nachbild

Dimpfelmoser

Mitglied
nachbild

hinter der wand
schreit deine stimme
nach vergeltung
doch das blutrote staunen
verliert sich im raum​

lass mich ziehen
bittet eine unschärfe
im echo des glockenschlags
während ein zartes hauchen​
die falten einer erinnerung​
liebkost​

vor dem abgrund des dunkels
sah ich uns hocken
hand in hand
sterbende gebete inhalierend
das taube geschenk verrottet​
in meinem nachbild​

wann wirst du mir folgen?
 

Perry

Mitglied
Hallo Dimpfelmoser,
Ich lese das LI im Text als "Verstorbenen", der seine ehemalige Lebenspartnerin fragt, wann sie endlich die letzte Reise zu ihm im Jenseits antritt.
Konstruktiv ist mir der Titel etwas zu allgemein gehalten, den "Nachbild" verbinde Ich eher mit einer Kopie als mit einer Nachfolge.
Gern in diese Seance eingetaucht und LG
Manfred
 

Frodomir

Mitglied
Hallo Dimpfelmoser,

ich finde dein Gedicht interessant, aber ich bin mir ehrlichgesagt nicht sicher, ob sich mir dessen Sinn gänzlich erschließt. Prinzipiell lese ich es so wie Perry, aber immer, wenn ich versuche, das Gedicht genauer zu verstehen, verschließt es sich mir. Vielleicht kannst du uns etwas auf die Sprünge helfen?

Viele Grüße
Frodomir
 

Dimpfelmoser

Mitglied
Lieber Manfred, lieber Frodomir,

mit etwas Verzögerung zunächst einen herzlichen Dank an euch für eure Reaktionen.
Bei diesem Gedicht habe ich versucht, mich – nicht zum ersten Mal – mit Aspekten eines Verlustempfindens zu beschäftigen; ich meiner eigenen Lesart hängen die drei Strophen lose zusammen; ich versuche mal, meine Gedanken dazu kurz zu skizzieren, ohne ganz genau zu wissen, ob dies wirklich schlüssig ist.

In der ersten ist es das lyrische Du, welches einen Verlust nicht mehr rückgängig machen kann, Vergeltung fordert, doch warum? Von wem? Ist es nicht selber vielleicht Urheber des Unglücks, des Verlusts (dessen Ursache durchaus das „taube Geschenk“ sein könnte)? Zugleich trennt es eine Barriere (nicht ganz abwegig: Drogen, auch die sterbenden Gebete deuten für mich darauf hin, das Drogen im Spiel sind) von echter physischen Erfahrung der Folge dessen, was passiert ist. Im physischen Raum schwindet langsam das „blutrote Staunen“, also die Ahnung, oder vielmehr das Nicht-Verstehen von etwas Gewaltsamen; es verliert sich allmählich, ist bald schon nicht mehr be-greifbar.

Die dritte Strophe aus der Sicht des LI ist einerseits Rückschau auf die toxische Zweisamkeit, mit „Gebeten“, die jedoch keinen Schutz gegen den Abgrund, gegen einen Sturz in diesen bieten konnten, sondern wohl eher eine weitere Dimension des Toxischen sind (der Abgrund dabei vielleicht ein Symbol eines Drogenrausches). Dann blickt das LI auf das eigene Nachbild im Diesseits (Nachbild symbolisiert hier für mich tatsächlich nicht Kopie, sondern etwas allmählich Verblassendes, hier wohl die, tja, verrottende Inkarnation des LI im Diesseits). Die abschließende Frage ist nicht fordernd oder bittend gestellt, eher nüchtern das Unausweichliche (eine Wiedervereinigung im Nicht-Sein) erwartend, dessen Zeitpunkt nur noch nicht feststeht.

Falls nicht vielleicht doch die Bitte aus Strophe zwei Erfolg hat? Die Bitte, einen Abschluss zu finden? Die Unschärfe, also vielleicht auch eine Art Nachbild, sehnt sich danach, losgelassen zu werden (vom lyrischen Du?), bittet gewissermaßen, den Verlust doch zu akzeptieren (im Glockenschlag, der den Gang ins Jenseits begleitet). Und sich dabei von Erinnerungen leiten zu lassen, die offenbar losgelöst sind von den Gewaltandeutungen aus erster und dritter Strophe.

Das Gedicht ist recht schnell entstanden, also nicht ‚komponiert‘. Daher, ergibt das irgendwie Sinn?

LG Dimpfelmoser
 

Frodomir

Mitglied
Hallo Dimpfelmoser,

Das Gedicht ist recht schnell entstanden, also nicht ‚komponiert‘. Daher, ergibt das irgendwie Sinn?
Ja, das Gedicht ergibt mit deinen Erklärungen irgendwie Sinn. Und wenn ich das so betone, dann meine ich, dass der Leser durchaus, wenn er das Gedicht ohne Erläuterung liest, Andeutungen, Fragmente und einzelne Passagen zu einer Orientierung im Text verbinden kann, aber es fehlt meiner Ansicht nach an einer übergeordneten Kohärenz, welche dem Gedicht eine innere Struktur gibt, die über das Andeutungshafte hinaus geht.

Zur Orientierunglosigkeit trägt zudem auch die Abstraktion des Werkes bei. Nur wenige Passagen sind sinnlich erfassbar, aber es gibt häufig nicht zu fassende Sentenzen wie

doch das blutrote staunen
lass mich ziehen
bittet eine unschärfe
oder

vor dem abgrund des dunkels
Im Stil ähnlich, aber durch das Verb inhalieren sinnhaft erfassbarer und dadurch für mich viel stärker ist dagegen ein Vers wie
sterbende gebete inhalierend
Getragen von solchen guten Versen und mit einer besseren Kohärenz hätte dein Gedicht in meinen Augen noch mehr Potenzial, dem Leser seine im vorliegenden Fall nur angedeutete Kraft wirksam zu vermitteln.

Ich habe mich dennoch gern mit deinem Gedicht beschäftigt.

Viele Grüße
Frodomir
 

sufnus

Mitglied
Hey!

Deine Zeilen haben durchaus was, lieber Dimpfelmoser, wobei aber Deine Erklärung für die Schreibhintergrund meinen Lesegenuss zwar nicht gerade stört, ihn aber auch nicht sonderlich vermehrt.

Tatsächlich habe ich Deine Eindrücke, lieber Frodomir, sehr gerne nachvollzogen - und biege dann bei meinem Zwischenfazit anders herum ab, als Du es getan hast: Ich teile nämlich ganz Deine Einschätzung, Frodomir, dass die Zeilen durch das Fehlen einer gewissen Sinn-Kohärenz etwas Fragmentarisches haben und man nicht so ganz "durchblickt", ebenso gehe ich mit, dass einiges bei diesen Zeilen recht abstrakt gehalten ist, wobei ich es weniger an einzelnen Formulierungen festmachen würde als an der Unbestimmtheit von lyrischem Ich und lyrischem Du. Insgesamt empfinde ich aber die etwas brüchige Sinnverweigerung des Gedichts aber als sehr passend zum emotionalen Grundtenor der Zeilen.

Ich würde mir die Sprache des Gedichts daher nicht wirklich kohärenter oder "mitteilender" wünschen. Eher stört mich sogar, dass durch "erklärende" Adjektive und Verben zu stark konturierte Bilder gezeichnet werden, denen es etwas an "lebendiger Unschärfe" mangelt. Wenn mir etwa explizit mitgeteilt wird, dass die Stimme des lyr. Dus "schreit", bin ich als Leser von der noch wenig greifbaren "Stimme" (die ja noch die unterschiedlichsten Möglichkeiten der Entäußerung in sich trägt) am Nasenring bis zum "schreien" geführt worden: Deine Stimme = schreien.

Diese sprachliche Festlegung ist per se nichts, was mich in jedem Fall bei Lyrik stören würde, aber sie passt dann tatsächlich besser zu einer stärker erzählenden (und dann auch: konsistenteren) Lyrik, die ja nicht gleich eine vollgültige Ballade sein muss, aber doch ein eher fassliches Bild präsentiert (das läge dann vielleicht ungefähr auf Deiner Poetologie, lieber Frodomir?). Im vorliegenden Gedicht werden die sprachlich relativ festgefügten Formulierungen in einen relativ unstrukturierten, leeren Raum eingepasst und stehen da nun etwas verloren herum.

Meine Vorstellung wäre, die sprachlichen Elemente des Gedichts stärker zu "entgrenzen". Das ist eine Art Reduktionsprozess und an dessen Ende steht ein fehlender Sinn gefüllt mir erfüllender Leere, wobei dann die Schwierigkeit darin liegt, dass diese Nichtgegenständlichkeit nicht ins Unsinnliche absinkt.

Und falls jemand bis hierher durchgehalten hat und irgendetwas von Obigem verstanden hat, wäre ich für eine Erklärung dankbar. ;)

LG!

S.

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P.S.:
Ich verstehe jetzt mal meinen verdrehten Sermon als Herausforderung an mich selbst und versuche, Dein Gedicht, lieber Dimpfelmoser nach meinen unverständlichen "Vorgaben" umzumodeln, vielleicht wird davon irgend etwas klarer. Es geht mir dabei nicht um eine "Verbesserung" Deines Gedichts, sondern darum ein ganz anderes Gedicht an Deinen Stichworten entlang zu schreiben, das ungefähr verdeutlicht, was ich womöglich in meinem wirren Kommentar auszudrücken versucht habe. Mit dieser inhaltlichen Freiheit habe ich auch zwei Elemente, das geliebte Kind und den Verweis auf die Taube von Chagall, eingefügt, die so nichts mit Deinem Gedicht zu tun haben, aber als eine Art "Platzhalter" andeuten könnten, wie sich ein (gemäßigt) sinnentziehendes Gedicht im sinn-lichen verankern könnte.



nachbild

hinter der wand
geliebtes kind
ist dein schrei ein summen
bei der suche nach vergeltung
doch blutrot sind verluste leer
wir bleiben unsichtbar im raum

so lass mich ziehen
die kontaktunschärfe einer bitte
suchteams überprüfen den wind
auf glockenschläge
überhauchte falten
liebkoste erinnerung

an der kante der dunkelheit
gibt es uns zu sehen
hand in hand
den atem alter gebete inhalieren
die taube verschenkung
im nachbild chagallblau versehrt

warum nur kannst du mir
noch immer nicht folgen?
 



 
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