend, wie du das Erleben deines Protagonisten mit der undramatischen Leichtigkeit und Genauigkeit eines Reiseführers nahezu protokollarisch ausrollst, und dabei vermagst, meine Reise als Zeuge in emotionales Terrain zu lenken.
Dahinter steckt Erfahrung und Routine.
 
Danke für deinen Beitrag, Mubarby. Freut mich, dass dich die Geschichte und mein Erzählstil ansprechen. Was will man als Autor mehr, als Leser emotional auf eine Reise mitzunehmen?!
Herzliche Grüße.
Horst
 

Bo-ehd

Mitglied
Bist ein wirklich guter Schreiber, Horst. Aber dem Kandinsky musst du noch ein n verpassen. Ich übergehe inzwischen alle leichten Schreibfehler, aber hier muss es sein.
Gruß Bo-ehd
 
Da hast Du absolut recht, Bohed, Kandinsky ohne 'n' geht nicht, ich habe es korrigiert. Danke für deine Aufmerksamkeit und deine Einschätzung.
Herzliche Grüße.
Horst
 



 
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