Liebe Mimi,
wenn ich den richtigen Ton nicht getroffen habe, möchte ich mich bei dir entschuldigen. Wenn ich kritisiere, bemühe ich mich immer um strengste Sachlichkeit, und dabei ist der Sprachduktus stets sehr kühl. Ich versichere dir, dass ich nicht einmal daran gedacht habe, dich in irgendeiner Form zu verletzen. Auch das "wir" möchte ich zurücknehmen. Bin da beim Schreiben einfach abgeglitten.
Zur Sache: Ich weiß wohl, was Kurzprosa ist, ich fürchte nur, wir beide haben ein unterschiedliches Verständnis. Lass mich das mal an ein paar Erläuterungen u.a. über die Kurzgeschichte, die sehr viel, aber nicht alles mit einer Kurzprosa gemein hat, darstellen.
Zu deinen Anmerkungen:
● Der Umfang der Textlänge ist häufig geringer
Mir ist kein Kurz-Text bekannt, der länger ist als eine Kurzgeschichte. Das ergibt sich auch aus einer logischen Betrachtung: Wenn Kurzprosa nur eine Szene beschreibt bzw. Skizze ist, kann der Umfang nie größer sein als bei einer Kurzgeschichte, in der die Charaktere beschrieben sind, es eine sog. Raumbeschreibung gibt, in der Mehrzahl Konflikt und Handlung vorliegen, eine Konfliktlösung beschrieben wird und es vielleicht noch eine Pointe gibt. Die Kurzprosa ist also immer (nicht häufiger) kürzer als die Story.
● Unmittelbarer Einstieg ins Geschehen, keine Einleitung
Erstes ist zum Teil richtig, zweites falsch. Es gibt bei einer guten Szene immer einen Einstieg; bei der Kurzprosa ist er extrem gerafft, bei der Story extensiv durch Beschreibung der Charaktere und Raumbeschreibung. Bei einer Einleitung, das geht schon aus dem Wort hervor, wird ein Sachverhalt eingeleitet, was ja jeder Schilderung gut tut (siehe meine Kurzprosa hier im Forum. Da geht es gar nicht ohne Einleitung). Es gibt natürlich Themen, wo man auf eine Einleitung verzichten könnte, das will ich gar nicht abstreiten. Also: So allgemeingültig, wie du deine These darstellst, ist sie nicht.
● Keine ausführlichen Informationen oder Beschreibung zu den Figuren oder zum Ort der Geschichte
Beschreibungen einer Figur sind immer das letzte Mittel. Viel besser ist es, wenn sich eine Figur selbst beschreibt durch Dialog oder Handlung. Deine Geschichte zeigt das ja in Ansätzen; das nächtliche Tasten zum Fenster und der Blick nach draußen charakterisieren sie ja. Und der Ort der Geschichte ist ja bisweilen ungeheuer wichtig. Sieh das nicht geographisch, sondern als Beitrag einer Geschichte. Das Bett, die Küche, das Fenster - alles Orte der Handlung.
● Beschränkung auf ein (zentrales) Thema
Das muss es wohl in Anbetracht der Kürze.
●Präzision und Verdichtung des Inhalts
Und auch das ergibt sich aus der Kürze
● Offenes Ende, keine Auflösung
Das ist für mich der kapitalste Unfug. Ich weiß, die Theorie geistert seit Jahrzehnten im deutschsprachigen Raum herum, und jeder übernimmt sie gedankenlos vom Vorgänger. Alle Schulen, auch die Schreibschulen, lehren diesen Mist (Ja, mir treibts den Blutdruck hoch!).
Ich frage jetzt so provokant wie berechtigt: Lest ihr alle nicht? Schau dir die Weltelite der Kurzgeschichte an: Poe (der Begründer), Twain, Bierce, Highsmith, O.Henry, Steinbeck, Thurber, Saki, Slezar, Bradbury, Malamud, Dahl, Monroe etc. Sie alle haben verfasst oder verfassen Plotgeschichten mit Anfang (Einführung/Exposition/Raumbeschreibung), Mitte (Handlung und Konflikt) und Ende (Lösung, Pointe/Wende).
Jede Geschichte enthält in irgendeiner Form eine Botschaft. Wie soll die aussehen, wenn die Hälfte der Geschichte fehlt? Ich weiß, es gibt genügend Kurzprosa und Kurzgeschichten, wo dieser Aufbau nicht möglich ist. Die haben dann anstelle der Auflösung ein anders gestaltetes Ende, etwa eine Erkenntnis.
Ich habe vor vielen Jahren diese kastrierten Kurzgeschichten mit offenem Ende in einer Publikation einmal die "Deutsche Kurzgeschichte" genannt. Den Begriff findest du inzwischen in Wikipedia.
Man kann nach der Ursache für diese Form fragen. Ich vermute, es liegt an der Phantasielosigkeit. Kein Mensch, die Literaten inklusive, will sich noch eine Full-Plot-Story (so nennt man diese vollständigen Geschichten) ausdenken. Hier im Forum und auch anderswo sieht man es besonders deutlich.
Ich empfehle dringend, Bölls "Wanderer, kommst du nach Spa" und Borcherts "Nachts schlafen die Ratten doch" zu lesen. Da wirst du meine Ausführungen bestätigt sehen. Es ist beispielhafte Kurzprosa, obwohl Böll beim Umfang überzieht und den Text folglich als Kurzgeschichte betitelt.
Bei der Analyse eines Textes gehe ich immer folgendermaßen vor: Ich trenne das Beiwerk, den Schmuck, und die Stimmungsmacher vom Kern. Was dann übrig bleibt, fasse ich zusammen. In deinem Fall: Eine weibliche Person von 15 bis 65 Jahren kann nicht schlafen. Im letzten Satz erfährt man, dass der Grund dafür eine nicht definierte Tat ist. Sie würde sie ein zweites Mal begehen. Das Alter ergibt sich aus der Tatsache, dass sie in einem Büro arbeitet. Mehr erfährt der Leser nicht.
Ein Mensch kann nicht einschlafen - das ist der Inbegriff von Alltag und passiert ca. 3 Mrd. mal am Tag. Mit dem Alltag muss aber man sehr gezielt vorgehen. Alltag interessiert nämlich keinen Menschen, vor allem keinen Leser. Anders ist es, wenn sich aus der Alltagssituation eine Geschichte, ein Vorgang, Unglück oder eine Handlung etc. entwickelt. Das aber fehlt bei dir völlig. Es bleibt mit dem Beiwerk gem. meiner Auflistung beim Allerwelts-Alltag.
Man muss sich grundsätzlich fragen, was man mit dem Leser vorhat. Mein Anspruch z.B. ist es, einen interessanten, nach Möglichkeit spannenden, vor allem einen unterhaltsamen (wir machen ja Unterhaltungsliteratur und keine hochgestochene Literatur) Text abzuliefern, wo er am Schluss grinst und sagt "wow" und "mehr davon". Ich versuche, Bilder zu zeichnen mit dem Ziel, dass sich der Leser in die Figur und den Sachverhalt hineindenkt (Hollywood macht das übrigens seit 100 Jahren). Diese Qualität bei den Kurztexten gibt es nicht mehr, aber ich denke, wir sollten uns bemühen, sie zu erreichen.
Deine Anmerkung:
Sicherlich kann man auch einen Text kritisieren, weil dem Leser beispielsweise der Schreibstil der Autorin nicht gefällt oder ihn der Inhalt der Geschichte thematisch nicht anspricht, allerdings sind das eher Fragen des persönlichen Geschmacks (subjektiv) und kein Maßstab oder Kriterium für handwerkliche Qualitätsmängel (objektiv).
Nein. Wenn ich sehe, dass sich jemand um einen ordentlichen Schreibstil bemüht hat, würde ich nie kritisieren. Und auch das Thema des Autors ist für mich integer. Ich habe hier aber schon oberflächliche, ja schlampige Arbeit gesehen, die man niemandem anbieten sollte, und da halte ich nicht still.
Ich hoffe, dass meine Antwort für dich in irgendeiner Form bereichernd war und wünsche dir noch einen schönen Sonntag.
Gruß
Bo-ehd