Mutprobe

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Kayl

Mitglied
Mutprobe


„Wie urteilt ihr über diese Tat?“ Der Sozialkundelehrer nahm einen Zeitungsausschnitt aus der Mappe und hielt ihn der Klasse entgegen. „Pferdekiller unterwegs.“, las einer in der ersten Reihe vor. Der Lehrer las weiter: „In der Nacht von Dienstag auf Mittwoch ist ein Pferd des Landwirts vom Brunnenhof erstochen worden. Der Täter muss eine lange Stichwaffe gebraucht haben. Wer zur Tatzeit Verdächtiges bemerkt hat, soll sich bei der Polizei usw. … usw.
Wer, meint ihr, tut so etwas?“ Spontane Antworten gleichen Inhalts, weil die Schüler von der Untat schon gelesen oder gehört und darüber diskutiert hatten. „Ein Irrer!“
Der Lehrer bohrte nach: „Sollte er bestraft werden?“
„Aufhängen, erschießen, wie das Pferd erstechen!“ Die Klasse war aufgebracht.
Der Erzieher beschwichtigte. „Überlegt mal, der Täter hat weder Geld noch Schmuck noch sonst etwas erbeutet. Warum sollte man ihn bestrafen? Und wie?“
„Weil er ein Irrer ist!“
„Und, was macht man mit Irren?“
„Man steckt sie ins Irrenhaus!“
„Es ist doch klar“, sagte der Lehrer, „der Täter ist psychisch krank. Und solche Leute müssen therapiert werden.“
Auf dem Pausenhof wurde weiter diskutiert, die Meinungen prallten aufeinander.
„Wenn mir der Pferdekiller begegnen würde …“, Leon stieß die Faust nach vorn, „würde ich ihn abstechen! Den würde ich genauso abstechen wie er das Pferd abgestochen hat!“
Leon, mit seinen vierzehn Jahren nicht Klassenbester, aber bei Raufereien immer vorne dabei, in einer Gruppe stets der Draufgänger, der Macher, wenn es galt, Streiche auszuhecken, Lehrer zu nerven, Abenteuer zu planen. Wenn es nicht gerade um Mathematik ging, war er stets der Größte, der im Sport den anderen was vormachte.
Leon sah zufrieden um sich. Er hatte seinen Kreis an Zuhörern gefunden.
„Daheim habe ich ein Fahrtenmesser, echt geklaut, auf dem Flohmarkt, scharf wie eine Rasierklinge, - so lang!“, er zeigte mit den Händen einen halben Meter an, „ … mit Blutrille! Und Lederscheide, echt Leder, Büffelleder vielleicht!“ Die anderen umringten ihn in stiller Bewunderung. Putin, das war ein Kerl! Schon sein Spitzname. Der klang wie ein Faustschlag. Mit Putin wollte sich keiner anlegen. Respekt, Ehrfurcht und ein bisschen Angst sprach aus ihren Augen. Cheese, mit richtigem Namen Lukas, zartgliedriger Architektensohn, sah stolz zu seinem Freund auf.
„Wenn er vor dir steht, kneifst du!“, behauptete Nackter Bär, der etwas abseits stand. Nackter Bär hatte sich seinen Spitznamen eingebrockt, als er, der schmächtige Neue, auf dem Pausenhof geringschätzig angeredet wurde und konterte: „Noch nie mit einem nackten Bär gerungen?“
Putin brauste auf: „Ich kneife? Vor diesem Verbrecher? Nein, dazu braucht es nur Mut, verstehst du? Weißt du, was Mut ist? Ich will es dir sagen: Angst überwinden. Angst, einem Verbrecher gegenüber zu treten, im Wald, bei Nacht!“ Putin sah in die Runde, und als niemand widersprach, sagte er leise, fast flüsternd: „Ich wüsste da eine Mutprobe, ein großes Ding, sage ich euch.“
Sie sahen ihn schweigend an und hingen an seinen Lippen.
„Mehr verrate ich nicht. Wer macht mit?“
Cheese traute sich: „Wann und wo?“
Putin überlegte. „Morgen, Mitternacht, am Friedhofs-Parkplatz.“
Die Jungs waren beeindruckt, suchten aber Ausflüchte.
„Nachts ist es doch dunkel.“
„Zur Geisterstunde auf dem Friedhof?“
„Ich darf doch nachts nicht weg.“
„Wie soll ich das den Alten beibringen?“
„Angsthasen! Ich nehme natürlich eine Taschenlampe mit. Cheese, was ist mit dir?“ Lukas hatte großes Vertrauen zu seinem starken Freund, und er konnte unkontrolliert entkommen. Sein Zimmer in der elterlichen Villa lag unten und er wusste, wo der Hausschlüssel hängt.
Lukas reckte sich und sah in die Runde. „Ich bin dabei!“
„Sonst keiner?“
Schweigen, den Blick auf den Boden gerichtet, die Hände in den Taschen vergraben.
„Feiglinge!“ Leon drehte sich um und ging, Lukas folgte ihm.
Einer schob seine Kappe zurecht, ein anderer zog sein Telefon heraus, der nächste kratzte sich am Bein, und Nackter Bär sagte: „Was soll uns so eine Mutprobe bringen?“ Einige nickten betreten.

Als Kommissar Struck das Dienstgebäude betrat, wurde er vom Beamten in der Eingangsschleuse vorgewarnt: „Für Sie ist etwas abgegeben worden, sieht nicht harmlos aus.“
„Was soll das schon wieder?“ Struck schob mürrisch das Metallteil in der Klarsichthülle auf seinem Schreibtisch zur Seite. Er hatte sich vom Laden gegenüber warmen Kartoffelgratin geholt, den er in Ruhe verzehren wollte. Mittagspausen waren eben Pausen und keine Dienstzeit. Da wollte er weder ein Beweisstück noch eine Akte noch seine Kollegen in der Kantine sehen. Da war er konsequent.
Das Besteck verstaut, um es daheim zu spülen, nahm er sich anschließend umso aufmerksamer dieses andere Metall vor, suchte einen Zollstock aus den Schubladen und notierte: „Monierstahl, acht Millimeter Durchmesser, Gesamtlänge 800 Millimeter, ein Ende spitz zugeschliffen, das zweite zum Griff gebogen …“ Er legte Stift und Notizbuch auf den Schreibtisch und inspizierte das Eisen. Die schwarze Kruste von der Spitze bis etwa 500 Millimeter könnte … Was könnte das sein? Farbe? Teerprodukt? Blut? Eingetrocknet? Er hatte sich aufgrund seiner Erfahrung abgewöhnt, zu schnell zu urteilen. War es überhaupt eine Waffe oder ein Werkzeug eines ihm noch unbekannten Handwerks? Und wenn es eine Waffe war, warum war sie so lang? Von der Haut bis zum Herzen sind es sieben Zentimeter, beim Menschen.
Beim Menschen! Struck erfasste ein kalter Schauer. War das Opfer kein Mensch?
Er stürmte ins nächste Zimmer. „Wer hat dieses Ding hier abgegeben?“
Der Kollege sah von der Zeitung auf. „Ein Mann mit Hund, vor ungefähr einer Stunde. Er hat dieses Eisen angeblich auf der Straße gefunden. Ist ihm aufgefallen, weil sein Hund nicht davon wegzubringen war. Hier sind Name und Adresse. – Sollten wir das Ding ins Labor geben?“
„Später!“
Struck stieg mit der Eisenstange in den Dienstwagen.
Was war mit ihr geschehen? War es das Werkzeug eines Schlachters? Nein, Rinder werden doch mit einem Bolzenschuss getötet und Schweine mit der Starkstromzange, soweit er wusste. Außerdem sah diese Stange nicht professionell aus, eher wie in einer Hobbywerkstatt zurechtgebogen und –geschliffen. Eindeutig eine Stichwaffe. Gab es da nicht eine Anzeige wegen eines Pferdemörders? Aber schon jetzt einen Zusammenhang zu sehen, war für ihn zu früh. Struck war vorsichtig.
Aber warum lag die Stange auf der Straße? Ein Täter versteckt doch die Waffe und verliert sie nicht wie ein Taschentuch!
Unter der angegebenen Adresse war niemand daheim. Beim Nachbarhaus erschien eine ältere Dame an der Haustür mit Lockenwicklern im dürftigen Haar. Als Struck sich vorstellte, den Spieß präsentierte und fragte, ob sie das Ding irgendwo gesehen hätte, erfuhr er nur ein Zusammenschlagen der Hände und ein erschrecktes „Ogottogott!“. Und auf seine Nachfrage wieder „Ogottogott!“ und nichts weiter.
Struck bimmelte geduldig bei zwei weiteren Häusern. Beim fünften öffnete eine gut aussehende Frau, sportlich, dunkelhaarig. Struck grüßte freundlich und stellte sich vor. Nein, ihr war das Ding in seiner Hand unbekannt, und ihr Mann käme erst gegen Mittag, aber „warten Sie, ich hole unseren Sohn, der tobt mit seinen Freunden fast jeden Tag durch die Straßen.“
Sie ging ins Haus zurück und kam mit ihrem Jungen wieder, etwa zehnjährig. „Ein aufgewecktes Kind“, dachte Struck, als die Mutter ihn vorstellte: „Unser Tim, der kennt sich in der Umgebung bestens aus.“
„Hast du diesen Stab mal gesehen?“, fragte Struck ihn.
Tim nickte. „Ja, damit haben wir gestern gespielt.“
„Mit sowas spielt man doch nicht“, belehrte ihn die Mutter.
„Doch, wir haben Ritter gespielt und gefochten, haben aber nicht richtig zugestochen.“
„Und dann habt ihr ihn auf der Straße vergessen.“
„Ja, wir haben dann Verstecken gespielt.“
„Woher hast du diesen Stab?“, fragte Struck.
Tim sah fragend zu seiner Mutter hoch.
„Tim, der Mann ist von der Polizei. Du musst schon ehrlich antworten. Hat das ein Freund angeschleppt? Hast du es in einem Nachbargarten oder auf dem Müll gefunden?“
Struck ging in die Knie. „Nun, Tim, heraus mit der Sprache: Wo hast du das gefunden?“
Tim gab sich einen Ruck.
„In Papas Zimmer.“

Ihr kennt mich nicht. Ich bin weit weg von euch und suche doch eure Nähe, bin ein Mensch wie genormt, nichts ist ungewöhnlich an mir.
Oder? Ist es ungewöhnlich, sich in der Natur wohlzufühlen? Tierlieb zu sein? Von diesen herrlich stattlichen Wesen begeistert zu sein? Dazu stehe ich, und das ist für mich etwas ganz Normales.
Ich liebe diese Tiere, die auf der Straße der Evolution von hundeähnlichem Wuchs zu majestätischer Größe herauf galoppiert sind.
Sie wurden von den Germanen geheiligt, haben die Bogenschützen Dschingis Khans nach Westen getragen, Kampfwagen und Kanonen und endlich auch Pflüge und Erntewagen gezogen.
In diesen lauen, geheimnisschwangeren Sommernächten, in denen der Duft der Wiesen nicht schlafen geht, wo ein Blütenmeer auf den Morgen wartet, um seine tausend Kelche wieder öffnen zu können, wo Inseln warmer und kühler Luft abwechseln, da eile ich zum Gehöft, mich zieht es zum Stall, wo Geschöpfe mit gesenkten Köpfen und angezogenem Hinterlauf dösen.
Schweifschlagend und hufstampfend stehen sie da im Bewusstsein ihrer Kraft. Für Fliegen und Bremsen haben sie nur ein nichtiges Fellzucken übrig. Seht nur den fellglänzenden Leib, auf dem Adern hervortreten wie lebendes Gezweig, in dem ein Herz hämmert, in dem sich Lunge, Milz und Leber verbergen und die Schlingen des Gedärms.
Seht das Kopfnicken, das elegante Tänzeln.
Habt ihr je gehört, wie sie sich mit herausforderndem Schnauben und lebenslustigem Wiehern zum Galopp ermuntern? Habt ihr sie galoppieren sehen? Den wilden Tanz, die geblähten Nüstern, die rollenden Augen, in denen das Weiße aufblitzt, die auf und ab wehenden Mähnen, das kecke Schweifschlagen, das harmonische Wechselspiel der Läufe, die ästhetisch koordiniert durch die Luft greifen wie von einem göttlichen Choreografen einstudiert, das Schwellen und Erschlaffen der Muskeln, das Trommeln der Hufe, das den Grund erzittern lässt?
Spürt ihr die Wucht der fliegenden Leiber?
Aber glaubt mir meine Unschuld! Ja, unschuldig bin ich wie ein Kind. Man kann mir nichts vorwerfen.
Es ist Nacht, das Tageslicht weit weg, der Lärm des Pausenhofs weit weg.
Höre, Himmel über mir, hört, ihr Sterne da oben, hier ist Laokoon, ich habe die Schlangen im würgenden Griff, die schleimigen, blutigen, die zuckenden, sterbenden. Gottgleicher Moment blutiger Lust, blendend und kraftvoll, machtlos zugleich.
Ich verliere die Zeit. Wie entkomme ich diesem Gedärm, diesem Bauch, dem blutigen Bade?
Die Lust klingt ab, mein Rühren lässt nach, Laokoon hat gesiegt, befriedigt steige ich aus, erschöpft, sehe mich um, - ich bin allein. Schleim und Blut auf der Haut kühlen. Ich ziehe das Eisen aus dem Fleisch, stecke das Messer ein und gehe schweigend davon, ein dunkler, rächender Gott.
Ihr kennt mich noch nicht.

„Versteh´ doch, ich muss nach dir sehen, muss den Verband wechseln und nach der Wunde sehen.“
Keine Regung.
„Die Wunde oder die Naht könnten sich entzünden. Hast du Schmerzen? Ich will dir doch helfen. Ich tue dir bestimmt nicht weh!“
Im Bett hätte ein Ziegelstein liegen können oder ein Kartoffelsack. Nicht einmal das Atmen war an einer Bewegung der Bettdecke zu sehen. Er musste aber dort liegen, die Decke war aufgebeult. Die Ärztin wusste nicht mehr, wie sie ihn zu einer Reaktion bringen konnte, machte aber einen letzten Versuch: „Brauchst du etwas oder wünschst du dir etwas? Ein Buch? Ein Spielzeug?“
Sie wandte sich schon zur Tür, um einen Krankenpfleger als Verstärkung zu holen. Eine Kontrolle des Verbands war notwendig, sie rechnete aber mit körperlichem Widerstand.
Es klopfte. Und als die Ärztin die Tür öffnete, sah sie sich einer sportlichen dunkelhaarigen Frau gegenüber, blass, ungeschminkt und mit besorgter Miene.
„Ist mein Sohn hier? Ich bin die Mutter des Jungen, der hier vor Kurzem eingeliefert wurde.“ Die Ärztin trat zur Seite und wies wortlos auf das Bett mit dem Kissenberg. Die Mutter ging an die Bettseite und wischte mit dem Taschentuch über ihre Augen.
„Timmy, ich bin´s. Was machst du nur für Sachen?“ Sie versuchte mütterliche Wärme in ihre Stimme zu legen. „Ich bin so traurig. Komm, du musst dich nicht verstecken!“
Die Kissen bewegten sich. Langsam traute sich ein Kopf aus der Deckung, und die Augen suchten Gewissheit, dass die Ärztin verschwunden war. Als der Junge seine Mutter sah, konnte er die Tränen nicht mehr halten. Er weinte drauflos. Auch der Mutter wurden die Wangen nass. Sie beugte sich hinunter und drückte ihren Sohn.
Als die Gefühle schließlich ausgeweint waren, fragte Tim unter letztem Schluchzen: „Kommt Papa ins Gefängnis?“
„Aber nein! Papa ist nur krank, er hat eine Krankheit, die man heilen kann. Er wird vielleicht für gewisse Zeit in ein Heim müssen. Aber ins Gefängnis? Nein, auf keinen Fall.
Mein Junge, welch ein Glück, dass wir dich noch haben. Du hättest verbluten können.“ Die Mutter trocknete Tims Tränen und küsste ihn auf die Stirn.
„Wie kommst du nur darauf, dir die Pulsader aufzuschneiden?“
Tim sank in die Kissen zurück und sah zur Seite.
„Das habe ich mal im Internet gesehen.“
„Wir hatten so viel Angst um dich. Wie konntest du nur so etwas tun? Wie hast du das gemacht? Mit einem Küchenmesser? Mit einer Rasierklinge?“
Er antwortete mit Verzögerung.
„Mit einem Messer.“
„Mit welchem Messer? Woher hast du es?“
„Aus Papas Zimmer. Es lag hinter den Schulbüchern im Regal, wie die Eisenstange.“
„Und was hast du dir dabei gedacht? Warum hast du das getan?“
„Wegen Papa.“
„Wegen Papa?“
„Ich habe ihn verraten.“ Wieder weinte er und verschwand in den Kissen.

Zwei Radfahrer kurvten auf den Friedhofs-Parkplatz. Die Nacht tauchte das Tal unterhalb der Gräber in Dunkelheit. Der bleiche Mond zeigte scharfe Zacken. Zwei Gestalten gingen im feuchten Gras unter krüppligen Obstbäumen den Hang hinab.
„Putin, was soll der Unsinn?“ Lukas blieb stehen. „Morgen verschlafen wir. Und dann kommen wir zu spät zur Schule!“
„Na und?“ entgegnete Leon provozierend, „Mathe, Physik, Geschichte, - das ist Unsinn. Stell dir vor, wir reiten bei dunkler Nacht, wer hat denn so was schon mal erlebt? Und du bist dabei. Da kannst du gern mal auf Geschichte verzichten.“
„Reiten könnte ich auch am Tag!“
„Hast du Angst? Gib zu, du hast die Hose voll. Du wolltest doch wissen, ob Pferde beim Schlafen stehen oder liegen. Jetzt kannst du es erfahren!“
Lukas schwieg und folgte Leon, bis sie die Rückwand des Reiterhofs erreichten. Hier kletterten sie eine alte Kastanie hoch, hangelten an einem Ast weiter, bis sie auf dem Dach zur Luke des Stalls hinüber steigen konnten. Scharfer Geruch stieg hoch. Die Pferde schnaubten.
„Hier drunter ist Heu!“, flüsterte Leon, „da landen wir wie in einem Federkissen. Garantiert. Ich hab´s probiert, am Tage. Jetzt ist Mutprobe!“
Leon stieg durch die Luke, ergriff eine Dachlatte und ließ sich baumeln. „Sei kein Feigling“, ermahnte er, „wenn du nicht springst, kriegst du den Frack voll!“
„Ich komme nach“, meldete Lukas kleinlaut.
Leon ließ sich fallen.
Lukas hörte aber nach der Sekunde des Falls nicht das Rauschen des Heus. Eher ein Klatschen, als wäre er in Morast gefallen. Dann ein Brummen wie von einem Motor, und Leon schrie, wie es Lukas noch nie von ihm gehört hatte. Angst, Entsetzen, Ekel. Alles war in diesem Schrei.
„Putin, was ist?“, rief Lukas in die Dunkelheit. Einige Momente ohne Antwort, nur ein Stöhnen drang herauf, als ob jemand Schreckliches durchmacht.
Endlich meldete sich der Freund aus der Tiefe. „Das ist alles nass, alles klebrig, alles glitschig, alles weich, und es stinkt.“
Lukas verzichtete auf seine Mutprobe und hörte, wie Leon unten stöhnend an der Wand entlang tastete. „Hier ist doch irgendwo der Lichtschalter.“
Neonlicht flackerte auf. Lukas, der auf den Dachziegeln kniete, kippte um, hatte Mühe, nicht durch die Luke zu stürzen, lag flach auf den Ziegeln und würgte.
Unten im Heu lag ein Pferd, der Leib aufgeschlitzt, Gedärme und andere Innereien heraus gerissen. Leon, sonst hartgesottener Draufgänger, stand zitternd mit offenem Mund neben dem Kadaver, die Kleider durchtränkt mit klebrigem Blut, umschwärmt von tausenden Fliegen.
Leon rührte sich wieder, fand eine Leiter, mit der er zur Dachluke zurück steigen konnte. Lukas lag immer noch ausgestreckt auf den Ziegeln.
„Weg hier!“ presste Leon zwischen den Zähnen hervor, und sie stiegen den Baum hinunter. Das kalte Blut klebte an den Beinen. „Du kannst so nicht heim“, sagte Lukas, „wir müssen zum Bach und alles waschen.“
Lukas ging voran zum Grund hinunter, wo sie einen Bachlauf wussten.
Er drehte sich zu Leon um.
„Putin, was machen wir, wenn deine Kleider nass sind?“ Der Mond schien durch eine Wolkenlücke.
Leon weinte.
 

Kayl

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„Wie urteilt ihr über diese Tat?“ Der Sozialkundelehrer nahm einen Zeitungsausschnitt aus der Mappe und hielt ihn der Klasse entgegen. „Pferdekiller unterwegs.“, las einer in der ersten Reihe vor. Der Lehrer las weiter: „In der Nacht von Dienstag auf Mittwoch ist ein Pferd des Landwirts vom Brunnenhof erstochen worden. Der Täter muss eine lange Stichwaffe gebraucht haben. Wer zur Tatzeit Verdächtiges bemerkt hat, soll sich bei der Polizei usw. … usw.
Wer, meint ihr, tut so etwas?“ Spontane sich gleichende Antworten, weil die Schüler von der Untat schon gelesen oder gehört und darüber diskutiert hatten. „Ein Irrer!“
Der Lehrer bohrte nach: „Sollte er bestraft werden?“
„Aufhängen, erschießen, wie das Pferd erstechen!“ Die Klasse war aufgebracht.
Der Lehrer beschwichtigte. „Überlegt mal, der Täter hat weder Geld noch Schmuck noch sonst etwas erbeutet. Warum sollte man ihn bestrafen? Und wie?“
„Weil er ein Irrer ist!“
„Und, was macht man mit Irren?“
„Man steckt sie ins Irrenhaus!“
„Es ist doch klar“, sagte der Lehrer, „der Täter ist psychisch krank. Und solche Leute müssen therapiert werden.“
Auf dem Pausenhof wurde weiter diskutiert, die Meinungen prallten aufeinander.
„Wenn mir der Pferdekiller begegnen würde …“, Leon stieß die Faust nach vorn, „würde ich ihn abstechen! Den würde ich genauso abstechen wie er das Pferd abgestochen hat!“
Leon, mit seinen vierzehn Jahren nicht Klassenbester, aber bei Raufereien immer dabei, stets der Draufgänger, der Macher, wenn es galt, Streiche auszuhecken, Lehrer zu nerven, Abenteuer zu planen. Wenn es nicht gerade um Mathematik ging, war er der Größte, der besonders im Sport den anderen was vormachte.
Leon sah zufrieden um sich. Er hatte seinen Kreis an Zuhörern gefunden.
„Daheim habe ich ein Fahrtenmesser, echt geklaut, scharf wie eine Rasierklinge, - so lang!“, er zeigte mit den Händen einen halben Meter an, „ … mit Blutrille! Und Lederscheide, echt Leder, Büffelleder vielleicht!“ Die anderen umringten ihn in stiller Bewunderung. Putin, das war ein Kerl! Schon sein Spitzname. Wie ein Faustschlag. Mit Putin wollte sich keiner anlegen. Respekt, Ehrfurcht und ein bisschen Angst sprachen aus ihren Augen. Cheese, mit richtigem Namen Lukas, zartgliedriger Architektensohn, sah stolz zu seinem Freund auf.
„Wenn er vor dir steht, kneifst du!“, behauptete Nackter Bär, der etwas abseits stand. Nackter Bär hatte sich seinen Spitznamen eingefangen, als er, der schmächtige Neue, auf dem Pausenhof geringschätzig angeredet worden war und konterte: „Noch nie mit einem nackten Bär gerungen?“
Putin brauste auf: „Ich kneife? Vor diesem Verbrecher? Nein, dazu braucht es nur Mut, verstehst du? Weißt du, was Mut ist? Ich will es dir sagen: Angst überwinden. Angst, einem Verbrecher gegenüber zu treten, im Wald, bei Nacht!“ Putin sah in die Runde, und als niemand widersprach, sagte er leise, fast flüsternd: „Ich wüsste da eine Mutprobe, ein großes Ding, sage ich euch.“
Schweigend hingen sie an seinen Lippen.
„Mehr verrate ich nicht. Wer macht mit?“
Cheese traute sich: „Wann und wo?“
Putin überlegte. „Morgen, Mitternacht, am Friedhofs-Parkplatz.“
Die Jungs waren beeindruckt, suchten aber Ausflüchte.
„Nachts ist es doch dunkel.“
„Zur Geisterstunde auf dem Friedhof?“
„Ich darf nachts nicht weg.“
„Wie soll ich das den Alten beibringen?“
„Angsthasen! Ich nehme natürlich eine Taschenlampe mit. Cheese, was ist mit dir?“ Lukas hatte großes Vertrauen zu seinem starken Freund, und er konnte unkontrolliert entkommen. Sein Zimmer in der elterlichen Villa lag unten und er wusste, wo der Hausschlüssel hängt.
Lukas reckte sich und sah in die Runde. „Ich bin dabei!“
„Sonst keiner?“
Schweigen, den Blick auf den Boden gerichtet, die Hände in den Taschen vergraben.
„Feiglinge!“ Leon drehte sich um und ging, Lukas folgte ihm.
Einer schob seine Kappe zurecht, ein anderer zog sein Smartphone heraus, der nächste kratzte sich am Bein, und Nackter Bär sagte: „Was soll uns so eine Mutprobe bringen?“ Einige nickten betreten.

Als Kommissar Struck das Dienstgebäude betrat, wurde er vom Beamten in der Eingangsschleuse gewarnt: „Für Sie ist etwas abgegeben worden, sieht nicht harmlos aus.“
„Was soll das schon wieder?“ Struck schob mürrisch die Klarsichthülle mit dem Metallteil auf seinem Schreibtisch zur Seite. Er hatte sich vom Laden gegenüber warmen Kartoffelgratin geholt. Mittagspausen waren eben Pausen und keine Dienstzeit. Da wollte er weder ein Beweisstück noch eine Akte noch seine Kollegen in der Kantine sehen. Da war er konsequent.
Das Besteck verstaut, um es daheim zu spülen, nahm er sich anschließend umso aufmerksamer dieses andere Metall vor, suchte einen Zollstock aus den Schubladen und notierte: „Monierstahl, acht Millimeter Durchmesser, Gesamtlänge 800 Millimeter, ein Ende spitz zugeschliffen, das zweite zum Griff gebogen …“ Er legte Stift und Notizbuch auf den Schreibtisch und inspizierte das Eisen. Die schwarze Kruste von der Spitze bis etwa 500 Millimeter könnte … Was könnte das sein? Farbe? Teerprodukt? Blut? Eingetrocknet? Er hatte sich aufgrund seiner Erfahrung abgewöhnt, zu schnell zu urteilen. War es überhaupt eine Waffe oder ein Werkzeug eines ihm noch unbekannten Handwerks? Und wenn es eine Waffe war, warum war sie so lang? Von der Haut bis zum Herzen sind es sieben Zentimeter, beim Menschen.
Beim Menschen! Struck erfasste ein kalter Schauer. War das Opfer kein Mensch?
Er stürmte ins nächste Zimmer. „Wer hat dieses Ding hier abgegeben?“
Der Kollege sah von der Zeitung auf. „Ein Mann mit Hund, vor ungefähr einer Stunde. Er hat dieses Eisen angeblich auf der Straße gefunden. Ist ihm aufgefallen, weil sein Hund nicht davon wegzubringen war. Hier sind Name und Adresse. – Sollten wir das Ding ins Labor bringen?“
„Später!“
Struck stieg mit der Eisenstange in den Dienstwagen.
Was war damit geschehen? War es das Werkzeug eines Schlachters? Nein, Rinder werden doch mit einem Bolzenschuss getötet und Schweine mit der Starkstromzange, soweit er wusste. Außerdem sah diese Stange nicht professionell aus, eher wie in einer Hobbywerkstatt zurechtgebogen und –geschliffen. Eindeutig eine Stichwaffe. Gab es da nicht eine Anzeige wegen eines Pferdemörders? Aber schon jetzt einen Zusammenhang zu sehen, war für ihn zu früh. Struck war vorsichtig.
Aber warum hat die Stange auf der Straße gelegen? Ein Täter versteckt doch die Waffe und verliert sie nicht wie ein Taschentuch!
Unter der angegebenen Adresse war niemand daheim. Beim Nachbarhaus erschien eine ältere Dame an der Haustür mit Lockenwicklern im dürftigen Haar. Als Struck sich vorstellte, den Spieß präsentierte und fragte, ob sie das Ding irgendwo gesehen hätte, erfuhr er nur ein Zusammenschlagen der Hände und ein erschrecktes „Ogottogott!“. Und auf seine Nachfrage wieder „Ogottogott!“ und nichts weiter.
Struck bimmelte geduldig bei zwei weiteren Häusern. Beim fünften öffnete eine gut aussehende Frau, sportlich, dunkelhaarig. Struck grüßte freundlich und stellte sich vor. Nein, sie hatte die Stange nie gesehen, und ihr Mann käme erst gegen Mittag, aber „warten Sie, ich hole unseren Sohn, der tobt mit seinen Freunden fast jeden Tag durch die Straßen.“
Sie ging ins Haus zurück und kam mit ihrem Jungen wieder, etwa zehnjährig. „Ein aufgewecktes Kind“, dachte Struck, als die Mutter ihn vorstellte: „Unser Tim, der kennt sich in der Umgebung bestens aus.“
„Hast du diesen Stab mal gesehen?“, fragte Struck ihn.
Tim nickte. „Ja, damit haben wir gestern gespielt.“
„Mit sowas spielt man doch nicht“, belehrte ihn die Mutter.
„Doch, wir haben Ritter gespielt und gefochten, haben aber nicht richtig zugestochen.“
„Und dann habt ihr ihn auf der Straße vergessen.“
„Ja, wir haben dann Verstecken gespielt.“
„Woher hast du diesen Stab?“, fragte Struck.
Tim sah fragend zu seiner Mutter hoch.
„Tim, der Mann ist von der Polizei. Du musst schon ehrlich antworten. Hat das ein Freund angeschleppt? Hast du es in einem Nachbargarten oder auf dem Müll gefunden?“
Struck ging in die Knie. „Nun, Tim, heraus mit der Sprache: Wo hast du das gefunden?“
Tim gab sich einen Ruck.
„In Papas Zimmer.“

Ihr kennt mich nicht. Ich bin weit weg von euch und suche doch eure Nähe, bin ein Mensch wie jeder andere, nichts ist ungewöhnlich an mir.
Oder? Ist es ungewöhnlich, sich in der Natur wohlzufühlen? Tierlieb zu sein? Von diesen herrlich stattlichen Wesen begeistert zu sein? Dazu stehe ich, und das ist für mich etwas ganz Normales.
Ich liebe diese Tiere, die auf der Straße der Evolution von hundeähnlichem Wuchs zu majestätischer Größe herauf galoppiert sind.
Sie wurden von den Germanen geheiligt, haben die Bogenschützen Dschingis Khans nach Westen getragen, Kampfwagen und Kanonen und endlich auch Pflüge und Erntewagen gezogen.
In diesen lauen, geheimnisschwangeren Sommernächten, in denen der Duft der Wiesen nicht schlafen geht, wo ein Blütenmeer auf den Morgen wartet, um seine tausend Kelche wieder öffnen zu können, wo Inseln warmer und kühler Luft abwechseln, da eile ich zum Gehöft, mich zieht es zum Stall, wo Geschöpfe mit gesenkten Köpfen und angezogenem Hinterlauf träumen.
Schweifschlagend und hufstampfend stehen sie da im Bewusstsein ihrer Kraft. Für Fliegen und Bremsen haben sie nur ein nichtiges Fellzucken übrig. Seht nur den fellglänzenden Leib, auf dem Adern hervortreten wie lebendes Gezweig, in dem ein Herz hämmert, in dem sich Lunge, Milz und Leber verbergen und die Schlingen des Gedärms.
Seht das Kopfnicken, das elegante Tänzeln.
Habt ihr je gehört, wie sie sich mit herausforderndem Schnauben und lebenslustigem Wiehern zum Galopp ermuntern? Habt ihr sie galoppieren sehen? Den wilden Tanz, die geblähten Nüstern, die rollenden Augen, in denen das Weiße aufblitzt, die auf und ab wehenden Mähnen, das kecke Schweifschlagen, das harmonische Wechselspiel der Läufe, die ästhetisch koordiniert durch die Luft greifen wie von einem göttlichen Choreografen einstudiert, das Schwellen und Erschlaffen der Muskeln, das Trommeln der Hufe, das den Grund erzittern lässt?
Spürt ihr die Wucht der fliegenden Leiber?
Aber glaubt mir meine Unschuld! Ja, unschuldig bin ich wie ein Kind. Man kann mir nichts vorwerfen.
Es ist Nacht, das Tageslicht weit weg, der Lärm des Pausenhofs weit weg.
Höre, Himmel über mir, hört, ihr Sterne da oben, hier ist Laokoon, ich habe die Schlangen im würgenden Griff, die schleimigen, blutigen, die zuckenden, sterbenden. Gottgleicher Moment blutiger Lust, blendend und kraftvoll, machtlos zugleich.
Ich verliere die Zeit. Wie entkomme ich diesem Gedärm, diesem Bauch, dem blutigen Bad?
Die Lust klingt ab, mein Rühren lässt nach, Laokoon hat gesiegt, befriedigt steige ich aus, erschöpft, sehe mich um, - ich bin allein. Schleim und Blut auf der Haut kühlen. Ich ziehe das Eisen aus dem Fleisch und gehe schweigend davon, ein dunkler, rächender Gott.
Ihr kennt mich noch nicht.

„Versteh´ doch, ich muss nach dir sehen, muss den Verband wechseln und nach der Wunde sehen.“
Keine Regung.
„Die Wunde oder die Naht könnten sich entzünden. Hast du Schmerzen? Ich will dir doch helfen. Ich tue dir bestimmt nicht weh!“
Im Bett hätte ein Ziegelstein liegen können oder ein Kartoffelsack. Nicht einmal das Atmen war an einer Bewegung der Bettdecke zu sehen. Er musste aber dort liegen, die Decke war aufgebeult. Die Ärztin wusste nicht mehr, wie sie ihn zu einer Reaktion bringen konnte, machte aber einen letzten Versuch: „Brauchst du etwas oder wünschst du dir etwas? Ein Buch? Ein Spielzeug?“
Sie wandte sich zur Tür, um einen Krankenpfleger als Verstärkung zu holen. Eine Kontrolle des Verbands war notwendig, sie rechnete aber mit körperlichem Widerstand.
Es klopfte. Und als die Ärztin die Tür öffnete, sah sie sich einer sportlichen dunkelhaarigen Frau gegenüber, blass, ungeschminkt und mit besorgter Miene.
„Ist mein Sohn hier? Ich bin die Mutter des Jungen, der hier vor Kurzem eingeliefert wurde.“ Die Ärztin trat zur Seite und wies wortlos auf das Bett mit dem Kissenberg. Die Mutter ging an die Bettseite und wischte mit dem Taschentuch über ihre Augen.
„Timmy, ich bin´s. Was machst du nur für Sachen?“ Sie versuchte mütterliche Wärme in ihre Stimme zu legen. „Ich bin so traurig. Komm, du musst dich nicht verstecken!“
Die Kissen bewegten sich. Langsam traute sich ein Kopf aus der Deckung, und die Augen suchten Gewissheit, dass die Ärztin verschwunden war. Als der Junge seine Mutter sah, konnte er die Tränen nicht mehr halten. Er weinte drauflos. Auch der Mutter wurden die Wangen nass. Sie beugte sich hinunter und drückte ihren Sohn.
Als sich beide beruhigt hatten, fragte Tim unter letztem Schluchzen: „Kommt Papa ins Gefängnis?“
„Aber nein! Wie kommst du nur darauf? Du bist ganz durcheinander.
Mein Junge, welch ein Glück, dass wir dich noch haben. Du hättest verbluten können.“ Die Mutter trocknete Tims Tränen und küsste ihn auf die Stirn.
„Wie kommst du nur darauf, dir die Pulsader aufzuschneiden?“
Tim sank in die Kissen zurück und sah zur Seite.
„Das habe ich mal im Internet gesehen.“
„Wir hatten so viel Angst um dich. Wie konntest du nur so etwas tun? Wie hast du das gemacht? Mit einem Küchenmesser? Mit einer Rasierklinge?“
Er zögerte.
„Mit einem Messer.“
„Mit welchem Messer? Woher hast du es?“
„Aus Papas Zimmer. Es lag hinter den Schulbüchern im Regal, wie die Eisenstange.“
„Und was hast du dir dabei gedacht? Warum hast du das getan?“
„Wegen Papa.“
„Wegen Papa?“
„Ich habe ihn verraten.“
"Wieso denn das?"
"Zwischen den Schulbüchern waren auch Fotos."
"Fotos? Was für Fotos?"
"Von Pferden, von verletzten Pferden."
Wieder weinte er und verschwand in den Kissen.

Zwei Radfahrer kurvten auf den Friedhofs-Parkplatz. Die Nacht tauchte das Tal unterhalb des Todesackers in Dunkelheit. Der bleiche Mond zeigte scharfe Zacken. Zwei Gestalten gingen im feuchten Gras unter krüppligen Obstbäumen den Hang hinab.
„Putin, was soll der Unsinn?“ Lukas blieb stehen. „Morgen verschlafen wir. Und dann kommen wir zu spät zur Schule!“
„Na und?“ entgegnete Leon, „Mathe, Physik, Geschichte, - Unsinn. Stell dir vor, wir reiten bei dunkler Nacht, wer hat denn so was schon mal erlebt? Und du bist dabei. Da kannst du gern mal auf Geschichte verzichten.“
„Reiten könnte ich auch am Tag!“
„Hast du Angst? Gib zu, du hast die Hose voll. Du wolltest doch wissen, ob Pferde beim Schlafen stehen oder liegen. Jetzt kannst du es erfahren!“
Lukas schwieg und folgte Leon, bis sie die Rückwand des Reiterhofs erreichten. Hier kletterten sie eine alte Kastanie hoch, hangelten an einem Ast weiter, bis sie auf dem Dach zur Luke des Stalls hinüber steigen konnten. Scharfer Geruch stieg hoch. Die Pferde schnaubten.
„Hier drunter ist Heu!“, flüsterte Leon, „da landen wir wie in einem Federkissen. Garantiert. Ich hab´s probiert, am Tage. Jetzt ist Mutprobe!“
Leon stieg durch die Luke, ergriff eine Dachlatte und ließ sich baumeln. „Sei kein Feigling“, ermahnte er, „wenn du nicht springst, kriegst du den Frack voll!“
„Ich komme nach“, meldete Lukas kleinlaut.
Leon ließ sich fallen.
Lukas hörte aber nach der Sekunde des Falls nicht das Rauschen des Heus. Eher ein Klatschen, als wäre er in Morast gefallen. Dann ein Brummen wie von tausend Fliegen, und Leon schrie, wie es Lukas noch nie gehört hatte. Angst, Entsetzen, Ekel. Alles war in diesem Schrei.
„Putin, was ist?“, rief Lukas in die Dunkelheit. Einige Momente ohne Antwort, nur ein Stöhnen drang herauf, als ob jemand Schreckliches durchmacht.
Endlich meldete sich der Freund aus der Tiefe. „Das ist alles nass, alles klebrig, alles glitschig, alles weich, und es stinkt.“
Lukas verzichtete auf seine Mutprobe und hörte, wie Leon unten stöhnend an der Wand entlang tastete. „Hier ist doch irgendwo der Lichtschalter.“
Neonlicht flackerte auf. Lukas, der auf den Dachziegeln kniete, kippte um, hatte Mühe, nicht durch die Luke zu stürzen, lag flach auf den Ziegeln und würgte.
Unten im Heu lag ein Pferd, der Leib aufgeschlitzt, Gedärme und andere Innereien heraus gerissen. Leon, sonst hartgesottener Draufgänger, stand zitternd mit offenem Mund neben dem Kadaver, die Kleider durchtränkt mit klebrigem Blut, umschwärmt von Fliegen.
Leon rührte sich wieder, fand eine Leiter, mit der er zur Dachluke zurück stieg. Lukas lag immer noch ausgestreckt auf den Ziegeln.
„Weg hier!“ presste Leon zwischen den Zähnen hervor, und sie stiegen den Baum hinunter. Das kalte Blut klebte an den Beinen. „Du kannst so nicht heim“, sagte Lukas, „wir müssen zum Bach und alles waschen.“
Lukas ging voran zum Grund hinunter, wo sie einen Bachlauf wussten.
Er drehte sich zu Leon um.
„Putin, was machen wir, wenn deine Kleider nass sind?“ Der Mond schien durch eine Wolkenlücke.
Leon weinte.
 



 
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