Mutter

Angelehnt an den gleichnamigen Hit von Rammstein.

Das Forschungslabor war seiner Zeit extrem weit voraus. Das hatte sehr gute Gründe. Das Laboratorium wurde von der Regierung geplant und in Auftrag gegeben. Die beteiligten Architekten, Ingenieure und Baufirmen wurden mit horrenden Bestechungsgeldern zum Schweigen verpflichtet. Und die Kosten für den Bau waren ebenfalls egal. Es wurden nur die Besten der Besten ausgewählt. Genauso war es auch mit den Kosten für die verbotenen Experimente. Die Mitarbeiter fragten an und das Geld wurde zur Verfügung gestellt. So viel Geheimnis musste natürlich auch neugierige Reporter und anderes Gesindel anlocken. Um jedoch Aufsehen zu vermeiden, ergo um auf Mord zu verzichten, weil das mit der Zeit auffällig wäre, bedachte man auch diese Personen mit hübschen Schweigegeldern. Bis zu dem Tag, als das Labor vernichtet wurde, hat das auch immer funktioniert. Damit sich das Labor trotzdem finanzieren konnte, verkaufte man die Ergebnisse, wenn diverse Experimente erfolgreich verliefen, an Paramilitärs und diktatorische Staaten. Man musste aber sehr sorgfältig auswählen, was man veröffentlichte. Schließlich musste man vermeiden, dass irgendwo in einen anderen Land eine Armee aus den Boden gestampft wurde, die man nicht mehr einfach so überrennen konnte, beziehungsweis gegen die man sich nicht mehr verteidigen konnte.

Die Experimente, die dort durchgeführt wurde, hätten Moral, Ethik und Nutzen in der Zivilbevölkerung nicht einen Moment standgehalten. Nach der Zerstörung des Labors munkelte man zum Beispiel davon, dass dort ein Erreger, den man HIV nannte, entwickelte wurde und der durch einen Unfall die Öffentlichkeit erreichte. Das war selbstverständlich Unsinn. Es war natürlich kein Unfall. Es war so gewollt.

Für Experimente ohne Moral, Ethik und Menschlichkeit, wie die mit dem HI-Virus, brauchte man zwangsläufig auch ebensolche Mitarbeiter. Idealerweise hatten diese eine gute Ausbildung, hatten weder Familie noch Freunde und in ihren aktuellen Job – wenn sie einen hatten – wären sie leicht zu ersetzen. Wurde eine Auswahl getroffen, wedelte man mit einen dicken Geldscheinbündel und einer Verschwiegenheitserklärung. Diese Methode funktionierte gut und es gab nur wenige Fälle, in denen Mitarbeiter plötzlich Skrupel bekommen haben und Presse oder Polizei informieren wollten. Jedoch wurden alle sehr gut überwacht, gleichgültig ob er ein Quartier auf den Forschungsgelände hatte oder eine eigene Wohnung. Und jemand, der erwischt wurde, diente als Material für das nächste Experiment. Bald hatte sich das Problem dann aufgelöst – nicht immer nur im sprichwörtlichen Sinne.

Wahrhaft, Luzifer selbst muss sich sehr wohl fühlen in diesem rechts- und moralfreien Labor. So hätte es immer weitergehen können, doch Luzifer war natürlich nicht der einzige Mitspieler. Sein strahlendes Gegenstück hatte natürlich Interesse daran, diesen Ort zum Schweigen zu bringen. Dann konnte sich Luzifer gerne auch an den verlorenen Seelen laben. Wie aber sollte es vonstattengehen? Aus dem Fegefeuer holte Gott also einer der vielen gefallen Engel. Sie waren nicht von Grund auf böse, sondern sie büßten für Taten, die sie aus der Verzweiflung heraus getan haben, trotz des Wissens, das diese Taten verwerflich waren.

Jenen einen Engel gab er den Namen Antimensch und schickte ihn zur Erde mit dem Auftrag das Labor und alle gottlosen Wesen, die dort wandelten, zu vernichten. Als der Antimensch bat, seine zukünftige biologische Mutter zu begnadigen, gewähre ihr Gott einen Platz an seiner Seite sowie seine Rückkehr in die Himmel. So war er's zufrieden und entfernte sich, um seinen Auftrag zu beginnen.

Seine Aufgabe begann zu dem Zeitpunkt, als sich eine Laborantin verbotenerweise mit einem Mann vereinte. Ein Frevel, da er nicht zum Labor gehörte und eventuell eine Schwachstellte darstellen konnte. Nach vollzogenem Akt flüsterte der Antimensch seiner zukünftigen Mutter den Verrat ein und dem Mann, mit dem sie sich vereint hatte, gewährte er Bilder von schrecklichen Ereignissen, die ihn verzweifeln ließen. Er tobte und schrie, verletze gar die Verräterin und sprang, wie Gott ihn schuf vom Balkon des Hochhauses. Doch leider endete sein Schrecken damit noch nicht. Denn kaum im freien Fall klarte sein Verstand auf. Da war es aber bereits zu spät. Seine Mutter musste alles mit ansehen und verfiel in einen Schock. Eine Gefahr für den Antimenschen, doch Gott hielt schützend seine Hand über sie und ihn.

Der Selbstmord musste Aufsehen erregen. Nicht nur die Presse war schnell vor Ort sondern auch die zwei loyalsten Mitarbeiter des Labors, getarnt als Sanitäter. Unter den Vorwand, nach dem Gesundheitszustand der Frau zu sehen, bekamen sie Zutritt zur Wohnung. Mit flüssigen Hypnotika täuschten sie den Tod der Frau vor und gaben an, sie für die Obduktion ins Krankenhaus zu schaffen. Dort kamen sie natürlich nie an. Das warf Fragen auf und erst, nachdem wieder eine große Menge Geld geflossen war, interessierte sich die Presse plötzlich nicht mehr für den Fall. Fünf Jahre später würde natürlich kein Geld mehr helfen um die Tragödie zu vertuschen.

Es war ungefähr eine Woche nach der Tragödie. Die Regierung verlangte nach einen neuen Experiment bezüglich der Fähigkeit, sehr lange Zeit ohne Sauerstoffgerät unter Wasser zu bleiben. Es sollte also ein Mensch erschaffen werden, der gleichermaßen an der Luft und im Wasser atmen konnte. Das passende Objekt hatte man schon gefunden. Die Verräterin wurde – so wie von Gott gewollt – in der Nacht, als der Mann vom Balkon sprang, schwanger. Zurück im Labor wurde sie zunächst gründlich untersucht und dann in eine Zelle gesperrt. Man behandelte sie gut, denn es war wichtig, dass sie fit war für das Experiment. Dann wurde sie abgeholt. Ma entkleidete sie und schnallte sie auf einen gynäkologischen Stuhl fest. Es war die Strafe für den Verrat. Ein Entkommen war ihr nicht möglich. Eine Maschine überwachte ihre Vitalparameter. Von einer Ärztin wurde ihr sodann eine graue Flüssigkeit in die Gebärmutter injiziert. Die Mutter mochte nicht zu sagen, was es war, doch der Antimensch spürte, dass seine Entwicklung nun beginnen würde. Der Vorgang selbst war sehr schmerzhaft und die Probandin stöhnte auf. Danach ließ man sie für viele Stunden alleine. Ohne Nahrung, ohne Flüssigkeit.

Ihr Unterleib und ihre Haut brannten und sie hatte das Gefühl, das sie nur schwer Luft bekam. Zuviel, um endlich zu sterben, zu wenig, um ihren Verstand vor Trugbildern zu schützen. Sie hatte die Vision eines riesigen Menschen. Seine Haut war grau. Er war scheinbar vollkommen gefühllos. Weder böses noch gutes konnte sie an ihm spüren. Er hatte große Augen, keine Nase, einen kleinen Mund und am Hals etwas, was Kiemen sein konnten. Der Nabel, der jedem Menschen eigen war, fehlte. Seine Arme waren äußert muskulös, genauso wie seine Beine, mit denen er scheinbar endlos laufen konnte. Das Wesen flüsterte ihr ins Gedächtnis und mit Entsetzen sprach sie: "Du bist ein Antimensch." So wurde sein Name erstmals ausgesprochen und das Schicksal konnte weiter seinen Lauf nehmen.

Wann ihre Kollegen den kahlen Raum wieder betraten, konnte sie nicht sagen. Zwischenzeitlich muss sie wohl das Bewusstsein verloren haben. Rechts neben ihr stand eine Art Brutkanister, gespickt mit medizinischen Messgeräten und gefüllt mit einer grauen Flüssigkeit, möglicherweise derselben, die man ihr in die Gebärmutter injiziert hatte. Erneut wurde ihr eine Spritze eingeführt. Diesmal hatte die Spritze den Zweck, die winzige Eizelle zu entnehmen, die im Begriff war, in ihr zu einem Lebewesen heranzuwachsen. Behutsam wurde der Inhalt der Spritze dann in den Brutkanister platziert.

Einige Minuten herrschte Schweigen. Würde alles so funktionieren, wie es sollte? Der Antimensch wusste, dass es funktionieren würde, doch er durfte es sich erlauben, diese empathielosen Menschen für eine Weile im ungewissen zu lassen. Selbst seine Mutter starrte auf die medizinischen Geräte, ungeachtet ihrer Erschöpfung und Schmerzen. Dann, nach einer gefühlten Ewigkeit, begannen die Geräte aufzuzeichnen. Es hatte funktioniert. Das Lebewesen würde da drinnen heranwachsen.

"Sprich meinen Namen aus!" flüsterte der gefallene Engel seiner Mutter zu und die gehorchte. "Es wird ein Antimensch. Er wird sich grundsätzlich von uns unterscheiden." Nach einigen zögern sprach sie dann noch: "Er wird uns richten!" Hier nun verbot er ihr jedes weitere Wort, doch nahm man sie ohnehin nicht mehr wirklich ernst. Nur eines gewährte man ihr: "Wenn du ihn Antimensch nennst, so soll er auch so heißen."

Die leidgeprüfte Frau wurde nun von ihren Fesseln befreit. Man brachte sie in den Waschraum, wo sie sich duschen durfte und neue, frische Wäsche bekam. Sie freute sich, die Leiden überstanden zu haben. Doch was war das? Für einen Moment, und es war ein Moment, der ihr schreckliche Angst machte, hatte sie den Eindruckt, das der winzige Embryo noch in ihr weilte. Und als sie sich genauer betrachtete, stellte sie fest, dass ihre Haut stellenweise grau und leicht brüchig wurde. Sie war davon überzeugt, dass die Flüssigkeit, die man ihr gespritzt hatte, für die Reaktion verantwortlich sein musste. Ohne, dass sie ihren Sohn direkt wahrnahm, flüsterte er ihr erneut zu. "Kümmere dich nicht um die Veränderungen. Deine Zeit ist erst vorbei, wenn ich frei bin und das Labor zerstört habe."

Blass, zitternd, mit leeren Magen, aber wenigstens mit frischer Wäsche, verließ sie die Waschräume. Sie wurde wieder in ihre Zelle geführt, die inzwischen wohnlich eingerichtet war. Denn man würde sie nun genauso wie ihren Sohn für eine lange Zeit beobachten. Besänftig von der Stimme, die ihr fremd und trotzdem vertraut vorkam, legte sie sich hin und schlief ein. Ihr Schlaf währte lang und war traumlos.

Wochen und Monate flossen ins Land dahin, in den Mutter und Sohn nicht aus den Augen gelassen wurden. Bald fand man heraus, was die undefinierbare Flüssigkeit, die sie ihrer treulosen Mitarbeitern injiziert hatten, für Wirkung hatte. Zum einen bildete sie eine Art natürlichen Schutzschild um den Antimenschen, der die Haut ersetzte. Für ein Fötus war er außerordentlich schmerz- und schadensresistent. Wird er später mit konventionellen Waffen nicht mehr zu töten sein? Man träumte davon, insofern diese Überlegung sich als richtig herausstellte, das neue Mittel an den Soldaten des Landes zu testen. Eine unverwüstliche Armee würde dafür sorgen, dass sich jedes Land auf diesem Planeten unterwerfen müsste, wollte es nicht überrollt werden. Kapitulierten sie friedlich, würden sie als Lohn natürlich dasselbe Mittel erhalten.

Eine weitere erstaunliche Fähigkeit, die diese empathielosen Forscher zu tage förderten: dem Antimenschen wuchsen Kiemen. War er in den ersten Monaten noch vierundzwanzig Stunde am Tag auf den Beatmungsschlauch in seiner Kehle angewiesen, so stellte man später Anzeichen fest, dass ihm der Schlauch eher lästig war. Es begann mit wenigen Sekunden. Später hatte der Antimensch durch seine Kiemen die Fähigkeit, mehr als eine Stunde ohne den Beatmungsschlauch auszukommen. Ob diese Entwicklung aber auch beim ausgewachsenen Menschen eintreten würde, darf bezweifelt werden. Egal, Hauptsache kugelsicher.

Und durch die Beobachtung von Mutter und Tochter stellte man noch etwas anderes fest: beide kommunizierten womöglich miteinander. Je mehr der Sohn heranwuchs, umso häufiger. Man maß ihre Gehirnströme und die des Antimenschen und die Vermutung stellte sich als richtig heraus. Leider stellte man aber auch eine Nebenwirkung fest. Sie konnte die unzerstörbare Armee ins Wanken bringen. Bei der Mutter hatte das Mittel nämlich eine andere Wirkung. Es raubte ihr die Kräfte. Der Sohn wuchs sehr schnell heran und im selben Tempo altere aber scheinbar auch die Mutter. Gab sie ihre Kraft an den Antimenschen ab. Diente die Kommunikation für ihn auch als Nahrungsaufnahme? Bereits nach etwas mehr als einhundert Tagen galt er als lebensfähig. Wenn man ihn gelassen hätte. Doch man ließ ihn natürlich nicht frei. Er bekam lediglich einen größeren Behälter zugewiesen, aus panzersicherem Glas, um ihn noch besser beobachten zu können.

Als die weitrechenden Untersuchungen abgeschlossen wurden, durfte die Verräterin wieder an die Arbeit gehen, solange sie dazu noch in der Lage war. Sie unterwarf sich auch erwartungsgemäß und bald durfte sie wieder kleinere Experimente leiten. Mehr war ihr nicht mehr möglich. Eines Tages brach sie zusammen. Man versorgte sie so gut es ging medizinisch. Sie erholte sich auch wieder, doch von diesem Tag an war sie auf eine Gehhilfe angewiesen. Später wurde aus der Gehilfe ein Rollstuhl und die Schwäche nahm weiter zu. Auch ihre Haut baute natürlich ab. Flächendeckend war sie grau und brüchig. Die Haare fielen ihr aus und das Atmen fiel ihr immer schwerer.

Natürlich war es für sie kein Grund untätig zu bleiben. Schnell entwickelte sie Muttergefühle für den Antimenschen, denn schließlich war sie es ja auch. Und damit hatte der Antimensch den nächsten Schritt zur Vernichtung absolviert. Seine Mutter würde ihm dabei behilflich sein, aus dem Labor zu entkommen. Inzwischen war sie auch darüber im Bilde, was geschehen würde, wenn sich ihr Sohn, der Antimensch, aus dem flüssigen Gefängnis befreien würde. Und bereitwillig schilderte sie ihm den Aufbau des Labors, die Mitarbeiter und deren Funktionen. Nur auf die Frage, wie sie selbst sterben würde und ob nach den Tod noch etwas anderes folgt, antwortete ihr Sohn ihr niemals.

So zogen insgesamt fünf Jahre ins Land. Der Antimensch war nun ausgewachsen und die Zeit nahte, diesen gottlosen Ort zu zerstören und zu verlassen. Die Begebenheiten konnten nicht besser sein. Er war zu einen Riesen von drei Metern herangewachsen. Seine graute Haut war härter als Stahl. Seine Fingernägel glichen eher fürchterlichen Krallen und hatten mit Sicherheit die Widerstandsfähigkeit seiner Haut. Seine Fähigkeit, unter Wasser zu atmen, legte noch einmal zu. Den Beatmungsschlauch benutzte er kaum noch. Und obwohl er keine Angst verspüren konnte, wurde er unruhig. Das stellte man natürlich auch im Labor fest. Man ignorierte es allerdings. Seine Mutter jedoch, inzwischen eher einer 90-jährigen Frau als einer jungen Frau Mitte Dreißig ähnlich, taub und mit einer mobilen Beatmungsmaschine, spürte die Veränderungen und sie sehnte sich nach ihrer baldigen Erlösung.

Dann war es soweit. Gott gab dem gefallenen Engel nach einer gefühlten Ewigkeit endlich den Befehl, das Labor zu vernichten und damit seine Schuld zu sühnen. Und der gefallene Engel nahm Kontakt mit seiner Mutter auf. Und er spürte auch eine böse Energie im Labor. Scheinbar hatte sich selbst Lucifer eingefunden und es gierte ihm nach den Seelen, die er gleich ernten durfte. Nur die Mutter des Antimenschen durfte er nicht für sich vereinnahmen. Daran wollte er sich auch halten, allerdings nur, weil er Angst vor den heiligen Herrn hatte.

Die Mutter jedenfalls vernahm die Bitte ihres Sohnes, die da sehr einfach war. Sie musste im Laborraum, in dem er gefangen gehalten wurde, Alarm auslösen. Mehr war es nicht, den Rest sollte sie ihm überlassen. Unter dem deformierten Gesicht der Frau, die vor ein paar Jahren noch jung und schön war, konnte man ein Lächeln erahnen. Sie schaffte es irgendwie mit ihrem Atemgerät in den Rollstuhl. Über den Weg gab es keine Zweifel. Sie mochte verbraucht sein, doch ihre Erinnerung durfte sie behalten. Als sie ankam und ihren Sohn erblickte, lächelte sie. Ihre Blicke trafen sich und sie freute sich wie eine Mutter, die ihr Neugeborenes zum ersten Mal in den Arm nehmen durfte.

Sie musste auch nicht lange überlegen, wie sie den Alarm auslösen konnte. Sie schaltete schlicht und ergreifend die Lebenssysteme im Tank ab. Sie wusste, dass ihr Sohn das lange aushalten konnte, doch die Forscher und das Sicherheitspersonal waren alarmiert. Im Labor angekommen, wunderte man sich über die Anwesenheit der Mutter. Das reichte dem Antimenschen, um die beiden Männer vom Sicherheitsdienst zu manipulieren. Der eine sollte die Türen zum Labor schließen, der andere sollte sein ganzes Magazin auf den Tank feuern. Das ging alles so schnell, das niemand hätte reagieren können. Das Glas zerbarst unter der Masse der Kugeln und der gefallene Engel war frei.

Man halte ihn nicht für undankbar. Sein Dankeschön für die Wachleute war ein schmerzfreier Tod, in dem er ihren Gehirnen den Befehl gab, sich abzuschalten. Was auch scheußlich gut funktionierte. Doch der Rest des Labors würde Schmerzen erleiden. Sie sollten so leiden, wie er fünf Jahre lang leiden musste. Und auch für den Frevel, den sie die Jahre zuvor verübt hatten, hielt er Gericht über sie. Die Experimentleiterin und ihre drei Assistenten waren schnell tot, sauber aufgeschnitten von oben nach unten. Er labte sich an ihren Schmerzen. Sie waren nur kurz, aber sie waren da. Und während Lucifer sich ihrer Seelen annahm, bahnte sich der Antimensch einen Weg durch den gesamten Komplex, immer dicht gefolgt vom Seelenernter.

Im Labor mit dem zerstörten Tank fiel seine Mutter indes in einen Tiefschlaf. Ihr Sohn würde sie schon wecken, wenn es soweit war.

Der Antimensch erledigte seine Arbeit schnell und zielgerichtet. Es ließ sich dabei natürlich nicht vermeiden, dass es von außen unbemerkt blieb. Möglicherweise war das ja aber auch so gewollt. Einer der nutzlosen Mitarbeiter gelangt die Flucht und bevor er außer Reichweite war, schenkte er ihm den Krebs. In wenigen Monaten wäre er tot und seine Seele in der Hölle. In dieser Nacht jedoch rannte er einfach nur in die Stadt und brüllte etwas von einen Monster. Es dauerte nicht lange und so standen vor den Toren des bald nicht mehr existenten Labors die Armee und die Reporter. Gerüchte und Fragen machten die Runde. Hier half auch kein hohes Bestechungsgeld mehr. Um vorwegzugreifen: nur wenige Stunden, nachdem die Ereignisse im Labor bekannt wurden und niemand eine vernünftige Erklärung abgeben wollte, musste die Regierung geschlossen zurücktreten. Wenig später brach im Land das Chaos aus und es dauerte, bis es wieder zur Ruhe kam.

Als der gefallene Engel seine Tat vollbracht hatte, ging er zurück in den Raum, in dem er fünf Jahre gefangen war. Er nahm seine Mutter in die Arme und spazierte einfach aus dem Labor heraus. Sein Ziel war ein Moor in der Umgebung, von dem ihm Gott erzählt hatte. Das Blutbad hatte ihn deutlich geschwächt, aber es spielte keine Rolle mehr. Es reichte noch aus, um die Menschenmenge zu manipulieren. So konnte er ohne Gegenwehr an ihnen vorbeischreiten. Erst als er mit seiner todkranken Mutter außer Sichtweite war, kam man am völlig zerstörten Labor wieder zu sich. Ohne Erinnerung an die eigenartige Begegnung. Auch Lucifer war nun zufrieden und kehrte mit den verloren Seelen im Schlepptau in seine dämonische Heimstatt zurück.

Das Gebiet um das Moor herum war ausgesprochen ruhig und friedlich. Er schaute in den Himmel und sah den Mond und die Sterne. Er spürte den weichen Boden unter den Füßen. Er sog die saubere und kalte Luft ein im Bewusstsein, das er noch in dieser Nacht die Erde verlassen würde.

Die Sauerstoffflasche der Mutter war jetzt fast leer. Auch wenn sie sehr sparsam damit umging und so häufig wie möglich selbstständig atmete, so würde sie den nächsten Tag dennoch nicht mehr erleben. Das wollte sie auch gar nicht. Sie schaute ihren Sohn an. Und der sprach zu ihr: "Im Himmel ist ein Platz für dich reserviert. Und auch ich werde dort sein. Gott hat es versprochen und er hält stets sein Wort. Er hat auch versprochen, das Laboratorium zu vernichten. Es war an den Tag, als ich gezeugt wurde."

Die kranke Mutter, aufgezehrt von den unmenschlichen Experimenten lächelte. Ihre Lippen bewegten sich. Der Antimensch, ihr biologischer Sohn, beugte sich zu ihr herab und er hörte sie leise flüstern: "Wie hat sich dieser Schlauch in deinen Hals angefühlt? Warum hast du dich nicht eher gewehrt?" Für diese zwei Fragen brauchte sie sehr lange. "Meine Aufgabe war die Zerstörung des Labors. Dafür musste ich allerdings erst kräftig genug sein. Aber auch, wenn ich lange Zeit durch das Wasser atmen kann, brauche ich doch von Zeit zu Zeit Sauerstoff." Er griff in das Wasser des Moors, angelte einen Aal, der gerade vorbeischwamm und hielt ihn seiner Mutter vor das Gesicht. Dann führte er selbigen in ihre Kehle ein. "So fühlt es sich an." Ein letztes Mal lächelte seine Mutter, dann verstarb sie.

Einen Moment blieb er regungslos. Seine Aufgabe war erfüllt. Auch seine Mutter, lange Zeit eine ergebene Mitarbeiterin des Labors, bis zu dem Tag, an den er in ihren Leib geschickt wurde, weilte nicht mehr unter den Menschen. Er blickte in das Wasser des Moores. Und zum ersten und letzten Mal sah er dort sein Spiegelbild. Ein Mal auf seiner Stirn fiel ihm auf. Es fiel ihm auf, weil seine Mutter dasselbe Mal auf ihrer Stirn hatte. Doch da sie nun tot war, benötige er es nicht mehr. Mit seinen Krallen schnitt er es sich aus der Stirn. Es dauerte, doch am Ende war auch das getan. Dann nahm er seine Mutter in seine kräftigen, langen Arme und lief direkt in das Moor. Das Blut lief ihn von der Stirn. Er musste weit hineingehen, bis das Moor ihn vollständig verschlang.

Angst verspürte er keine. Nur eine sehr große Ruhe. Er war auch nicht alleine. Seine Mutter war bei ihm. Und sobald er tot war, war sie ebenfalls wieder bei ihm. Sie wäre ihre Schmerzen los. Sie wäre wieder diese schöne Frau, die sie vor der Spritze war. Und ihre Gedanken waren wieder durchflutet von Licht statt von Schatten. Der Antimensch lächelte bei den Gedanken und Luzifer labte sich an den Seelen, die er ihm hinterließ. Licht und Schatten waren wieder im Gleichgewicht. Und wie er so lächelte, bemerkte er, dass die Gedanken nach und nach schwanden. Nach mehr als einer Stunde unter Wasser spürte er endlich, auch durch die Erschöpfung, das Ende nahen. Und als seine Kiemen zum letzten Mal Wasser zogen, war er bereits wieder bei seiner Mutter.

Niemand würde je dieses nasse Grab finden.
 



 
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