Musterkollektion Alpträume

Wenn Ihnen Tage und Nächte zu eintönig verlaufen, gibt es ein bewährtes Gegenmittel: Alpträume. Sie bereichern eine sonst blasse, ereignisarme Existenz mit grellen Farben, lauten Geräuschen, starken Gefühlen, Dramatik. Traumforscher haben herausgefunden, man kann an seinen Träumen arbeiten, sie verändern – warum sie nicht gleich produzieren? Beschäftigen Sie sich mit einem Typ Alptraum, legen Sie sich auf ein Motiv fest, vertiefen Sie sich darin, vor dem Zubettgehen, beim Einschlafen. Das Verfahren kann auch bei Schlaflosigkeit oder vor kurzem Nickerchen tagsüber versucht werden. Was haben wir denn anzubieten?

1. Die Zähne fallen aus – Hier sind garantiert: erst ungläubiges Erstaunen, dann tiefes Erschrecken. Sie spüren: Da verabschiedet sich ein Vorderzahn, nun folgt ihm die gesamte Vorderfront, die Eckzähne ruckeln ein wenig, bevor sie sich auf die Reise begeben. Die Backenzähne wackeln auch schon, und Sie verspüren Ekel und Scham – wie sehe ich denn nur aus - und das gruselige Vorgefühl mümmelnder Hochbetagtheit. Das ist ein Generalangriff auf die Integrität. Nicht die Welt geht in Stücke – das würde Sie weniger berühren -, sondern Ihre teure Person. Wenn Sie erwachen, werden Sie sich sogleich überzeugen, dass noch alles da ist, und sich froh und erleichtert finden.

2. Nackt in der Öffentlichkeit – Nur geeignet, wenn Sie nicht FKK-Anhänger sind, die kennen das schon, es hat sich für sie verbraucht. Alle Übrigen empfinden zunächst große, ungewohnte Lust am hüllenlosen Durchstreifen von Fußgängerzonen, Museen und anderen öffentlichen Orten. Sie gleiten geradezu dahin – bis ihnen Blicke begegnen, deren Skala von amüsiert über skeptisch bis offen ablehnend reicht. Leise meldet sich hier die Scham, die klar erkennbar sekundärer Natur ist. Als Hotelgast will man jetzt schnell mit dem Lift hinauf, um sich etwas überzuziehen. Die Lifttür öffnet sich, die Menschen im Aufzug lachen, entrüsten sich. Man versucht vergeblich, sich zu bedecken – und erwacht. Falls Sie nackt schlafen, werden Sie sich jetzt seltsam fühlen, vielleicht an sich hinabschauen.

3. In fremde Wohnungen eindringen – Auch hier verwandelt sich anfängliche Lust in zunehmendes Unbehagen, schließlich in Angst. Erst sind Sie ein Entdecker in Räumen, die Ihnen sonst unzugänglich. Wie viele Geheimnisse liegen jetzt offen vor Ihnen ausgebreitet … Man findet jedoch nie mehr hinaus. Der legitime Nutzer der Wohnung kommt unverhofft zurück und Sie Eindringling flüchten vor ihm auf den Balkon. Das Appartement liegt im dreizehnten Stock. In die Tiefe springen, an der Fassade hinabklettern? Ihr Schrei reißt Sie aus Traum wie Schlaf, und erwacht brauchen Sie einige Minuten, um sich vom Schrecken zu erholen. Kathartische Wirkung garantiert.

4. Reisen ohne Wiederkehr – Obwohl die Ausgangssituation dafür immer dieselbe ist, bietet dieser Typ Alptraum die größte Variabilität. So fängt es jeweils an: Sie müssen eine Heimreise antreten und zu diesem Zweck zum Bahnhof oder zum Flughafen. Doch Sie kommen dort entweder nie an oder zu spät. Zunächst vertrödeln Sie kostbare Zeit mit Packen. Der verwünschte Koffer will sich nicht schließen lassen. An der Rezeption folgen lange Streitereien wegen der Rechnung. Und was kann unterwegs nicht noch alles passieren: in die falsche U-Bahn steigen, ein Streik der Busfahrer … Dann platzt der Koffer und sein Inhalt entleert sich auf einer Rolltreppe. Diese Träume können sich gefühlt sehr lange hinziehen. Das Ziel erreicht man dennoch, wie gesagt, nie. Erschöpfung scheint zum Erwachen zu führen. Danach fühlen Sie sich ausgelaugt, wie nach einer langen, frustrierenden Reise. Denken Sie dann lieber nicht an Jean Paul, der gesagt hat: Nur Reisen ist Leben, wie umgekehrt Leben Reisen ist. Vermeiden Sie diese Analogie jetzt lieber.
 

Ji Rina

Mitglied
Hallo Arno!
Ob wir zu diesen Zeiten nicht schon genug Albträume haben, dass wir sie aus langweile auch noch zu produzieren versuchen?
Ich glaub, ich entscheide mich für die letzte Variante: Reisen ohne Wiederkehr.
 
Ji Rina, dein Einwand ist in der Sache nur zu berechtigt. In Wahrheit ist das hier natürlich nur der Versuch, einige typische Alpträume auf etwas scherzhafte Weise vorzustellen. Im Ernst würde ich keinem empfehlen, sich künstlich in solche hineinzuversetzen. ("Heute wollen wir Weinen spielen", pflegte Robert de Montesquiou, das Vorbild von Prousts Charlus, zu kleinen Mädchen zu sagen.)

Ich habe erst überlegt, den Text unter Humor / Satire einzustellen. Aber Humoristen verstehen am wenigsten Spaß.

Danke für deine Reaktion.

Arno Abendschön
 
F

floppy

Gast
Das Gute an Albträumen ist dass ich mich nie an sie erinnern kann. Vielleicht ist das aber auch ein Nachteil denn so kann ich die Angst nie begreifen und auflösen.

Ja die Humoristen, die brauchen erst ein paar gute Gründe um lachen zu können.
 
O, floppy, Alpträume sind nicht nur besonders unterhaltsam, es sind durchaus Bildungserlebnisse, die man sich zunutze machen kann, analysierend, interpretierend. Manche von ihnen können, leicht redigiert, sogar zu Prosatexten verarbeitet werden.

Arno Abendschön
 
F

floppy

Gast
Ich verstehe deine romantische Schwärmerei für Albträume nicht wirklich Arno. Das Hauptelement eines veritablen solchen ist doch die Hilflosigkeit und die Ohnmacht; eben nichts mehr entscheiden und sich nicht mehr bewegen zu können. Aber vielleicht bist du ja der neue H. P. Lovecraft. Oder Lara Croft, oder H. P. Kerkeling.

floppek
 
Ganz einfach, floppy, Alpträume enden und danach gewinnt das wache Bewusstsein durch Analyse wieder die Oberhand. Das ist das Gegenteil einer romantischen Einstellung.

Arno Abendschön
 
F

floppy

Gast
Klar Arno,
aber wie gesagt, kann ich mich in solchen Momenten nie erinnern.
Wahrscheinlich weil mein Verstand das sofort verdrängt.
Irgendwelche Leute sagen, vielleicht sogar Wissenschaftler, dass wir im Grunde die ganze Zeit schlafen und wenn wir annehmen wach zu sein, ist im Grunde nur unser Bewusstsein auf unsere vermeintliche Realität gerichtet. Unser Ego welches egal ob Schlaf- oder Wachzustand immer aktiv ist drängt sich im Wachzustand in den Vordergrund und taucht beim Schlafen partiell ab ins Unterbewusstsein.

Die Aborigines sagen dass der Schlaf oder der Traum die eigentliche Realität sei.

Kennst du luzides Träumen?
 
Antwort auf deine Frage, floppy: Ja, luzides Träumen kenne ich aus eigener Erfahrung, kam im Lauf der Jahrzehnte ab und zu vor. Damit habe ich aber nie bewusst experimentiert und bin auch nicht auf der Höhe der Debatte darüber.

Was du eingangs anschneidest, ist wohl ein Grenzbereich zwischen philosophischer und naturwissenschaftlicher Fragestellung. Wenn wir uns vor Augen halten, dass unser Gehirn nie völlig pausiert, kann man schon aus dieser Perspektive heraus begründen, dass ein striktes Trennen zwischen Traum und Tagesrealität den Verhältnissen womöglich nicht gerecht wird.

Quentin Lees Film "Ethan Mao" verwebt besonders raffiniert die Ebenen von Realität und Traum. Da kommt auch Traum im Traum vor.

Arno Abendschön
 

TaugeniX

Mitglied
Im EEG kann man allerdings die Schlaf- und Wachphasen durchaus unterscheiden. Auch die "Einschlafphase" (Schlaf I) hat ein eigenes unverwechselbares Bild. Die "luciden Träume" gehören aber eindeutig in die REM-Phase des Schlafs.
 



 
Oben Unten