Lieber Patrick Schuler,
auf den ersten Blick ist es vor allem der letzte Abschnitt, der mich an deinem Gedicht begeistert. Die Verse
Nur das Licht
der Neonreklame
wagte
den Todessprung
in die
Pupille.
sind in meinen Augen große Klasse!
Die Deutung deines Gedichtes ist für mich dennoch nicht besonders einfach. Einige ungewöhnliche Wortkombinationen wie
Ave Maria Mühlchen müssen erst einmal geknackt werden. Aber der Reihe nach:
Es beginnt in einer
Stadt aus gesegnetem Stahl. Eine Alliteration, bestehend aus den Wörtern
standen,
Stadt und
Stahl strahlt dabei eine gewisse Härte aus, nur das Attribut
gesegnet scheint der Szenerie zunächst etwas Tröstliches zu geben. Vor meinem inneren Auge fügen sich die ersten Zeilen deines Gedichtes zu einem Bild einer modernen Kirche zusammen. Letztlich ein Kosmos für sich (
Stadt), in dem die Gläubigen ihren Ritualen (
wir standen auf) nachgehen.
Dies wird aber nicht wohlwollend oder neutral geschildert, sondern negativ bewertet. Der Lyrische Erzähler blickt in die Vergangenheit, vermutlich auf die Kindheit zurück, und bemerkt, dass
wir (eventuell ist damit die eigene Familie gemeint)
käuflich waren. Dies könnte bedeuten, dass man sich von der Religion für entsprechende Gegenleistungen wie z.B. Spenden ein Heilsversprechen erhofft, welches letztlich als
gekauft dargestellt wird.
In diesem Kontext wird die dritte Strophe des Gedichtes zur Anklage an die kirchliche Praxis:
Das Ave Maria Mühlchen
mahlte unermüdlich
unser Mutterkorn
Schuld.
Hier wird meiner Interpretation nach moniert, dass bereits den Kindern pausenlos das Narrativ der Erbsünde und damit ein Schuldstigma angelastet wird. Die darauffolgende Strophe enthält dann im Subtext die Hoffnung auf einen Ausweg aus diesem Weltbild, Realität aber wurde dieser nicht.
Der so beschriebenen Unterdrückung des eigentlich Lebendigen setzt der zweite Abschnitt des Gedichtes eine Kompensationsstrategie entgegen: Die Flucht ins Fiktive. Dabei ist interessant, dass diese Flucht in die Fantasie sich unweigerlich des vermittelten religiösen Weltbildes bedienen muss, welchem es eigentlich zu entkommen gilt. Dies wird daran deutlich, dass der Nothelfer ein
Engel ist. Erst der religiöse Erziehungskontext ermöglicht diese Fantasie, welche im Übrigen durch den Lyrischen Erzähler auch als solche erkannt zu werden scheint. Dies schließe ich daraus, dass im zweiten Abschnitt des Gedichtes im übertragenen Sinne ein echter Augenkontakt, meiner Meinung nach eine Metapher für das Erleben des Wirklichen, nicht möglich ist.
Dieses Erleben aber gelingt dem Erzähler in der letzten Strophe des Textes, allerdings mit der vernichtenden Konsequenz, die erlebte Realität in ihrer Abgestorbenheit und Künstlichkeit anerkennen zu müssen.
Ich habe mich gern mit deinem Gedicht auseinandergesetzt.
Herzliche Grüße
Frodomir