Mutti will eben auch ihren Geliebten haben

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GerRey

Mitglied
(Auszug aus einem Brief vom 4.10.2021)


Liebe Sonja,

ich musste ein wenig überlegen, wie ich Deinen Brief, für den ich Dir recht herzlich danke, beantworten sollte, nachdem ich ihn gelesen hatte. Schließlich steht und fällt alles mit der Wortwahl, wobei ich nicht zu tief greifen wollte - in jenen Höllenschlund der Worte, der die Umgangssprache fiebrig und oft schimpflich zu bereichern vermag (obwohl ich das eigentlich für sehr wichtig erachte, weil in neuerer Zeit die Gesellschaft sich so schnell verändert, dass die Umgangssprache rasch veraltet). Andererseits sann ich nicht danach, nur Schäume abzuschöpfen.

Das weibliche Geschlecht besitzt eine selbstreinigende Funktion. Dennoch mag ich nicht unbedingt bei einer Prostituierten bestimmte Sexualpraktiken ausüben, die mir als Teil meiner “amourösen Waffengattung” phantastisch vorschweben. Mögliche “Vorgänger”, die in der Annahme berechtigt wären, würden mich hierbei stören. Ich möchte alleiniger Herr der Insel sein und ihre Reize als Eroberer auskundschaften. Wobei ältere Insulaner natürlich bereits verblasst zu sein haben. Sicher könnte man hier mit Alkohol nachhelfen - was ich seinerzeit bestimmt oft getan habe - aber als Abenteurer eine Insel zu verlassen, ohne zumindest einen Teil eines Schatzes geborgen zu haben, ist auch unbefriedigend. Dem bezahlten und dadurch komprimierten Abenteuerurlaub fehlen doch wesentliche spontane Elemente.

Frauen mögen in wirtschaftlicher Hinsicht heutzutage nicht mehr so von Männern abhängig sein, wodurch es andererseits aber auch einen sehr großen Eingriff in die Gesellschaftsordnung gibt - weit mehr als es patriarchale Befürchtungen je formulieren konnten. Ich sage damit nicht, dass ich es in Ordnung fände, wenn Mutti zu Hause am Herd bliebe, während Vati seine Geliebte besucht … Aber die gepriesene “Freiheit der Frau” scheint mir allerdings auch nur - oft genug und rein banal - eine geschlechtliche Umkehr der Verhältnisse zu sein: Mutti will eben auch ihren Geliebten haben, während sich Vati um den Haushalt zu kümmern hat. Und Frauen in Männer-Positionen sind meist schlimmer als jene. Kulanterweise könnte man noch die Hoffnung anfügen, dass es gesellschaftlich möglicherweise besser wird, sobald die Trotzreaktion der Emanzipation ihren Rachefeldzug beendet hat.

Was macht eine Frau mit einem Mann, mit dem sie in Beziehung tritt? In der Regel das Dümmste, was sie tun kann. Sie versucht ihn soweit abzuändern, dass er in ihr Lebenskonzept passt. Aber ein Mann fühlt sich in einer Beziehung nur wohl, wenn er er selbst bleiben kann und er dafür auch noch bewundert wird (diese Bewunderung wäre demnach auch ein Hebel, um Dinge zu verändern). Und mit 60 Jahren bin ich schon zu alt, um mich noch einmal zu verbiegen. Also bleibe ich lieber ich selbst, mit all den Tiefen, die das mit sich bringt. Und derer sind genug. Manchmal fühle ich mich, als wäre ich aus der Zeit gefallen. Natürlich ist es mir trotz Schüchternheit möglich, Schönheit zu empfinden, für ihre Verführungskünste empfänglich zu sein, obwohl ich mir vorgenommen habe, um einhundert Mädchen jährlich weniger zu verführen.

(...)

Momentan beschäftige ich mich damit, was aus der guten, alten Novelle geworden ist - wovon mir persönlich die Kleistschen die höchsten sind. Ist diese Literaturgattung vollständig von der modernen Kriminalliteratur (Thriller) verdrängt worden? Es scheint so. Aber die Kunst eines Heinrich von Kleist zu untersuchen, mag ich nicht - die ist für mich mehr als gegeben: unübertrefflich! Ich suche nach den flacheren Werken vergessener Schriftsteller, die ihre Bedeutung aus zeitlicher wie inhaltlicher Sicht verloren haben. Dabei, glaube ich, lernen zu können. Das scheint mir ein geeignetes, künftiges Experimentierfeld zu sein. Aber vom Erotischen werde ich wohl als Phantast nie so ganz wegkommen.

Vorhin hatte ich mich ein Stündchen auf die Couch gelegt - in der dunklen Küche wirft der Kaminofen flackernden Schein über die Möbel - und war aus einem Traum erwacht. Eine junge Frau war bei mir gewesen und hatte mich gebeten, ihr dringend einen Raum aufzuschließen. Sie eilte so schnell voran, dass ich kaum mithalten konnte. Plötzlich blieb sie aber stehen, zog ein Mobiltelefon hervor und senkte ihren Blick darauf, mit den Zähnen verkniffen ihre Lippen kauend. Ich hielt neben ihr und fragte, warum oder worauf wir hier warteten. Wo der Raum sei, den sie aufgeschlossen haben wollte. Aber sie gab keine Antwort, starrte nur auf ihr Handy. Ich sah ihre nackten Beine unter dem kurzen Kleid, den Schatten eines Slips, der sich unter dem Stoff abzeichnete … Das ist die erste der oben erwähnten hundert.

Es gibt Leute, die glauben, ich sei ein Schriftsteller, oder würde mich darum bemühen, einer zu werden. Mir ist das aber gar nicht wichtig. Ich schreibe gerne (am liebsten Briefe). Und ich experimentiere gerne - mit Texten, Erinnerungen und Sequenzen jeder Art. Manchmal können das kurze Geschichten sein, die aber meist einen verborgenen Hintergrund haben, den zu entdecken es für den Leser gilt (und da habe ich eine Leserin, die da die Spurensuche aufnimmt und hinterfragt wie beim “Bruder Munkar”, sodass auch ich weitere Denkansätze und Recherche-Lust bekomme). Aber das alles ist von kaum weiterführender, literarischer Absicht geprägt. Deswegen feile ich auch nicht gerne an diesen Texten herum, um die ursprüngliche Form nicht zu verlieren. Die “Textarbeit”, wie sie die Erbsenzähler bei mir anmahnen, kümmert mich überhaupt nicht.

Dass ich künstlerische Holzschnitte sammle, habe ich schon das eine oder andere Mal erwähnt? Heute kennt kaum jemand mehr den Unterschied zwischen Holzschnitt und Holzstich, der ja schon an die Radierung anklingt. Grob gesagt, lässt es sich künstlerisch so ausdrücken, dass der Holzschnitt wie eine Zeichnung wirkt (man lässt im hölzernen Druckstock, der brettförmig längsfaserig geschnitten ist, lediglich Flächen und Linien stehen, die das zu druckende Bild ergeben). Beim Holzstich, der näher an die Malerei herankommt, werden die hellen Stellen des Bildmotivs mit einem Stichel in einen Druckstock aus Kopfholz (die Holzfasern werden beim Zuschnitt quer durchtrennt) eingearbeitet, womit man von weiß (unbedrucktes Papier) bis in verschiedene Graustufen kommt, in dem die Stichpunkte und feinen Striche mal enger, mal weiter zusammenstehen, was an die Schwarzweißfotografie erinnert. Seltsamerweise ist (oder scheint) der Holzschnitt bekannter zu sein, weil viele Holzstiche als Holzschnitte gehandelt werden - was vielleicht mit dem Oberbegriff des Formschneidens zu tun hat?

Ich experimentiere momentan mit Radierungen auf Plexiglas und überlege auf eine eigene Farbe aus Öl, Ruß (fange ich aus dem Kamin) und Leim. Ist aber ebenso nur eine Spielerei wie die Schreiberei. Andere sammeln Briefmarken oder Bierdeckel - ich mache eben das.

(...)
 
G

Gelöschtes Mitglied 21924

Gast
Das weibliche Geschlecht besitzt eine selbstreinigende Funktion
Mutti will eben auch ihren Geliebten haben, während sich Vati um den Haushalt zu kümmern hat.
Und Frauen in Männer-Positionen sind meist schlimmer als jene.
Aber ein Mann fühlt sich in einer Beziehung nur wohl, wenn er er selbst bleiben kann und er dafür auch noch bewundert wird (
Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll @GerRey - unter "Humor und Satire" hätte ich es schmunzelnd hingenommen, dieses Herunterbrechen der Sichtweisen eines alten Patriarchen - wenig anfangen kann ich auch mit dem Hinweis, dies sei ein Auszug aus einem Brief an irgendeine Sonja.
Hält der Autor hier seine Briefe für Kurzprosa? Und warum will er uns teilhaben lassen an Privatem?
Sollte dies ein Briefroman sein: Wozu dann die Erklärung: Auszug aus einem Brief vom ...?
Manchmal fühle ich mich, als wäre ich aus der Zeit gefallen
Ja. DAS denke ich auch, wenn ich alte Patriarchen auf diese Art guten, alten Zeiten hinterherjammern höre:
Ich möchte alleiniger Herr der Insel sein und ihre Reize als Eroberer auskundschaften
 
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:
Schließlich steht und fällt alles mit der Wortwahl, wobei ich nicht zu tief greifen wollte - in jenen Höllenschlund der Worte, der die Umgangssprache fiebrig und oft schimpflich zu bereichern vermag (obwohl ich das eigentlich für sehr wichtig erachte, weil in neuerer Zeit die Gesellschaft sich so schnell verändert, dass die Umgangssprache rasch veraltet). Andererseits sann ich nicht danach, nur Schäume abzuschöpfen.
Mir gefällt es, vor allem die Sprache und die Wortwahl. Ich finde es sehr schön formuliert. Würde nicht das Datum vom 04.01.2021 oben stehen, hätte ich angenommenen, der Ich-Erzähler lebt in einer vergangenen Zeit, wo man noch Wert darauf legte, alles schön auszuformulieren.

LG SilberneDelfine
 



 
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