Nachruf

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Matula

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Mit Erstaunen lese ich in seinem Nachruf, dass Professor Müller-Maisenau ein Doyen der einheimischen Psychologie, ein Brückenbauer zwischen den Schulrichtungen und der wohl bedeutendste Vertreter der körperzentrierten Psychotherapie war. Ja allerhand! Da dachte ich vor vielen Jahren, ich hätte es mit einem Möchtegern-Dozenten zu tun, der zwar akademisch ambitioniert, aber durch verschiedene Interessen und eine Vorliebe für Genüsse aller Art, auf dem Weg zur Venia Legendi straucheln würde. Sicher konnte ich auf Grund meiner Jugend nicht erkennen, welches intellektuelle Potential in diesem Mann steckte. Ich war ja auch nur seine Schreibkraft. Ich tippte seine Briefe und die ersten Kapitel seiner Habilitationsschrift, ging in die Universitätsbibliothek, um Bücher auszuleihen oder zurückzubringen und durfte Post, die ihm lästig war, selbständig beantworten.

Die körperzentrierte Psychotherapie war mir ein Buch mit sieben Siegeln. Wenn ich Herrn Müller-Maisenau danach fragte, sagte er: "Schauen Sie, es geht um den Leib-Seele-Dualismus, von dem Sie sicher schon gehört haben. Unser Körper molestiert uns von dem Moment an, in dem wir ihn beziehen. Der schreiende Säugling wie der jammernde Greis, die missgelaunte Matrone wie der jähzornige Fettwanst zeigen uns die Bedeutung des Körpers für das menschliche Wohlbefinden. Zwischen Kindheit und Alter liegt die Zeit der sexuellen Selektion, in der es wieder um den Körper in Konkurrenz zu anderen Körpern geht. Damit steht fest, dass wir weniger an unseren seelischen Verletzungen als an unseren körperlichen Mängeln leiden. Selbst schöne, gesunde Frauen und Männer sind nicht davor gefeit. Sie werden von Alter und Verfall mitunter härter getroffen als die Kranken und Hässlichen. Unser therapeutischer Ansatz besteht in der Versöhnung der Seele mit dem Leib, indem wir Außen- und Selbstwahrnehmung erforschen und in Gleichklang zu bringen versuchen."

Solche Ausführungen erhellten mir zwar ansatzweise das psychologische Gedankengebäude des Herrn Doktor, nicht aber sein therapeutisches Instrumentarium. Er war damals Ende vierzig, ein wenig beleibt und stark kurzsichtig. Ich fragte mich insgeheim, ob er selbst an seinem Körper zu leiden hatte oder im Reinen mit ihm war. Jahre später traf ich zufällig eine seiner Patientinnen, die sich als Musterbeispiel des Erfolges der körperzentrierten Psychotherapie bezeichnete. Sie habe an einer seltenen, aber äußerst unangenehmen Krankheit gelitten, die man als "Trichotillomanie" bezeichne und im zwanghaften Ausreißen der eigenen Körperbehaarung bestehe. Herr Dr. Müller-Maisenau habe sie in langen Sitzungen davon überzeugen können, ihr gekraustes Haar als Zierde zu betrachten, den Juckreiz des nachwachsenden Haares zu ignorieren und Gefühle von Langeweile und Niedergeschlagenheit mit dem Zeichnen von Blumen zu bekämpfen. - Ich erinnere mich noch an die langen grauen Locken der Frau und den weinerlichen Singsang ihrer Stimme.

Herr Müller-Maisenau hatte viele Patienten, weil er ein Weib und drei Kinder zu versorgen hatte. So blieb wenig Zeit für die Wissenschaft, zumal er in seiner Freizeit gern lange schlief, für Familie und Freunde kochte und seine Hobbys pflegte. Dazu gehörte das Sammeln und Kultivieren von Kakteen, die Jagd nach seltenen Büchern in den Antiquariaten der Stadt und die Beschäftigung mit der Musik von Erik Satie. Umso mehr überrascht mich, dass seine Habilitationsschrift tatsächlich fertig geworden ist. Als ich meine Arbeit bei ihm beendete, umfasste sie einen ersten und zweiten Teil im Umfang von etwa achtzig Seiten. Er war inzwischen fünfzig geworden und behauptete, die neidische Kollegenschaft an der Universität werde seine Arbeit mit Sicherheit nicht wohlwollend begutachten.

Ich hatte Herrn Müller-Maisenau auch keineswegs als "Brückenbauer" in Erinnerung. Im Gegenteil. Ich erinnere mich an einige kurze Beiträge, die er an verschiedene Fachzeitschriften sandte, nachdem ich sie getippt hatte. Darin äußerte er sich sehr kritisch, um nicht zu sagen süffisant, über die Arbeiten von Kollegen, die nicht der körperzentrierten Psychotherapie anhingen. Ob diese Beiträge veröffentlicht wurden, entzieht sich meiner Kenntnis. Später sah ich ihn hin und wieder im Fernsehen, wo er seelische Begleiterscheinungen verschiedener Erkrankungen kommentierte. Auch bei solchen Gelegenheiten teilt er gern gegen andere Schulrichtungen aus.

Meine letzte Aufgabe bei den Müller-Maisenaus betraf den kleinen Engelbert, den Jüngsten der Familie, der mit der englischen Sprache auf Kriegsfuß stand. Ich besuchte ihn zweimal pro Woche, um ihm die Grammatik näherzubringen und seinen Wortschatz zu verbessern. Bei dieser Gelegenheit lernte ich die anderen Mitglieder der Familie kennen. Frau Müller-Maisenau war eine sehr attraktive, aber äußerst übellaunige Person. Nichts, was ihre Kinder sagten oder taten, schien vor ihrem strengen Blick bestehen zu können. Sie schimpfte, wenn ich kam, und wenn ich ging, schimpfte sie noch immer. Die Kinder ertrugen es mit stummer Gleichmut. "Sie ist in den Wechseljahren," behauptete der kleine Engelbert. "Es wäre besser, sie würden sich scheiden lassen."

Wenig später kam es tatsächlich zur Scheidung. Eine fidele Schwedin war aufgetaucht und hatte Herrn Müller-Maisenau körperzentriert in Arbeit genommen. Ich erfuhr von seiner neuen Ehe, als ich die beiden zufällig vor dem Portal eines japanischen Gourmettempels traf. Die Schwedin wurde über die Art unserer Beziehung aufgeklärt, konnte mich trotzdem nicht leiden, hielt mich aber wahrscheinlich für eine brauchbare Agentin, die der verflossenen Frau Müller-Maisenau dieses oder jenes zutragen würde. So saßen wir zwei qualvolle Stunden in einem kleinen Café und ich erfuhr, dass die Habilitationsschrift nun neuerlich in Angriff genommen worden war. Ehefrau Nummer zwei hatte sich der Sache angenommen und den Herrn Doktor durch beharrliches Anfeuern wieder auf den akademischen Olymp gejagt. "Wenn man sich in der spärlichen Freizeit um lauter Kinkerlitzchen kümmern und auch noch für die Kinder kochen muss, bleiben die wichtigen Dinge natürlich auf der Strecke," sagte sie. "Wir haben den alten Text bis auf wenige Passagen verworfen und neu angefangen. Sie kriegen natürlich ein Exemplar, wenn alles fertig ist."

Was ich bekam, war eine Parte, zwölf Jahre später. Der kleine Engelbert schickte sie mir mit ein paar persönlichen Zeilen. Sein Vater habe am Ende leiden und schließlich allein sterben müssen. Da es im Sommer geschah, waren alle auf Reisen. Auch er mit seinem Familie. Aber gern erinnere er sich an seine Kindheit, die doch alles in allem heiter war und viel Anregung geboten hätte, wozu er auch meine Nachhilfestunden zähle. Er und seine Geschwister seien jeweils halb und halb in die Fußstapfen des Vaters getreten. Er selbst als Neurologe, der Bruder als Antiquitätenhändler und die Schwester als Musikerin.

Wenn ich nun den Nachruf auf Herrn Müller-Maisenau lese, scheint mir, dass der Verfasser oder die Verfasserin an ihrem Vorhaben gescheitert ist. Im Scheinwerferlicht wird nur der Schatten des Verstorbenen sichtbar. Sein Erfolg als Mensch und vor allem als Vater bleibt im Dunkeln, wird mit keiner Silbe erwähnt. Die körperzentrierte Psychotherapie aber ist heute nicht mehr als eine Fußnote im dicken Lehrbuch der vielen Versuche, dem menschlichen Leiden auf die Spur zu kommen.
 
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petrasmiles

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Liebe Matula,

mir gefällt die Geschichte ausnehmend gut!
Durch Deine Protagonistin lässt Du den Leser quasi hinter die Fassade blicken.
Was mir nur nicht ganz klar geworden ist - dieses Positive seines Wirkens als Mensch und Vater hat sich mir aus dem Text nicht erschlossen, wenn ich den letzten Absatz betrachte, in dem die Protagonistin 'nur den Schatten' im Nachruf anspricht.
Aber das ist vielleicht mein Missverständnis, das als positiv zu sehen, wenn Du nur meintest, diese berufliche Ebene sei der kleinere Teil der Person gewesen.

Sehr gerne gelesen!

Liebe Grüße
Petra
 

Matula

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Liebe Petra,

ich glaube zu wissen, was Du meinst und habe den letzten Absatz noch ein bisschen nachgeschärft. Ja, es stimmt, ich wollte betonen, dass der Nachruf die falsche Ecke ausleuchtet. Der Verstorbene war seinen Kindern ein guter Vater, der überdies - hier einmal umgekehrt - die Strenge der Mutter kompensieren musste. Er war aber auch ein guter (väterlicher) Freund - ausgenommen den Feinden seiner Schulrichtung. Der Nachruf lässt das alles unter den Tisch fallen.

Danke fürs Lesen
und liebe Grüße,
Matula
 



 
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