Musiktagebuch: "Anxiety" (2025)

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Ein Song geht gerade viral. Das bedeutet, man hört dieses Lied nun landauf, landab und überall in diesem Frühling 2025.
Das Lied heißt „Anxiety“, also „Angst“, und stammt von der Künstlerin Doechii.
Es ist nicht gänzlich neu, sondern es wurde hier die Melodie von „Somebody That I Used To Know“ von Gotye aus dem Jahr 2011 wiederverwertet.

So saß ich neulich im Auto und hörte die altbekannten Anfangsklänge. Heitere Tonleitern klettern auf dem Xylophon rauf und runter. - Diesem Musikzitat folgt nun allerdings ein gänzlich anderer Text, Stil und Inhalt nach.
Im Original von 2011 ging es um Liebe und um eine in die Brüche gegangene Beziehung; persönlicher Kleinkram eben, an dem ein jeder mal zu knabbern hat. Es ist ein Duett, eine Art Zwiegespräch zwischen Expartnern. Zurückhaltend instrumentalisiert, getragen von den beiden Gesangsstimmen, die sich gegenseitig das Ende einer kaputten Romanze erklären.
2025 geht es um anderes.
Die Gedanken der Sängerin kreisen um Angst um Beklemmung. Der Titel hält, was er verspricht.
„Ängste wollen mich zum Schweigen bringen“, „Ich kann sie nicht abschütteln“, oder „Ein Elefant auf meiner Brust“ heißt es im Text, der sich nun nicht nur mit belanglosem Herzschmerz herumschlägt, sondern eben mit den großen äußeren Umständen, welche explizit bedrohlich werden. Die „Weltordnung“ kommt wörtlich vor. Umbrüche, die beängstigen. Düstere Aussichten.
Auch visuell übernimmt die Düsternis.
Schwarzer Hintergrund, zwei grotesk verflochtene Köpfe, die sich kaum bewegen… die optische Aufmachung steht ebenfalls in auffälligem Gegensatz zur pastellrosa Szenerie im Video von 2011 (welches mehrfach parodiert wurde).
„Anxiety“ wird gesungen, gerappt, alles geht wild durcheinander. Dann wieder die arglosen Anfangsklänge, vertraut und doch verfremdet. Musik, Worte, Beatboxing, Atemgeräusche und Seufzer überlagern sich gegenseitig, unruhig und chaotisch. Die Angst treibt an, in jeder Hinsicht, 2025.

Wie erinnere ich mich gut an das Lebensgefühl von 2011!
Auch damals hörte ich das markante Intro im Autoradio. Tonleitern kletterten lustig auf dem Xylophon rauf und runter und es schien, als gäbe es für jemanden wie mich keine großen Probleme in der Welt, bloß eben jene, die das Zwischenmenschliche oft so mit sich bringt.
Ängste hatte ich keine. Ich lebte sicher, ich hatte alles und ich dachte, die Welt um mich herum würde sich nach und nach schon gut entwickeln und dass ich vielleicht etwas dazu beitragen könnte…
„Now you’re just somebody that I used to know…“ sang ich den Refrain munter mit und dachte dabei vielleicht ans Ende einer meiner Beziehungen – ans Ende der Welt, an Welt- und Atomkrieg dachte ich nicht.

Wenn man die beiden anverwandten Musikstücke nebeneinanderstellt, erkennt man unweigerlich die miesen Tendenzen der letzten Jahre.
Heute haben wir allesamt andere Probleme als „Wer-liebt-wen?“.
Es geht schon deutlich ums Eingemachte, um Sein und Nichtsein, Krieg und Frieden. Die Angst ist unser ständiger Begleiter geworden. Sie heftet sich an uns dran und versucht pausenlos, uns zu kriegen. Die Themen dieser Zeit.
Immer deutlicher wird: Diese Welt um uns herum entwickelt sich gar nicht gut und es scheint kaum was zu geben, was wir dagegen tun können.
Das lähmt uns, das erdrückt uns, das drückt sich schließlich auch musikalisch aus.
Also kein Zufall, dass so ein Lied populär wird im Jahr 2025.
Klar, dass das Cover von einem originär launigen Song heute so bedrückend gerät.

Jetzt kann man natürlich abwiegeln und sagen, ich interpretiere viel zu viel hinein in so ein Chartphänomen (wie man es so oft schon sagt, wenn ich auf etwas hinweisen möchte, das mir exemplarisch erscheint), oder dass wir alle einfach nur resilienter und härter werden müssen…
Kann man machen.
Man kann aber auch generell blind sein für die sämtlichen Mahnzeichen einer schwer kränkelnden Gegenwart.



Doechii - Anxiety (Visualizer):





Gotye - Somebody That I Used To Know (feat. Kimbra) [Official Music Video]:

 

petrasmiles

Mitglied
Jetzt kann man natürlich abwiegeln und sagen, ich interpretiere viel zu viel hinein in so ein Chartphänomen (wie man es so oft schon sagt, wenn ich auf etwas hinweisen möchte, das mir exemplarisch erscheint), oder dass wir alle einfach nur resilienter und härter werden müssen…
Kann man machen.
Ich finde gerade das Gegenteil trifft zu: 'So ein Chartphänomen' ist ein signifikanter Indikator für einen Wandel des Lebensgefühls. Allerdings - und das sehen wir vielleicht unterschiedlich - würde ich das eher für eben die Zuspitzung von Gefühlen halten, die natürlich besonders da unter Druck geraten, wenn gerade den Woken ein quasifaschistisches Regime ihre 'gute Welt' zerstört. Aus zeitlicher Distanz betrachtet - im Sinne von Lebensalter - empfand ich schon das woke 'Paradies' tendenziell nicht mehr im Einklang mit meinem Verständnis von Rechtsstaatlichkeit und Toleranz wegen der Cancel Culture. Das erleben sie nun am eigenen Leib - und reagieren emotional und nicht rational, schon gar nicht selbstkritisch. Das würde ich so für den amerikanischen Status quo halten.

In Europa empfinde ich die (passive) Zuschusterung von Verantwortlichkeiten an eine junge Generation für die erste Stufe der Überforderung eines menschlichen 'Nervenkostüms'. Ich habe mal einen wunderbaren Artikel einer jungen Mutter in der Berliner Zeitung gelesen, in der so ein Satz stand, dass sie sich dafür verantwortlich fühle, dass der Boden ihres Kindes nicht ins Wanken gerate. Das heißt nichts anderes, als dass sie auch dafür Sorge trägt, wieviel 'Realität' ihr Kind verkraften kann. Diese Fürsorge habe ich bei vielen, vielen politisch bewegten Eltern vermisst, und das Ergebnis sind u.a. die Klimakleber, die gerade ihren Welpenschutz verlieren und verstärkt gerichtlich belangt werden.

Vor allem verhindert eine mediale Beeinflussung das Wachstum eines starken Charakters - oder mindestens Selbstverständnisses - die ja nahezu ausschließlich kapitalistisch motiviert ist. Man kann sich darüber streiten, ob die derzeitige Selbstüberbietung an kriegerischen Bedrohungsszenarien nicht auch in diese Kategorie gehört.

In meiner Arbeit mit jungen Menschen sehe ich eine sehr viel stärkere Ichbezogenheit - die auch dazu führt, dass man eben nicht 'die Augen zu und durch' durch eine lästige Pflicht macht (wie ich es gelernt habe), sondern man sich dann eher 'nicht danach fühlt', etwas zu tun, aber gleichzeitig eine große Verunsicherung da ist. Das ist auch hier alles nicht gesund und ich bewundere Eltern zutiefst, die es schaffen, ihre Jungs und Mädchens gut durch diese Phase (hoffentlich) zu navigieren.

Da hast Du wieder den Finger auf die Wunde gelegt, liebe Dichter Erdling!

Liebe Grüße
Petra
 

trivial

Mitglied
Liebe Erdling

ich kannte diese Version nicht, aber nach dem Anhören muss ich sagen, dass sie mir die liebere ist, mag eventuell an einer dunkleren Gestimmtheit in mir liegen.

Auch wenn ich Dir und Petra in der Ansicht der Grundproblematik zustimmen möchte. Ob sich die Gefühle zuspitzen oder abstumpfen, respektive die Welt erdrückt und lähmt, scheint mir eine Frage der Perspektive zu sein. Persönlich wäre ich da vielleicht näher bei Petra und würde eine hypersensible Gesellschaft beklagen.

Aber beim Nachdenken über die Thematik im Kontext Deines Textes muss ich sagen, trotz meiner grundpessimistischen Einstellung stimmte es mich positiv, dass ich darin ein Aufbäumen, etwas Emanzipatorisches aus einer Überempfindlichkeit spüre. Auch wenn es mit Resilienz und Härte verwechselt werden könnte. Meine ich etwas anderes, ein Gefühl des Werdens... etwas Dialektisches.

Die Liebe erscheint mir immanent, richtet sich, aus uns, hin zum Freien, nur verdeckt durch sie selbst, sie erfüllt das was ist, das Wesen des Seienden...
...aber die Angst transzendiert, richtet sie sich aus dem Freien auf uns, vollkommen unverstellt entrückt sie uns,
in ein Werden aus Ungewissheit und Unmöglichkeit. Das Wesen des Werdens...

Sorry, die Gedanken kamen mir beim Lesen. Ob jetzt Unsinn oder nicht, es spricht wohl mal wieder für die inspirierende Art Deiner Texte spricht.

Vielen Dank dafür und liebe Grüße
R
 
Hallo Petra & trivial!

Eure vielschichtigen und weiterführenden Gedanken zum Thema nehme ich dankbar zur Kenntnis.
Ich möchte gar nicht viel dazu sagen, sondern sie einfach stehen und (auch für mich) wirken lassen.

Anmerkungen wie
„spricht wohl mal wieder für die inspirierende Art Deiner Texte“
freuen mich natürlich besonders.

Es grüßt euch sehr freundlich

Erdling
 



 
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