Nachforschungen

AZI

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Nachforschungen
"Was ist mit ihr? Ihr Gesicht, es wird ganz blau?"
"Bitte geh hinaus, das ist nichts, wir kriegen das hin."
"Nichts, das ist doch nicht normal, das weiß ich."
"Nein, das ist nicht normal, aber auch nicht schlimm, jetzt GEH HINAUS!"
Edeltraud verließ den Kellerraum, nicht ohne einen ängstlichen Blick auf ihre Töchter zu werfen. Ein Helfer schloss die Kellertür und so stand sie allein auf dem Gang, ohne ihre Töchter sehen zu können, ohne helfen zu können. Sie fühlte sich so hilflos, so verängstigt. Und sie fühlte Schuld. Sie hätte niemals zulassen dürfen, dass er das ihren Kindern antat. Kommunismus hin oder her. Sie waren Kinder, ihre Kinder, die sie liebte und die er eigentlich auch lieben sollte. Doch irgendwie war sie sich nicht sicher darüber, ob er wirklich Gefühle für die Kinder hegte.

Ahanit erwachte in dem Gefühl der Zweifel und Hilflosigkeit. Sie hatte kein Verständnis dafür, dass ihre Großmutter anscheinend dem Eingriff zugestimmt hatte, doch war ihr auch klar, dass die Zeiten kurz nach dem Krieg andere waren. Dass man alles daran setzte, einen neuen anscheinend vor der Tür stehenden Krieg zu verhindern. Der letzte war doch schon schlimm genug gewesen. Der Kommunismus wurde als das Übelste angesehen, was es gab, und im Ansinnen, diesen zu bekämpfen, hatte man auch keine Skrupel, den ein oder anderen Faschisten in den Dienst gegen den Kommunismus zu stellen. Man denke nur an Wernher von Braun, oder Kurt Blome. Aus heutiger Sicht ein nicht akzeptables Verhalten, von Braun ging ja noch, doch Blome hatte mit Krankheitserregern an Menschen experimentiert, den ungeschoren davon kommen zu lassen und sogar noch in die eigenen Dienste zu nehmen, nein, das war eindeutig nicht richtig, genauso wenig wie Experimente an Kindern.
Aber das waren andere Zeiten gewesen, andere Gedanken, andere Ziele.

Ihr ureigenes Ziel für heute würde sein, etwas mehr über ihre Großmutter und Mutter zu finden.
Ahanit wusste, dass Ihre Großmutter kurz nach 54 in die DDR gegangen war, als Spionin für die Amerikaner und dass sie dort Heinz Gereg, ihren späteren Ehemann, kennen gelernt hatte. Ahanit's Mutter Rita war in ein Kinderheim gebracht worden. Sie hatte ihr oft erzählt, wie das gewesen war. Viele Kinder auf engstem Raum, bei jeder Kleinigkeit strafen, und dennoch etwas wie ein zuhause.

Heinz Gereg, der spätere Stiefvater, war nicht identisch mit dem leiblichen Vater, wie oftmals, nach der Flucht aus der DDR irgendwann 65 oder 66, von der Umgebung vermutet wurde. Er war bereits als Kind und Jugendlicher stämmig gewesen, mit dunklem Haar, wie sie von vielen Bildern her wusste, während der Vater in den Visionen schlank und blond war.
Edeltraut war 1974 in Frankfurt an Krebs gestorben. Ahanit erinnerte sich, in ihrer Kindheit mal mit ihrer Mutter das Grab besucht zu haben, das auf dem Frankfurter Zentralfriedhof gewesen war.

Was also kam als erster Weg in Frage? Ahanit entschied sich für das Standesamt. Geburts-, Sterbe- und Eheschließungsurkunden müsste man dort finden können. Die Frage war nur, wie lange diese aufbewahrt wurden.
Und dann wollte sie versuchen, Unterlagen über das Kinderheim zu finden, in dem ihre Mutter gewesen war. Theoretisch musste es ja Unterlagen über die Kinder geben, auch darüber, ob jemand versucht hatte, Kontakt aufzunehmen. Selbst wenn das Experiment gescheitert war, musste es doch irgendjemanden gegeben haben, der sich für das kleine Mädchen interessiert hatte.
Leider war das Heim 76 geschlossen worden, das würde also nicht einfach werden. Aber wie es so schön hieß, in der deutschen Bürokratie ging nichts verloren, schon gar keine Akten.

Aber nun hieß es erst einmal aufstehen und frühstücken. Ohne Kaffee lief bei Ahanit gar nichts, denn sie wurde dann unleidlich. Sie wusste, das Koffein abhängig machte, aber der Kaffee schmeckte einfach zu gut.

Nach dem Frühstück machte sie sich ausgehfertig und reinigte den Altar. Eine kleine Tasse Kaffee stellte sie als Opfer hin.
"Mecheibi em Ra", dann verließ sie das Haus in Richtung Frankfurt.
Ihr war klar, dass es ein langer Tag werden würde, und hoffte, dass sie nicht unverrichteter Dinge wieder heimkehren musste.

Die S-Bahn brauchte von dem Taunusstädtchen, in dem Ahanit lebte, bis in die Rhein-Main Metropole. Eine knappe dreiviertel Stunde und innerhalb Frankfurts dauerte es noch einmal genauso lang, bis Ahanit, mithilfe von U-Bahn und Straßenbahn, endlich dort ankam, wo sie hinwollte. Das Standesamt Mitte war ihr Ziel, es gab auch noch eines in Höchst, doch sie war sich sicher, dass ihre Großmutter in der Innenstadt gelebt hatte.

Zimmer 402 war für ihr Anliegen, laut Pförtner, das richtige.
Als sie vor dem Zimmer ankam, war der Gang recht leer, was in ihr die Hoffnung aufkeimen ließ, dass es wohl nicht zu lange dauern würde.
Ahanit klopfte und öffnete zaghaft die Tür.
"Kommen Sie ruhig herein" sagte ein netter Herr, der von einem Tresen abgeschirmt an einem Schreibtisch saß. Das Schild auf dem Tresen identifizierte ihn als Herrn Wecha. Er war etwa 45, recht schlank, doch ein leichter Ansatz von Bauch war nicht mehr zu verbergen. Das dunkle Haar begann bereits graue Schlieren zu zeigen, doch seine klugen braunen Augen zeugten von einer jugendlichen Energie, die in ihm ruhte.
Der Raum selbst war weiß gestrichen, was durch die Möbel in Eichenoptik und durch einige Kalender aber aufgelockert wurde, so dass keine Klinikatmosphäre entstand. Ahanit mochte keine weißen Räume, sie erschienen immer so kalt und abweisend, doch in der Kombination war es noch erträglich.
"Mein Name ist Wecha, was kann ich für Sie tun?"
"Guten Morgen, mein Name ist Ahanit Rait. Ich hätte gerne Auskunft über meine Großmutter Edeltraud Gereg, geborene Jakbit, sowie meine Mutter Rita Rait, geborene Jakbit, und wenn möglich, hätte ich auch gern Auskunft über meine Tante Elisabeth Jakbit, bei ihrem Namen bin ich mir aber nicht sicher, da sie bereits als Kind verstarb."
"Sie meinen wohl Gereg! Da bräuchte ich als erstes einmal Ihren Ausweis."
"Nein, meine Mutter und ihre Schwester hießen Jakbit. Sie waren uneheliche Kinder."
Ahanit reichte ihm ihren Ausweis, und er gab die Daten des Ausweises in den Computer ein.
"Uneheliche Kinder ur Zeit Ihrer Großmutter, oder ist es eine dieser super-jungen Großmütter, die mit 30 schon Enkel hatten? Welche Urkunden wollen Sie denn genau abfragen?"
"Ich hätte gern die Geburtsurkunden meiner Mutter und meiner Tante, die Sterbeurkunde meiner Großmutter und meiner Tante, sowie die Heiratsurkunde meiner Großmutter."
"Das geht nur, wenn diese standesamtlich relevanten Fälle auch hier in Frankfurt erfolgt sind."
"Außer bei der Heiratsurkunde bin ich mir recht sicher, dass es alles hier in Frankfurt passiert ist."
"Ah, da hab ich schon etwas, die Geburtsurkunde der Rita Jakbit 1950 und die Sterbeurkunde der Edeltraud Gereg 1974. Heiratsurkunde, Heiratsurkunde,... Ah, da haben wir sie ja 1966."
"Das hört sich ja wie ein voller Erfolg an", freute sich Ahanit, "fehlt nur noch meine Tante."
Doch statt der erhofften Antwort, sah sie nur in ein verkniffenes Gesicht. Herr Wecha suchte augenscheinlich, ohne weiterhin Erfolg verbuchen zu können.
"Das ist merkwürdig, ich habe hier einen Eintrag für eine Elisabeth Jakbit, aber keine Jahreszahl und auch keine Kennziffer, keine Information, was für eine Akte vorliegt. Wahrscheinlich ist da bei der Erfassung der alten Akten in den Computer ein bisschen was verloren gegangen. Haben Sie vielleicht eine Jahreszahl für mich, anhand der ich suchen kann?"
"Ja, ich weiß, dass sie irgendwann im Jahr 54 gestorben sein soll."
Herr Wecha suchte weiter, doch leider ohne Ergebnis. Nach einer Weile wandte er sich zu Ahanit um und lächelte sie an.
"Leider nichts, aber wenn Sie sicher sind, das Ihre Tante hier in Frankfurt verstarb, können wir das auch anhand der Jahreszahl im Archiv finden, dauert nur ein wenig länger.
Was die anderen Urkunden angeht, kann ich Ihnen keine Urkunde direkt ausdrucken, da nur die Namen der vorliegenden Urkunden in den Computer übernommen wurden. Das heißt, dass unsere Mitarbeiter die Urkunden aus dem Archiv holen und kopieren müssen. Wir schicken Ihnen die Kopien dann zu. Das macht 20 EUR für die Suche sowie 5 EUR für jede Urkundenkopie. Wenn Sie die Todesurkunde Ihrer Tante haben möchten, kostet das 55 EUR für die Suche, da es ohne genaue Kennnummer eine ziemlich Arbeit ist, zuzüglich Kopier-Gebühr versteht sich. Wenn Sie sicher sind, dass sie auch in Frankfurt geboren wurde, und Sie diese Urkunde auch suchen lassen wollen, kostet auch diese noch einmal 55 EUR ..."
"Naja, also ich glaub, die Geburtsurkunde meiner Tante brauche ich nicht unbedingt, die anderen Urkunden reichen mir erst einmal. Wie lange dauert das Zuschicken normalerweise?"
"Ein bis zwei Tage, wenn die Einträge Kennnummern haben, ohne Kennnummer kann es auch schon mal 2-3 Wochen dauern. Zahlen Sie bar oder mit Karte?"
"Ich zahle bar."

Kurze Zeit später verließ Ahanit das Standesamt. Das war schneller gegangen als gedacht, zwar ein teurer Spaß, aber das war es ihr wert.

Es war fast Mittag, und Ahanit überlegte sich, was sie als nächstes tun wollte. Erst einmal Mittagessen, oder gleich weiter und versuchen, etwas über das Kinderheim in Erfahrung zu bringen?

Sie entschied sich für das Kinderheim, Glückssträhnen waren da, ausgenutzt zu werden, also lieber gleich weiter, ehe sich die Strähne auflöste. Das Kinderheim hatte in Birstein gelegen, also machte sie sich auf zum Hauptbahnhof und suchte nach einer Verbindung.
Sie stellte fest, dass in einer halben Stunde ein Zug gehen würde, und holte sich sofort einen Fahrschein. Auf dem Weg zum Bahnsteig machte sie an einer der vielen Imbissbuden auf dem Bahnhof halt, holte sich ein Brötchen, einen Kaffee und eine Flasche Wasser. Die Fahrt würde etwa eine Stunde dauern, dann hieß es umsteigen und noch einmal ca. fünfzig Minuten mit dem Bus. In Momenten wie diesem bereute Ahanit, dass sie kein Auto hatte, denn mit dem Auto wären es maximal ein einhalb Stunden gewesen. Groß hörte sich der Unterschied zwar nicht an, doch wenn man bedachte, dass sie innerhalb Birsteins auch noch ein wenig Strecke würde zurück legen müssen...

12:30, der Zug setzte sich ruckelnd in Bewegung. Ahanit nahm ihr Essen zu sich und während die Landschaft außerhalb des Zuges sich von eng bebauter Stadt in Felder und Wald wandelte, versank sie in ihren Gedanken.

Was machte sie, wenn sie in Birstein nichts fand? Das Kinderheim war schon lange geschlossen, selbst wenn sie die Unterlagen fand, war es fraglich, ob man ihr auch jemanden nennen konnte, der damals dort lebte, oder beruflich tätig war. Die deutsche Bürokratie in Ehren, aber evtl. würde es mit dem Datenschutz Probleme geben. Doch irgendwie hatte sie das Gefühl, dass Ra, der Sonnengott, mit schützender Hand über sie wachte und der Glücksfaden noch ein wenig halten würde.

14:45, nach unendlich scheinender Bahn und Busfahrt war Ahanit endlich in Birstein angelangt. Nun musste sie sich aber eilen, nicht, dass sie zum Rathaus kam und die Herrschaften machten Feierabend.
Doch das Rathaus war noch offen und so ging sie zum Pförtner und erkundigte sich nach einem Ansprechpartner für ihr Ansinnen.

"Das alte Kinderheim? Meinen Sie das, das im Alten Herrenhaus untergebracht gewesen war? Das ist ja schon ewig her." Sagte der nette alte Mann, der sie mit blauen Augen von seinem Platz hinter der Glasscheibe musterte.
"Meine Mutter war damals in dem Heim gewesen, und ich suche Unterlagen und evtl. Zeugen für diese Zeit."
"Ohje, ich weiß gar nicht, ob es noch Unterlagen gibt, am besten fragen sie einmal im Archiv nach, das befindet sich aber nicht hier, sondern im neuen Industriegebiet. Wurde ausgelagert. Am besten fahren Sie mit dem Bus Nummer 2 und steigen an der Endstation aus. In Fahrtrichtung 100 Meter, dann rechts, die Straße bis zum Ende, und schon stehen Sie vor dem Archiv."
"Vielen Dank für Ihre Hilfe, und einen schönen Tag noch."

Nach dem guten Start in Frankfurt konnte es ja nicht ganz so einfach weitergehen, dachte sich Ahanit, als sie das Rathaus verließ, um die Haltestelle des Busses Nummer zwei zu finden, aber dennoch gleich ein netter Mann, der ihr weiterhalf, also hielt die Glückssträhne an, trotz weiterem Weg.
Ahanit fand das Archiv ohne Probleme. Auf dem Türschild stand, dass es noch bis 18.00 geöffnet hatte, es war gerade mal 15:30, also noch genügend Zeit. Sie ging hinein und sah sich nach einem Pförtner oder Hinweisschild um, doch hinter dem Eingang war nur ein kleiner Vorraum, der in einen Flur mündete. Ahanit ging den Flur entlang. Erst an einer Kreuzung mit einem weiteren Flur fand sie ein Hinweisschild.
"Auskunftsbüro bitte in Zimmer 203 anmelden"

Na Klasse und wo war Zimmer 203? Ahanit fand einen Aufzug und der Logik folgend fuhr sie in den zweiten Stock. In den meisten Gebäuden war die erste Zahl einer Zimmernummer auch die Stockwerksnummer, sie hoffte einfach, dass es hier auch so war. Sie fand das Zimmer 203 und klopfte. Nichts rührte sich, weswegen sie versuchte, die Tür zu öffnen, doch diese war abgeschlossen. Am Eingang stand bis 18.00 geöffnet, es konnte doch nicht sein, dass hier niemand war.
Ahanit ging ein Stück den Flur entlang und als sie gerade an einer anderen Tür klopfen wollte, öffnete sich eine Zimmertür. Eine ältere Dame mit grauem Haar und dicker Brille erschien. Auf ihrem altmodischen blaugrauen Kostüm prangte ein Namensschild, das sie als Frau Murea auswies.
"Suchen Sie jemanden?"
"Ja, ich wollte eine Auskunft aus dem Archiv, aber in dem Zimmer ist niemand."
"Sind Sie nicht ein wenig spät?"
"Spät? Entschuldigen Sie , aber auf der Tür unten steht geöffnet bis 18.00"
"Na wenn Sie meinen." Es war eindeutig, dass sie um diese Urzeit keine Störung mehr wünschte, und Ahanit bekam das Gefühl, dass sie hier wohl nicht weit kommen würde.
"Na, dann kommen Sie halt mit."
Die Frau ging zum Zimmer 203, schloss auf und setzte sich an ihren Schreibtisch. Ahanit folgte ihr und bemerkte sogleich, dass der Computer abgeschaltet war und sie auch keine Anstalten machte, ihn einzuschalten. Das konnte ja heiter werden.

"Guten Tag erst einmal, mein Name ist Ahanit Rait und ich suche nach Informationen über ein Kinderheim hier in Birstein, das etwa 1976 geschlossen wurde."
"Und wozu soll das gut sein?"
"Meine Mutter war in diesem Heim und ich würde gern mehr darüber erfahren."
"Und warum fragen Sie nicht einfach Ihre Mutter?"
"Sie starb vor 13 Jahren."
Die Miene der Frau begann ein wenig aufzuklären. Es war eindeutig, dass ihr der Job hier nicht schmeckte, doch diese Information ließ sie ein wenig sanfter werden.
"Oh, das tut mir Leid, mein Beileid. Wie hieß denn Ihre Mutter?"
"Rita Jakbit."
"Jakbit, Jakbit, ich glaube, ich erinnere mich, heiratete sie nicht später einen Herrn Rait??"
"Ja, kannten Sie sie etwa?"
"Oh ja, ich war selbst als Kind in dem Heim gewesen und als es aufgelöst wurde, half ich dabei, genau wie Ihre Mutter."
"Das freut mich, ich hatte schon Angst, es wäre evtl. unmöglich, jemanden zu finden, der sie von früher kennt. Es geht um folgendes: Ich hab ein wenig nachgeforscht und herausgefunden, dass meine Mutter schwer verletzt wurde, ehe sie in das Heim kam. Ich dachte mir, dass es im Heim dazu ja Unterlagen gegeben haben muss, etwa welche Verletzungen das waren, warum sie ins Heim eingewiesen wurde usw."
"Tut mir leid, aber die meisten Unterlagen wurden in den 80ern vernichtet, ich weiß auch nicht warum, vielleicht kam man nicht auf die Idee, dass sie noch in irgendeiner Form nützlich wären."
"Vernichtet, in einem Staat, der nichts lieber macht, als Aktenberge zu verursachen? Merkwürdig."
"So im Nachhinein betrachtet ist es wirklich merkwürdig, aber leider nicht mehr zu ändern."
"Schade, das wäre auch zuviel des Glückes gewesen. Sagen Sie , haben Sie vielleicht noch einige Erinnerungen an meine Mutter, ich meine nicht während der Auflösung des Heimes, sondern aus ihrer Kindheit?"
"Oh je, wir waren so viele Kinder... Nur eines hat sich mir in die Erinnerung gebrannt, was Explizit mit Ihrer Mutter zu tun hatte: Bei einem Ausflug hielt ein schwarzes großes Auto neben unserer Gruppe, eine Frau sprang heraus und versuchte sie zu entführen. Die Entführung hat nicht geklappt, deine Mutter wehrte sich heftig und auch die Erziehrinnen sind sofort dazwischen gegangen. Es gab aber einen ziemlichen Aufruhr und wir wurde ermahnt, niemals zu Fremden ins Auto zu steigen und sofort Hilfe zu holen, wenn wir so etwas noch einmal mitbekommen und kein Erwachsener in der Nähe ist. Deswegen ist es mir auch im Gedächtnis geblieben."
"Ach, das ist ja interessant, davon wusste ich noch gar nichts. Schade, dass es keine Unterlagen mehr gibt, aber erinnern Sie vielleicht noch, wer damals als Erzieher im Heim tätig war? Irgendjemand, der mir mehr erzählen kann?"
"Tut mir leid, aber die meisten sind entweder tot oder weggezogen. Nur an einen erinnere ich mich noch, der fing aber erst nach der versuchten Entführung dort an."
"Naja, das wäre ja wenigstens etwas, er muss ja darüber informiert worden sein, oder?"
"Ja, bestimmt, er hat immer sehr viel mit uns Kindern geredet, ein netter Mann. Er heißt Aunu, Joseph Aunu. Er wohnt immer noch hier in Birstein"
"Aunu? Interessanter Name.."
"Oh ja, er war halb Amerikaner. Nach dem Wehrdienst ist er einfach geblieben, wollte uns Kindern helfen, über das Trauma hinwegzukommen. Er war kein normaler Erzieher, nein, er hörte uns zu, hatte immer ein Ohr für unsere Sorgen. Ihm konnte man alles erzählen, und war es auch noch so ungewöhnlich. Ich habe immer noch Kontakt zu ihm, auch wenn er ein wenig merkwürdig geworden ist. Warten Sie , ich hab seine Adresse hier irgendwo."
Frau Murea begann in einem Notizkasten zu wühlen.
"Da hab ich ihn: Joseph Aunu, Im Steinweg 122, Telefon 06054/999666"
"Vielen Dank, wie war noch mal die Nummer?"

Voller Vorfreude schrieb Ahanit die Adresse und Nummer auf. Unterlagen wühlen wäre zwar auch nett gewesen, aber Zeugen waren genauso gut. Natürlich konnte es sein, das sie sich nicht mehr an das ein oder andere erinnerten, doch es war besser als nichts. Sie beschloss, Herrn Aunu gleich von der nächsten Telefonzelle aus anzurufen. Entgegen dem allgemeinen Trend zum Zweithandy, besaß sie nämlich gar kein Handy, und war somit auf die altmodische Telefonzelle angewiesen.
Vielleicht hielt ihr Glück noch ein wenig an und sie konnte den Mann heute noch besuchen, ehe sie wieder zurück nach Frankfurt musste. Der letzte Bus würde 20.12 am Busbahnhof abfahren. Noch hatte sie Zeit.

Es dauerte, bis sie eine Telefonzelle fand, doch es freute sie um so mehr, dass sie tatsächlich jemanden erreichte, zwar nicht Joseph Aunu selbst, sondern seine Tochter, die Schneider hieß, doch diese teilte ihr mit, dass sich ihr Vater immer freute, wenn er mit jemandem über die Zeiten als Pfleger im Heim reden konnte.
Er selbst war gerade beim Arzt, doch er würde bald zurückkommen und es wäre doch eine nette Überraschung für ihn, jemanden zu haben, dem er erzählen konnte.

So machte sich Ahanit auf in den Steinweg. Das Haus, in dem Aunu wohnte, war ein kleines gepflegtes Einfamilien Haus, cremefarben gestrichen, mit dunkelbraunem Fenster- und Türrahmen. Ein kleiner Steingarten lag zwischen Straße und Haus.
Ahanit klingelte und eine nette gepflegte Frau öffnete. Sie war wohl Mitte vierzig, mit kurzem braunem modisch frisiertem Haar. Eine beige Bluse und ein dunkelbrauner Rock ließen ihre gute Figur zur Geltung kommen.
"Hallo, Sie müssen Frau Rait sein. Kommen Sie doch herein."
"Guten Tag, Frau Schneider, danke für diese kurzfristige Einladung."
"Gehen Sie gerade durch ins Wohnzimmer, mein Vater ist bereits wieder zu Hause, er wollte sich nur erst ein wenig frisch machen. Er freut sich schon darauf, wieder über alte Zeiten reden zu können. Er liebte die Arbeit im Kinderheim."
"Das freut mich, hoffentlich kann er mir auch weiterhelfen."

Ahanit ging ins Wohnzimmer. Der Raum war groß, die cremefarbenen Wände waren übersät mit Bildern und Setzkästen. An einer Wand stand ein wuchtiger, altmodischer, dunkelbrauner Schrank. Die Decke war mit dunkel gebeiztem Holz verkleidet und ließ den Raum irgendwie kleiner wirken. Das helle Parkett des Bodens und die hellgraue moderne Couch standen dazu in einem extremen Kontrast. Man merkte, dass hier mehr als eine Generation wohnte.

"Wollen Sie einen Kaffee?"
"Oh ja, das wäre nett."
Frau Schneider ließ sie allein, und so nahm sich Ahanit die Zeit, einige Bilder zu betrachten. Neben vielen Familienfotos fand sie auch einige Bilder aus dem Kinderheim. Der Mann musste seine Arbeit echt geliebt haben. Ahanit kam zum Schrank, auch in diesem standen einige Bilder. Eines davon fesselte ihre Aufmerksamkeit. Das schwarzweiß Foto zeigte mehrere Männer, teilweise in Laborkitteln, teilweise in Uniform, und einer davon kam ihr schmerzlich bekannt vor. Blond, helle stechende Augen, ihr Großvater war auf dem Bild...

"Hallo junge Frau, gefallen Ihnen die Bilder?" Joseph Aunu war eindeutig jenseits der siebzig. Das graue Haar bildete nur noch einen Haarkranz, und trotz eindeutiger Gebrechlichkeit war immer noch zu erkennen, dass er ein stattlicher Mann gewesen war. Er maß mindestens eins achtzig, und es war nicht schwer, ihn in einer Uniform vor dem geistigen Auge erscheinen zu lassen. Ahanit, die sich ihm zugewandt hatte, versuchte die Überraschung zu verbergen. Ihr war klar, dass dieser Mann genau wie ihr echter Großvater auf diesem Bild war, dass sie sich kannten. Ihre Gedanken rotierten. Was hatte das zu bedeuten?
"Ja, ja, schöne Bilder, einige aus dem Kinderheim kenn ich sogar, von den Alben meiner Mutter. Ich heiße übrigens Ahanit Rait."
"Meine Tochter sagte mir schon, wer Sie sind. Sie sagte auch, dass Sie gerne etwas über Ihre Mutter wissen wollen."
"Oh ja, es wäre schön, wenn Sie mir etwas über sie und ihre Zeit im Heim erzählen könnten." Ahanit überspielte ihre Unsicherheit, dennoch kam irgendwie ein ungutes Gefühl in ihr auf.
"Ahanit Rait, Sie sind die Tochter von Rita Rait, geborene Jakbit."
"Sie erinnern sich an meine Mutter?"
"Ich erinnere mich auch an Sie, Ahanit, immerhin hatte Ihre Mutter geholfen, das Heim aufzulösen. Sie hatte Sie immer dabei. Ich erinnere mich noch genau, dass Sie , mit Ihren gerade mal eineinhalb Jahren immer dasselbe zu essen haben wollten, wie alle anderen, und Sie haben nicht einen Bissen angerührt, bis Sie gesehen hatten, dass man Ihnen dasselbe klein gemacht auf Ihren Teller getan hatte.
Oh und ich erinnere mich auch an Ihren Großvater, der Ihnen immer, wenn Sie gerade frisch eingekleidet waren einen Mohrenkopf zugesteckt hat."
"Sie meinen Heinz Gereg, Mamas Stiefvater?" An die Geschichte erinnerte sich Ahanit nur zu gut, ihre Mutter hatte sie ihr oft genug erzählt.
"Stiefvater? Soweit ich weiß, ist er ihr Großvater, auch wenn er zur Zeit, als ihre Mutter geboren wurde, nicht mit ihrer Großmutter verheiratet gewesen war. Wie geht es dem alten Schwerenöter eigentlich? Und vor allem, wie geht es Ihrer Mutter?"
"Tut mir leid, aber sie sind beide bereits tot. Ich habe einige Nachforschungen angestellt, deswegen bin ich auch hier, ich habe nämlich herausgefunden, dass er nicht der Vater meiner Mutter sein kann. Genau genommen gibt es einige Dinge, die sehr merkwürdig sind in dieser Sache.
Sagen Sie , was wissen Sie eigentlich von der versuchten Entführung?"
"Entführung? Was für eine Entführung? Ich weiß nichts von einer Entführung." Von einer Sekunde zur anderen schien sich der alte Mann zu wandeln. Im Gegensatz zu Ahanit gelang es ihm nicht, seine Unruhe und Verwirrung zu verbergen, und ihr wurde klar, dass sie einen wunden Punkt gefunden hatte.
"Kurz bevor sie anfingen, versuchte jemand, meine Mutter zu entführen. Sämtliche Kinder wurden über Vorsichtsmaßnahmen aufgeklärt, folglich müssen Sie als Pfleger doch erst recht Bescheid gewusst haben."
"Ach das, das war nur ein Missverständnis gewesen, dennoch nahm man es als Anlass, einige Sicherheitsinstruktionen zu verfassen. Wer hätte auch Interesse an einem kleinen misshandelten Mädchen." Glaubhaft kam das nicht rüber und Ahanit wurde nur noch aufmerksamer.
"Inwiefern misshandelt?"
"Rita wurde von ihrer eigenen Mutter fast zu Tode geprügelt. Wussten Sie das nicht? Naja. Das arme Kind hatte schwere Kopfverletzungen, ich vermute mal, sie konnte sich nicht daran erinnern."
"Ach(, dann hat also meine Großmutter meine Tante auf dem Gewissen?"
"Tante, deine Mutter hatte keine Geschwister."
"Doch hatte sie, das weiß ich von meinem Stiefopa."
"So, hat er dir etwas erzählt, zu dumm."
"Ja, er hat mir etwas erzählt und ich weiß auch, dass Sie die Wahrheit kennen. Ich habe das Bild im Schrank gesehen, Sie wissen haargenau, wer mein echter Großvater ist.."
"Du weißt gar nichts, die Sache ist viel zu hoch, steck deine Nase lieber nicht in Dinge, die dich nichts angehen, und jetzt RAUS."
"Ich gehe, aber glauben Sie ja nicht, ich lasse das Ganze auf sich beruhen."

Ahanit war wütend, auch über sich selbst, wenn sie vorsichtiger gewesen wäre, hätte sie vielleicht mehr heraus bekommen können. Sie drehte sich zum Gehen , als sie die etwas verwirrte Frau Schneider in der Tür sah.
"Vielen Dank, Frau Schneider, Sie haben mir sehr weitergeholfen."
Die Ärmste war ein wenig schockiert und begleitete Ahanit zur Tür.
"Es tut mir leid, ich weiß nicht, was in meinen Vater gefahren ist, normalerweise gehört es zu seiner Lieblingsbeschäftigung, von der alten Zeit zu reden. Ich habe noch nie erlebt, dass er so reagiert. "
"Scheinbar habe ich die falschen Fragen gestellt. Nochmals vielen Dank für Ihre Gastfreundschaft."
"Nichts zu danken, versuchen Sie es doch einfach noch einmal in ein paar Tagen, vermutlich hatte er einfach einen schlechten Tag. Er ist alt und langsam aber sicher wird er etwas merkwürdig."

Ahanit schluckte ihren Kommentar herunter und verabschiedete sich freundlich. Auf dem Weg zum Busbahnhof wurde ihr klar, dass es wohl keine gute Idee gewesen war, ihren Großvater und das Bild in Zusammenhang zu bringen, dem alten Mann musste klar sein, dass sie gar kein Bild von ihm kennen konnte. Es sei denn,... ihr Stiefgroßvater hatte ihn ebenfalls gekannt. Doch wenn dem so war, dann fragte sie sich, warum er nie etwas davon gesagt hatte. Die Sache wurde immer undurchsichtiger.
Eines war ihr jedoch sehr bewusst geworden, dieser Mann, Aunu, war alles andere als ein Pfleger gewesen.

Gegen 22.00 war Ahanit endlich wieder zu Hause. Eigentlich war es ein voller Erfolg gewesen, dennoch hatte sie das Gefühl, irgendwie verloren zu haben.
Sie machte sich noch etwas zu essen und döste bald vor dem Fernseher ein.

Ein Telefon klingelte und eine Männerstimme, aus der hohes Alter sprach, meldete sich.
"Yes"
"Ich hatte heute Besuch. Ihre Enkelin ist auf der Suche nach der Vergangenheit."
"Damit haben wir irgendwann gerechnet."
"Haben Sie auch damit gerechnet, dass sie Sie wieder erkennt."
"Was soll das heißen?"
"Ahanit hat Sie erkannt, auf unserem Abschiedsbild."
"Das ist unmöglich, es sei denn...."
In dieser Sekunde fühlte Ahanit eine Kälte, einen tastenden Sinn, wie sie es noch nie erlebt hatte. Stechende blaue Augen bohrten sich in ihre Gedanken.
Sie schreckte hoch, frierend völlig außer Atem, saß sie aufrecht im Bett, der Fernseher dudelte unbeachtet.
Ihr war klar, dass ihr Großvater soeben nach ihr getastet hatte und irgendwie machte ihr das Angst.
 



 
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