My favorite things
Prolog
„Hast du ihn?“, fragte der Polizist.
„Ja“, sagte der andere. „Hat der ein Glück. Eigentlich müsste sein Hirn in Fetzen an der Decke hängen.“
„Jepp, aber selbst eine Kalaschnikow hat mal Ladehemmung.“
„Und wieso hast du ihn nicht ins Knie geschossen, sondern in den Bauch? Du triffst doch sonst immer.“
„Bin über eine Cola-Dose gestolpert.“
„Soll vorkommen.“
„Wo der wohl die Waffe herhat?“
„Wollen wir wetten? Der Vater oder Dark Net?“
„Nein, beides, genannt Darth Vadder.“
Die beiden Männer lachten.
7 Uhr 53
Der Apfelbaum vor dem Schuleingang war für Ron immer Boris Becker gewesen.
Der knorrige Geselle hatte den ersten seiner beiden mächtigen Äste senkrecht in den Himmel gereckt, als würde er in diesem Augenblick den Ball in die Höhe schleudern; den zweiten hielt er schräg nach hinten gebeugt, um eine zehntel Sekunde später zum entscheidenden Matchball gegen Kevin Curren zu treffen. Damit wäre Wimbledon sein.
Stattdessen verpasste jemand Ron einen schmerzhaften Hieb auf die Schulter.
„Na, du Mongo!“
Wham! Ron wurde nach vorn geschubst und stolperte, weil ihm jemand ein Bein stellte. Boing! Der Kasten seines Basssaxophons krachte auf das Kopfsteinpflaster. So schnell er konnte, sprang Ron zurück auf die Füße, die Hände eng vorm Gesicht. Euch zeig´ ich´s. Aber die beiden Typen aus der 13c waren einfach weitergeschlendert. Nicht ohne ein paar Grimassen in seine Richtung zu schneiden. Pit und Mirko, notierte Ron im Geist. Wenn ihr wüsstet, ihr Arschlöcher, dass ihr auf die Liste steht. Ganz oben.
7 Uhr 59
Ron öffnete die stählerne Sicherheitstür zum Heizungskeller der Schule. Drinnen zog er hinter dem Brenner einen Spiegel in einem goldenen Bilderrahmen hervor, den er einige Tage zuvor dort deponiert hatte. Dann öffnete er den Instrumentenkasten und begann mit der Verwandlung.
Jeans, T-Shirt und Sneakers ließ er auf den Boden fallen. Aus dem Koffer holte er das weiße Hemd und schlüpfte hinein. Dann die weite, graue Hose, das schwarze Sakko samt der eingenähten, falschen Weste, dazu eine schmale Krawatte. Die Melone auf den Kopf. Zum Schluss klebte er sich den Bart und die Brauen an und stieg entenfüßig in die viel zu großen Schuhe. Zufrieden betrachtete er sich im Spiegel. Er sah ihm wirklich ähnlich.
8 Uhr 18
Als Ron vor dem Eingang der 13c stand, merkte er, dass er nichts mehr dachte. Sein Kopf war leergefegt, Nur der Plan für den Ablauf der nächsten Minuten lag noch dort oben in seinem Gehirn und gab ihm Halt.
Er klopfte. Die Kalaschnikow hielt er hinter seinem Rücken versteckt.
8 Uhr 20
„Guck mal, der Charly“, brüllte Pit. Ausgerechnet Pit, der bei Falcon Gitarre spielte. Ausgerechnet er, der ihm auf dem Casting im Frühling zugeflüstert hatte, er solle sich auf dem Klo lieber selbst einen blasen anstatt sein Saxophon.
„Dein-Schnurr-bart-sitzt-schief-Spas-ti!“ Das war Mirko, der Bassist der Falcons. Er betonte jede Silbe des Satzes und klatschte dazu. Die Klasse lachte.
Langsam zog Ron die AK 47 hinter seinem Rücken hervor und richtete sie auf Pit. Augenblicklich erstarb alles Lachen. Zwei Mädchen fingen an zu wimmern.
„Und nun wollen wir mal aufräumen“, sagte Ron freundlich. Er atmete ein, spannte seine Schultermuskeln.
8 Uhr 23
Acht Sekunden später war auch Mirko tot. Wo waren Nummer drei und vier, Tom und Mikkel. Keyboards und Schlagzeug?
„Weiß nicht“, meinte die Lehrerin mit zittriger Stimme. „Vielleicht krank.“ Später würden die beiden immer wieder erzählen, dass Schwänzen ihnen das Leben gerettet hätte.
8 Uhr 25
Jetzt blieb nur noch Jaqueline. Ron ließ den Lauf der Waffe leicht sinken und ging auf sie zu. Im Frühjahr hatte sie sich einige Male zu ihm gesetzt, als er in den Pausen in der Halle ein paar Töne auf seinem Saxophon gespielt hatte. Irgendwann hatte sie gesagt. „Spiel doch mal `My favourite things` von Coltrane.“ Damit hatte sie ihn sofort gehabt. „Things“ war einer der Standards, die er nur nach Mitternacht hörte. Zu einem Glas Bourbon, das er sich aus Vaters Bar klaute.
„Weißt du, was ich von dir will?“, fragte Ron.
Sie öffnete den Mund etwas und schloss ihn wieder. Ihre Augen glänzten feucht.
Ron schaute kurz an ihr vorbei aus dem Fenster und suchte die beiden Äste des Apfelbaums auf dem Schulhof.
Scheiße, dachte er. Dann hob er die Waffe.
8 Uhr 31
„Alles auf den Boden!“ Als er sicher war, dass alle lagen, brüllte er. „Keiner steht in den nächsten fünf Minuten auf. Klar? Ich steh vor der Tür.“
Dann rannte er raus auf den Flur. Hektisch blickte er nach rechts und links.
„Stehenbleiben. Lassen Sie die Waffe fallen!“ Am Ende des Flurs standen zwei schwarzuniformierte Polizisten hinter Schildern und zielten auf ihn. Ohne zu zögern, steckte Ron sich den Stahllauf der MP in den Mund. Während er abdrückte, blies er mit prallen Wangen in den Gewehrlauf, so als sei die Waffe sein Saxophon. Er hörte ein sirrendes Pfeifen. Spürte einen Schlag irgendwohin. Schwärze.
11 Uhr 13
Helles Licht weckte Ron. Er wusste sofort wieder, was er getan hatte. Dann stimmte das wohl mit dem Tunnel und dem Licht am Ende. Aber der unerträgliche Schmerz unter seinem linken Rippenbogen passte nicht dazu. Über ihm sagte eine Stimme etwas.
„Hey, was machst du. Er wird wach. Gib Stoff, Mann!“
Ein leichtes Ziehen kroch Rons Unterarm hoch. Irgendwer dimmte das Licht über seinem Kopf runter.
Zwei Tage später
„Der kriegt die Augen ja überhaupt nicht auf.“
„Na ja, ich an seiner Stelle würde auch weiterpennen. Der hat im Moment keinen Grund, das Dasein hier auf der Erde gut zu finden.“
Ron wollte hochschrecken, als er die Stimmen hörte, aber seine Hände und Füße schienen am Bett festgeklebt. Er öffnete die Augen und sah in das Gesicht einer Frau, die eine randlose Brille und ein weißen Häubchen trug.
„Ich verbinde Sie jetzt“, meinte sie. Ihre Stimme klang nüchtern. Rechts und links von Rons Bett stellten sich zwei Polizisten auf.
„Was machen die denn…“, begann Ron. Das Ende des Satzes ging in einem Hustenanfall unter.
„Sie stellen vielleicht Fragen.“
Elf Monate und drei Tage später
Ron riss an seinen Handschellen. Was der Richter da von sich gab, gefiel ihm ganz und gar nicht.
Der Mann in dem schwarzen Talar hielt ihn für verrückt. Dabei war er unter keinen Umständen verrückt. Das doch nicht. Gehasst hatte er, das ja. Aber verrückt, nein, nein. Auch wenn diese beiden blöden Gutachter sich da einig waren. Therapie sollte er machen? Was sollte das denn werden? Er brauchte nichts dergleichen. Das, was er tun wollte, nein, tun musste, hatte er getan. Er war doch nicht gefährlich. Jetzt nicht mehr. Sollten sie ihn doch sicherheitsverwahren. Sie würden schon sehen, was sie davon hätten. Er würde lammfromm sein, ein Musterverwahrter. Und das würden sie einsehen müssen. In ein paar Monaten, einem Jahr spätestens.
Fünf Jahre und zwei Monate später
„Sie müssen schon mit mir reden“, sagte die Therapeutin zu ihm. Sie sah jung aus. Kaum älter als er. Es war die zwölfte oder vierzehnte Fachkraft, die sich an seiner Seele die Zähne ausbiss.
„Ich muss gar nicht mit Ihnen reden. Es gibt nichts zu sagen. Da Sache ist geschehen und vorbei. Warum sollte ich das mit Ihnen nochmal aufwärmen. Ich habe schon Menschen umgebracht, da waren Sie noch nicht auf der Welt.“
„Na, dann nicht“, sagte die Therapeutin, gab dem Pfleger einen Wink, stand auf und verließ endgültig den Raum, so wie zwölf oder vierzehn Psychologen vor ihr.
Neuneinhalb Jahre später
„Ich habe mir das überlegt, Herr Pfarrer. Ich glaube, dass es sinnvoll ist, dass ich an Gott glaube.“
Der Anstaltsgeistliche, ein Mann Mitte Dreißig, der in seinem schwarzen T-Shirt und den schwarzen Jeans mehr nach Punk denn nach Pfarrer aussah, hob die Augenbrauen.
„Jesus hat doch die Vergebung der Sünden gepredigt“, fuhr Ron fort. „Und ich bin doch nun wirklich jemand, der etwas getan hat, dass sich zu vergeben lohnt, oder?“
Der Geistliche hob seine Hände und ließ sie dann wieder sinken.
„So geht das nicht“, meinte er. „Sie können sich doch nicht überlegen, dass sie jetzt mal an Gott glauben, nur weil es Ihnen nützlich sein könnte.“
„Warum nicht?“
„Weil der Glaube von Herzen kommen muss.“
„Wissen Sie was“, sagte Ron und winkte dem Pfleger, „mein Herz ist mir abhanden gekommen. Ich habe nur noch meinen Kopf.“
Siebzehn Jahre später
„Komm schon, Ron.“ Willy, der Stationspfleger legte ihm den Arm um die Schultern. „Die sind echt gut.“
„Nein, du weißt doch, dass ich Cover-Bands hasse. Ich will da nicht hingehen.“
„Aber das ist eine Jazz-Combo. Ziemlich cool.“
„Weiß nicht“, brummte Ron.
Zwei Stunden später saß er im Speisesaal und schaute interessiert hinüber in die Ecke, die für die Kapelle mit einem gelben Absperrband abgetrennt worden war. Dort standen zwischen Schlagzeug, Klavier und Kontrabass zwei Saxophone: das Tenor- und dass größere goldglänzende Bassinstrument. Wann hatte er zum letzten Mal deren singenden, luftigen Ton live gehört? Er wusste es nicht mehr.
Nach dem vierten Stück stand Ron, schrie laut: „Bravo! Mehr!“ und hörte nicht auf zu klatschen.
Als Herr Menke, der Chefarzt ihn auffordern wollte, sich zu setzen, hielt Willy ihn am Ellenbogen zurück.
„Lassen Sie ihn. Es ist seine Musik.“
Pünktlich zur Einschlusszeit beendete die Jazzcombo ihr Konzert. Da hatte sich Ron schon längst an dem Absperrband postiert.
„Entschuldigung, ich habe eine Bitte.“
Der Bassist, der gerade den Hals seines Instruments mit einem Tuch abwischte, sah ihn an.
„Könnte ich ein Stück mit Ihnen spielen? Auf dem Saxophon?“
Die vier Musiker wechselten Blicke und schauten dann zu Herrn Menke hinüber. Der nickte.
„Welches Stück?“, fragte der Schlagzeuger, der bereits wieder hinter seinen Trommeln Platz genommen hatte.
„Favorite things.“
„Ah, die alte Coltrane-Nummer“, grinste der Bassist und zählte ein.
Der Pianist spielte eine kurze Eingangsimprovisation. Dann nickte er Ron lächelnd zu.
Ron befeuchtete mit der Zunge seine Lippen, um dann mit ihnen das Mundstück des Tenorsaxophons zu umfassen. Er merkte, wie seine Lunge und sein Zwerchfell sich zu erinnern versuchten, mit welchem Atemdruck sie in das Instrument zu blasen hätten.
Die ersten Töne klangen schrecklich. Aus der Trichteröffnung des Saxophons entwich eine quäkige, unmelodiöse Kaskade aus Tönen.
Hinter ihm fing der Bassist an zu lachen. Schlagzeuger und Pianist schauten sich irritiert an. Dann brach die Band ab.
Der Saxophonist der Kapelle klopfte Ron auf die Schulter.
„Hast länger nicht gespielt, was?“
Er nahm die goldene Basströte vom Ständer und fügte hinzu:
„Komm, lass uns das Thema gemeinsam spielen.“
Wieder setzte die Band ein, kurzes Klaviersolo und schon erfüllten die tiefen, luftigen Töne des Bassinstruments den Speisesaal. Ron hörte sich die Melodie eine Durchgang lang an. Dann war plötzlich alles klar. Er fühlte eine fast vergessene Spannung in den Lippen und Fingern. Sein Brustkorb hob sich. Er begann zu spielen. Die Wiederholung der Hookline gelang ohne Mühe. Der Klavierspieler zwinkerte ihm zu. Die Band wurde leise und Ron versuchte sich an der ersten Improvisation seit 17 Jahren. Zögernd spielte er ein, zwei tastende, suchende Licks, merkte, dass seine Finger allmählich aus ihrem jahrelangen Schlaf erwachten und traute sich mehr. Bassist und Saxophonist hatten ihn in die Mitte genommen, beide hatten ein Schmunzeln auf dem Gesicht.
Plötzlich stand Menke hinter dem gelben Absperrband und winkte energisch.
„Schluss für heute. Einschließzeit!“
Die Band fiel überganslos in das Thema, wartete, dass Ron sich nach einigen Melodieschlenkern zu ihnen gesellte.
„Schluss jetzt!“, brüllte Menke.
Den letzten Ton ließ die Band fast zwanzig Sekunden im Raum stehen, wartete, bis er vollständig verklungen war.
„Nun kommen Sie endlich.“ Menke fasste Ron am Ellenbogen.
„Danke“, sagte der Saxophonist zu Ron und streckte ihm die Hand hin. „Hat wirklich Spaß gemacht. Du hast es drauf.“
Vorsichtig stellte Ron das Instrument in den Ständer zurück, nickte noch einmal in die Runde und ließ sich dann widerstandslos von Menke mitnehmen.
Noch nach Mitternacht lag er wach. Die Melodie von „things“ pulsierte in seinen Adern. Er hätte jetzt gern ein Schluck Bourbon gehabt.
Und hier die Musik dazu:
http://www.youtube.com/watch?v=qWG2dsXV5HI
Prolog
„Hast du ihn?“, fragte der Polizist.
„Ja“, sagte der andere. „Hat der ein Glück. Eigentlich müsste sein Hirn in Fetzen an der Decke hängen.“
„Jepp, aber selbst eine Kalaschnikow hat mal Ladehemmung.“
„Und wieso hast du ihn nicht ins Knie geschossen, sondern in den Bauch? Du triffst doch sonst immer.“
„Bin über eine Cola-Dose gestolpert.“
„Soll vorkommen.“
„Wo der wohl die Waffe herhat?“
„Wollen wir wetten? Der Vater oder Dark Net?“
„Nein, beides, genannt Darth Vadder.“
Die beiden Männer lachten.
7 Uhr 53
Der Apfelbaum vor dem Schuleingang war für Ron immer Boris Becker gewesen.
Der knorrige Geselle hatte den ersten seiner beiden mächtigen Äste senkrecht in den Himmel gereckt, als würde er in diesem Augenblick den Ball in die Höhe schleudern; den zweiten hielt er schräg nach hinten gebeugt, um eine zehntel Sekunde später zum entscheidenden Matchball gegen Kevin Curren zu treffen. Damit wäre Wimbledon sein.
Stattdessen verpasste jemand Ron einen schmerzhaften Hieb auf die Schulter.
„Na, du Mongo!“
Wham! Ron wurde nach vorn geschubst und stolperte, weil ihm jemand ein Bein stellte. Boing! Der Kasten seines Basssaxophons krachte auf das Kopfsteinpflaster. So schnell er konnte, sprang Ron zurück auf die Füße, die Hände eng vorm Gesicht. Euch zeig´ ich´s. Aber die beiden Typen aus der 13c waren einfach weitergeschlendert. Nicht ohne ein paar Grimassen in seine Richtung zu schneiden. Pit und Mirko, notierte Ron im Geist. Wenn ihr wüsstet, ihr Arschlöcher, dass ihr auf die Liste steht. Ganz oben.
7 Uhr 59
Ron öffnete die stählerne Sicherheitstür zum Heizungskeller der Schule. Drinnen zog er hinter dem Brenner einen Spiegel in einem goldenen Bilderrahmen hervor, den er einige Tage zuvor dort deponiert hatte. Dann öffnete er den Instrumentenkasten und begann mit der Verwandlung.
Jeans, T-Shirt und Sneakers ließ er auf den Boden fallen. Aus dem Koffer holte er das weiße Hemd und schlüpfte hinein. Dann die weite, graue Hose, das schwarze Sakko samt der eingenähten, falschen Weste, dazu eine schmale Krawatte. Die Melone auf den Kopf. Zum Schluss klebte er sich den Bart und die Brauen an und stieg entenfüßig in die viel zu großen Schuhe. Zufrieden betrachtete er sich im Spiegel. Er sah ihm wirklich ähnlich.
8 Uhr 18
Als Ron vor dem Eingang der 13c stand, merkte er, dass er nichts mehr dachte. Sein Kopf war leergefegt, Nur der Plan für den Ablauf der nächsten Minuten lag noch dort oben in seinem Gehirn und gab ihm Halt.
Er klopfte. Die Kalaschnikow hielt er hinter seinem Rücken versteckt.
8 Uhr 20
„Guck mal, der Charly“, brüllte Pit. Ausgerechnet Pit, der bei Falcon Gitarre spielte. Ausgerechnet er, der ihm auf dem Casting im Frühling zugeflüstert hatte, er solle sich auf dem Klo lieber selbst einen blasen anstatt sein Saxophon.
„Dein-Schnurr-bart-sitzt-schief-Spas-ti!“ Das war Mirko, der Bassist der Falcons. Er betonte jede Silbe des Satzes und klatschte dazu. Die Klasse lachte.
Langsam zog Ron die AK 47 hinter seinem Rücken hervor und richtete sie auf Pit. Augenblicklich erstarb alles Lachen. Zwei Mädchen fingen an zu wimmern.
„Und nun wollen wir mal aufräumen“, sagte Ron freundlich. Er atmete ein, spannte seine Schultermuskeln.
8 Uhr 23
Acht Sekunden später war auch Mirko tot. Wo waren Nummer drei und vier, Tom und Mikkel. Keyboards und Schlagzeug?
„Weiß nicht“, meinte die Lehrerin mit zittriger Stimme. „Vielleicht krank.“ Später würden die beiden immer wieder erzählen, dass Schwänzen ihnen das Leben gerettet hätte.
8 Uhr 25
Jetzt blieb nur noch Jaqueline. Ron ließ den Lauf der Waffe leicht sinken und ging auf sie zu. Im Frühjahr hatte sie sich einige Male zu ihm gesetzt, als er in den Pausen in der Halle ein paar Töne auf seinem Saxophon gespielt hatte. Irgendwann hatte sie gesagt. „Spiel doch mal `My favourite things` von Coltrane.“ Damit hatte sie ihn sofort gehabt. „Things“ war einer der Standards, die er nur nach Mitternacht hörte. Zu einem Glas Bourbon, das er sich aus Vaters Bar klaute.
„Weißt du, was ich von dir will?“, fragte Ron.
Sie öffnete den Mund etwas und schloss ihn wieder. Ihre Augen glänzten feucht.
Ron schaute kurz an ihr vorbei aus dem Fenster und suchte die beiden Äste des Apfelbaums auf dem Schulhof.
Scheiße, dachte er. Dann hob er die Waffe.
8 Uhr 31
„Alles auf den Boden!“ Als er sicher war, dass alle lagen, brüllte er. „Keiner steht in den nächsten fünf Minuten auf. Klar? Ich steh vor der Tür.“
Dann rannte er raus auf den Flur. Hektisch blickte er nach rechts und links.
„Stehenbleiben. Lassen Sie die Waffe fallen!“ Am Ende des Flurs standen zwei schwarzuniformierte Polizisten hinter Schildern und zielten auf ihn. Ohne zu zögern, steckte Ron sich den Stahllauf der MP in den Mund. Während er abdrückte, blies er mit prallen Wangen in den Gewehrlauf, so als sei die Waffe sein Saxophon. Er hörte ein sirrendes Pfeifen. Spürte einen Schlag irgendwohin. Schwärze.
11 Uhr 13
Helles Licht weckte Ron. Er wusste sofort wieder, was er getan hatte. Dann stimmte das wohl mit dem Tunnel und dem Licht am Ende. Aber der unerträgliche Schmerz unter seinem linken Rippenbogen passte nicht dazu. Über ihm sagte eine Stimme etwas.
„Hey, was machst du. Er wird wach. Gib Stoff, Mann!“
Ein leichtes Ziehen kroch Rons Unterarm hoch. Irgendwer dimmte das Licht über seinem Kopf runter.
Zwei Tage später
„Der kriegt die Augen ja überhaupt nicht auf.“
„Na ja, ich an seiner Stelle würde auch weiterpennen. Der hat im Moment keinen Grund, das Dasein hier auf der Erde gut zu finden.“
Ron wollte hochschrecken, als er die Stimmen hörte, aber seine Hände und Füße schienen am Bett festgeklebt. Er öffnete die Augen und sah in das Gesicht einer Frau, die eine randlose Brille und ein weißen Häubchen trug.
„Ich verbinde Sie jetzt“, meinte sie. Ihre Stimme klang nüchtern. Rechts und links von Rons Bett stellten sich zwei Polizisten auf.
„Was machen die denn…“, begann Ron. Das Ende des Satzes ging in einem Hustenanfall unter.
„Sie stellen vielleicht Fragen.“
Elf Monate und drei Tage später
Ron riss an seinen Handschellen. Was der Richter da von sich gab, gefiel ihm ganz und gar nicht.
Der Mann in dem schwarzen Talar hielt ihn für verrückt. Dabei war er unter keinen Umständen verrückt. Das doch nicht. Gehasst hatte er, das ja. Aber verrückt, nein, nein. Auch wenn diese beiden blöden Gutachter sich da einig waren. Therapie sollte er machen? Was sollte das denn werden? Er brauchte nichts dergleichen. Das, was er tun wollte, nein, tun musste, hatte er getan. Er war doch nicht gefährlich. Jetzt nicht mehr. Sollten sie ihn doch sicherheitsverwahren. Sie würden schon sehen, was sie davon hätten. Er würde lammfromm sein, ein Musterverwahrter. Und das würden sie einsehen müssen. In ein paar Monaten, einem Jahr spätestens.
Fünf Jahre und zwei Monate später
„Sie müssen schon mit mir reden“, sagte die Therapeutin zu ihm. Sie sah jung aus. Kaum älter als er. Es war die zwölfte oder vierzehnte Fachkraft, die sich an seiner Seele die Zähne ausbiss.
„Ich muss gar nicht mit Ihnen reden. Es gibt nichts zu sagen. Da Sache ist geschehen und vorbei. Warum sollte ich das mit Ihnen nochmal aufwärmen. Ich habe schon Menschen umgebracht, da waren Sie noch nicht auf der Welt.“
„Na, dann nicht“, sagte die Therapeutin, gab dem Pfleger einen Wink, stand auf und verließ endgültig den Raum, so wie zwölf oder vierzehn Psychologen vor ihr.
Neuneinhalb Jahre später
„Ich habe mir das überlegt, Herr Pfarrer. Ich glaube, dass es sinnvoll ist, dass ich an Gott glaube.“
Der Anstaltsgeistliche, ein Mann Mitte Dreißig, der in seinem schwarzen T-Shirt und den schwarzen Jeans mehr nach Punk denn nach Pfarrer aussah, hob die Augenbrauen.
„Jesus hat doch die Vergebung der Sünden gepredigt“, fuhr Ron fort. „Und ich bin doch nun wirklich jemand, der etwas getan hat, dass sich zu vergeben lohnt, oder?“
Der Geistliche hob seine Hände und ließ sie dann wieder sinken.
„So geht das nicht“, meinte er. „Sie können sich doch nicht überlegen, dass sie jetzt mal an Gott glauben, nur weil es Ihnen nützlich sein könnte.“
„Warum nicht?“
„Weil der Glaube von Herzen kommen muss.“
„Wissen Sie was“, sagte Ron und winkte dem Pfleger, „mein Herz ist mir abhanden gekommen. Ich habe nur noch meinen Kopf.“
Siebzehn Jahre später
„Komm schon, Ron.“ Willy, der Stationspfleger legte ihm den Arm um die Schultern. „Die sind echt gut.“
„Nein, du weißt doch, dass ich Cover-Bands hasse. Ich will da nicht hingehen.“
„Aber das ist eine Jazz-Combo. Ziemlich cool.“
„Weiß nicht“, brummte Ron.
Zwei Stunden später saß er im Speisesaal und schaute interessiert hinüber in die Ecke, die für die Kapelle mit einem gelben Absperrband abgetrennt worden war. Dort standen zwischen Schlagzeug, Klavier und Kontrabass zwei Saxophone: das Tenor- und dass größere goldglänzende Bassinstrument. Wann hatte er zum letzten Mal deren singenden, luftigen Ton live gehört? Er wusste es nicht mehr.
Nach dem vierten Stück stand Ron, schrie laut: „Bravo! Mehr!“ und hörte nicht auf zu klatschen.
Als Herr Menke, der Chefarzt ihn auffordern wollte, sich zu setzen, hielt Willy ihn am Ellenbogen zurück.
„Lassen Sie ihn. Es ist seine Musik.“
Pünktlich zur Einschlusszeit beendete die Jazzcombo ihr Konzert. Da hatte sich Ron schon längst an dem Absperrband postiert.
„Entschuldigung, ich habe eine Bitte.“
Der Bassist, der gerade den Hals seines Instruments mit einem Tuch abwischte, sah ihn an.
„Könnte ich ein Stück mit Ihnen spielen? Auf dem Saxophon?“
Die vier Musiker wechselten Blicke und schauten dann zu Herrn Menke hinüber. Der nickte.
„Welches Stück?“, fragte der Schlagzeuger, der bereits wieder hinter seinen Trommeln Platz genommen hatte.
„Favorite things.“
„Ah, die alte Coltrane-Nummer“, grinste der Bassist und zählte ein.
Der Pianist spielte eine kurze Eingangsimprovisation. Dann nickte er Ron lächelnd zu.
Ron befeuchtete mit der Zunge seine Lippen, um dann mit ihnen das Mundstück des Tenorsaxophons zu umfassen. Er merkte, wie seine Lunge und sein Zwerchfell sich zu erinnern versuchten, mit welchem Atemdruck sie in das Instrument zu blasen hätten.
Die ersten Töne klangen schrecklich. Aus der Trichteröffnung des Saxophons entwich eine quäkige, unmelodiöse Kaskade aus Tönen.
Hinter ihm fing der Bassist an zu lachen. Schlagzeuger und Pianist schauten sich irritiert an. Dann brach die Band ab.
Der Saxophonist der Kapelle klopfte Ron auf die Schulter.
„Hast länger nicht gespielt, was?“
Er nahm die goldene Basströte vom Ständer und fügte hinzu:
„Komm, lass uns das Thema gemeinsam spielen.“
Wieder setzte die Band ein, kurzes Klaviersolo und schon erfüllten die tiefen, luftigen Töne des Bassinstruments den Speisesaal. Ron hörte sich die Melodie eine Durchgang lang an. Dann war plötzlich alles klar. Er fühlte eine fast vergessene Spannung in den Lippen und Fingern. Sein Brustkorb hob sich. Er begann zu spielen. Die Wiederholung der Hookline gelang ohne Mühe. Der Klavierspieler zwinkerte ihm zu. Die Band wurde leise und Ron versuchte sich an der ersten Improvisation seit 17 Jahren. Zögernd spielte er ein, zwei tastende, suchende Licks, merkte, dass seine Finger allmählich aus ihrem jahrelangen Schlaf erwachten und traute sich mehr. Bassist und Saxophonist hatten ihn in die Mitte genommen, beide hatten ein Schmunzeln auf dem Gesicht.
Plötzlich stand Menke hinter dem gelben Absperrband und winkte energisch.
„Schluss für heute. Einschließzeit!“
Die Band fiel überganslos in das Thema, wartete, dass Ron sich nach einigen Melodieschlenkern zu ihnen gesellte.
„Schluss jetzt!“, brüllte Menke.
Den letzten Ton ließ die Band fast zwanzig Sekunden im Raum stehen, wartete, bis er vollständig verklungen war.
„Nun kommen Sie endlich.“ Menke fasste Ron am Ellenbogen.
„Danke“, sagte der Saxophonist zu Ron und streckte ihm die Hand hin. „Hat wirklich Spaß gemacht. Du hast es drauf.“
Vorsichtig stellte Ron das Instrument in den Ständer zurück, nickte noch einmal in die Runde und ließ sich dann widerstandslos von Menke mitnehmen.
Noch nach Mitternacht lag er wach. Die Melodie von „things“ pulsierte in seinen Adern. Er hätte jetzt gern ein Schluck Bourbon gehabt.
Und hier die Musik dazu:
http://www.youtube.com/watch?v=qWG2dsXV5HI