mystisches Gebet

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Aceta

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"Das Kloster ist viele hundert Jahre alt, einige Gewölbeteile sind unter Nutzung natürlicher Höhlen entstanden, diese natürlichen Teile sind noch viel, viel älter", lächete Bruder Werner in seiner Kutte und führte uns weiter durch die Katakomben des alten Gemäuers. In den letzten Jahren wurde dieser Teil des Kellers als Vorratslager verwendet, die Ordensbrüder haben hier eine besondere Kultur gepflegt, nämlich die des Bierbrauens. - Es war", und seine Stimme bekam einen fast sehnsuchtsvollen Klang, "es war ein sehr, sehr gutes Bier...", und sein Lächeln sagte viel darüber, daß er diesem Bier selbst gerne zugesprochen hatte.
Seit siebzehn Jahren war das Kloster verlassen und leerstehend, die Kapelle war der einzige Teil, der noch regelmäßig genutzt wurde, und Bruder Werner war der einzige, der in den alten Gemäuern noch wohnte. Die anderen Ordensbrüder waren zum Hauptsitz des Ordens gezogen, eine kleiner werdende Gruppe von Männern in einer Zeit, da das Ordensleben nur noch wenige junge Menschen gewinnen konnte.

"Vor fast vierhundert Jahren, der dreißigjährige Krieg wütete acht oder neun Jahre in Europa, da war dieses Kloster Schauplatz einer grausigen Schlacht, vor den Mauern wurden Männer und Frauen und Kinder bestialisch gefoltert und gemordet, und auch vor diesen heiligen Mauern machte das Unheil keinen Halt. Viele hatten sich ins Innere des Klosters geflüchtet, auch hierher, in diese Katakomben und versteckten sich vor den brandschatzenden Marodeuren.
Die Sage erzählt von einer Gruppe Frauen und Kinder, die hierher geflohen waren. Sie hörten den Lärm der Schlacht, das Klirren der Schwerter und Lanzen, wüste Flüche und schreckliche Schreie der Menschen, sie kauerten sich in Winkel und Ecken und hatten die schweren Türen verriegelt, aber der Lärm näherte sich mehr und mehr und schließlich wurde auch gegen die verschlossene Türe gerammt. Es dauerte zwar eine Weile, aber schließlich gaben die alten Scharniere nach und mit der brechenden Türe stürzten mehrere wilde Gestalten herein. Mit Fackeln leuteten sie die Winkel aus und zerrten eine nach der anderen die Kinder und Frauen heraus, trieben sie in die große Hohle und machten sich bereit, die Kinder vor den Augen der Mütter zu verstümmeln und weitere bestialische Qualen.
Gerade, als sie das erste Kind ausgesucht hatten und mit lautem Gebrüll die Gefangenen einschüchtern wollten, da stand unter den Gefangenen eine Frau auf. Sie war eine Schwester des Jungen, selbst schwanger, was nicht mehr zu übersehen war und hob die bloße Hand. Inmitten der ängstlich nierdergekauerten Gestalten ragte sie hoch auf, wilde Entschlossenheit in ihrem Gesicht, und mit fester Stimme rief sie: "Haltet ein!"
Sie bekreuzigte sich und plötzlich verstummte das Gröhlen und Fluchen, im Licht der Fackel stand sie da wie ein leibhaftiger Racheengel Gottes. - Dann geschah es: Plötzlich kam ein eisiger Hauch aus der Tiefe der Höhle - und alle Fackeln verloschen - und es wurde stockdunkel. Kein Laut war zu hören, nicht einmal mehr das leise Jammern der Kinder. Und plötzlich warf der erste der wilden Kämpfer sein Schwert zu Boden und rannte durch die aufgebrochene Türöffnung hinaus - und alle anderen folgten ihm - und flohen in grenzenloser Angst vor einer unheimlichen Macht, der sie hier begegnet waren.

Aus den alten Überlieferungen ist uns ein Gebet geblieben, von dem erzählt wird, sie hätte es gesprochen in dieser Stunde der Rettung. Es ist in dem Mittelhochdeutsch jener Tage geschrieben - übersetzt für Euch, und dort an der Wand in Kupfer gebrannt hängt die Tafel, auf die wir es aufgeschrieben haben, in Erinnerung und Ehrfurcht vor dem Wirken Gottes in diesen Hallen."

Wir alle drängten nun zu dieser Tafel, und weil es zu eng und zu dunkel war, konnten wir gar nicht alle zugleich lesen, was da stand. Deshalb begann plötzlich eine Frau aus der Gruppe, es laut vorzubeten:

"In Dein Haus bin ich geflohen,
gejagt und voller Furcht, Gott mein Herr,
Das Böse folgte mir selbst hierher,
hilflos stehe ich da, unbewaffnet und schwach,
Gott mein Herr - Du bist meine letzte Hoffnung,
Du bist Schutz, sei Du Rettung.
Gott mein Herr, in mir spüre ich nun
eine große Kraft, den Mut, gegen das Böse
aufzustehen um mit meiner schwachen Hand
Deinen Schutz über uns alle auszubreiten.
Du bist Rettung, Du bist Frieden,
Du bist die Kraft des Lebens,
niemals will ich vergessen."

Und als sei es ganz selbstverständlich, beschlossen alle zusammen diese Worte in die sich ausbreitende Stille mit einem vielstimmigen "Amen!".

Ein leises Lächeln war über sein Gesicht gehuscht, eine kleine Freude, dieses alte Gebet wieder erlebt zu haben. Stille herrschte in der großen Höhle und ich glaubte plötzlich, einen leichten, kühlen Lufthauch zu spüren. Dann lud unser Führer uns ein zu einem "zünftigen Abendessen" bei Brot und Bier. Die kleine Gesellschaft verließ die Höhle und im Klosterhof wurden Stühle und Tische aufgeklappt, Bruder Werner schleppte einen Korb noch warmer Brote heran, ein Tablett mit Tonhumpen und ein kleines Faß, darin, so bedeutete er uns, sei von dem guten Bier seines Ordens, das nun zwar nicht mehr hier im Kloster, aber nichtdestotrotz weiterhin von seinen Mitbrüdern liebevoll gebraut werde nach uralter Tradition.
Es wurde ein fröhlicher Abend, wir sangen voller Begeisterung einige alte Kirchenlieder, ohne daß irgendjemand darüber erstaunt gewesen wäre, und tranken von diesem schweren, süffigen Bier. Zu fortgeschrittener Stunde fragte ich mit schon etwas schwer gewordener Zunge, was denn wohl aus jenen Kindern und Frauen geworden sei, von denen er in seiner Sage erzählt hatte.

"Der Lärm verschwand, schneller noch, als er gekommen war - die wilde Horde trollte sich, verließ nicht nur die Höhle, verließ das ganze Gemäuer und zog rasch davon. Der Krieg tobte noch viele Jahre - aber in diese Gegend ward er nie wieder getragen. Die Menschen verließen die Höhle, versorgten die Verwundeten, begruben die Toten und dankten Gott für ihre Rettung. Lange Jahre blühte rund um dieses Kloster ein friedliches Leben, und jenes Gebet, das ich Euch auf der Kupfertafel gezeigt habe, wurde das Gebet eines jeden Kindes, einer jeden Frau und jeden Mannes in dieser Gegend, bekannt, wie das "Vater unser". Wir beten es noch immer in unseren Andachten, die in der Klosterkapelle gehalten werden."

Einige Stunden hatte ich wohl geschlafen, als mich der Drang des Bieres wohl weckte. Es war still und dunkel im Saal, und ich überlegte, wohin ich mich denn nun wohl wenden könnte. Niemand war wach, den ich hätte fragen können. Zuerst versuchte ich, einfach wieder einzuschlafen, aber der Druck wurde stärker - ich würde aus den Federn kriechen müssen ... keine andere Chance!
Es gab nur wenig Licht - etwas davon im Gang zur Kapelle. Über jahrhundertealte Steinfliesen bewegten sich nun meine müden Schritte, suchten den speziellen Ort. Aber ich fand keine Tür, keinen Winkel, immer weiter gehend, immer tiefer in dieses alte Kloster eindringend. Sollte ich - dachte ich einmal kurz - aber Scham und Ehrfurcht geboten dem Gedanken Einhalt. Also suchte ich weiter - und fand schließlich auch - gottseidank - den gesuchten Ort, und Erlösung ...

Nur der Rückweg, der wurde mir dann schwer, dunkle Gänge hier - und dort - kein Licht, keine Schalter - eben ein uraltes Klostergemäuer. Der Drang meiner Blase hatte zuvor kaum einen anderen Gedanken zugelassen, jetzt aber überfiel mich geradezu die Phantasie!
An die flüchtenden Menschen im Mittelalter mußte ich denken - Kinder und Frauen, getrieben von mordgierigen Bestien, zu denen der Krieg Menschen gemacht hatte. Die Angst, die schrecklichen Laute des tobenden Kampfes, wo Menschen mit Schwertern aufeinander einschlugen, einander Glieder abtrennten oder auch den Kopf - tiefe Wunden gegenseitig in den Körper hackend - gräßlich!
Eine kleine Schar von Kindern und Frauen sah ich plötzlich vor mir - Angst in den Augen, Angst - schreckliche Angst! Vor den Geräuschen des Krieges, dem sie nichts entgegensetzen konnten: denn die Feinde waren stark und bewaffnet - und grausam und gräßlich - und alle wußten das.
Wieder stand ich vor einer Möglichkeit - nach rechts - ins Dunkel - nach links - oder geradeaus? - Vor mir ein kleines Licht, die Hoffnung - das Ende der Suche - die Tür zum Hof ??
Was - dachte ich, mochten diese Menschen auf der Flucht gedacht haben? - Bestimmt hatten sie den dunkelsten Gang genommen - und darin die größte Hoffnung gesehen! - Aber ich wollte ja nicht in die Katakomben - ich wollte wieder hinaus auf den Hof - zum Schlafsaal ...
Da packte mich plötzlich ein Impuls - ich öffnete die nächste Türe - und ging hinein - und stand plötzlich in der Kapelle.
Kerzen hier - und keine Dunkelheit, kein Schrecken, keine Angst. Direkt neben dem Eingang eine große Kupfertafel, und staunend las ich:

"In Dein Haus bin ich geflohen,
gejagt und voller Furcht, Gott mein Herr,
Das Böse folgte mir selbst hierher,
hilflos stehe ich da, unbewaffnet und schwach,
Gott mein Herr - Du bist meine letzte Hoffnung,
Du bist Schutz, sei Du Rettung.
Gott mein Herr, in mir spüre ich nun
eine große Kraft, den Mut, gegen das Böse
aufzustehen um mit meiner schwachen Hand
Deinen Schutz über uns alle auszubreiten.
Du bist Rettung, Du bist Frieden,
Du bist die Kraft des Lebens,
niemals will ich vergessen."

Nicht alle Fascetten des "Vater unser" hatte ER mir abverlangt, nur genug, sich in Erinnerung zu bringen. Ich erkannte diese Wahrheit, und fühlte mich gleichzeitig unendlich glücklich, unendlich schwach und unendlich stark ... seine Botschaft. Und das Gebet wurde mein Gebet - für immer!
Und ein Hauch von Luftbewegung berührte mich sanft.
 



 
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