Nacht

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Maulbeere

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Der Textausschnitt ist die Fortsetzung der Geschichte "Stimmen der Not", kann aber auch unabhängig davon gelesen werden.

Michaele und Lars, zwei noch Kinder aber fast schon Jugendliche, wurden durch die Bekanntschaft mit dem Drachen Tibo verwandelt. Klein und auf sich allein gestellt müssen sie sich in einer Welt zurechtfinden, die ihnen aus ihrer neuen Perspektive riesig vorkommt. Dabei entdecken sie neue und verwirrende Gefühle.


Kapitel 12: Eine unruhige Nacht

„Lass uns sehen, dass wir hier wegkommen“, sagte Michaele, „bevor das Tier aufwacht.“ Aber Lars hatte keine Lust. Fasziniert starrte er auf den gewaltigen Koloss und flüsterte: „Auch wenn es ein Elefant ist, von seinem Rücken aus könnten wir wirklich was sehen.“ Einen Moment überlegte er, bevor er seinen Gedanken aussprach. „Für so ein riesiges Vieh sind wir kaum mehr als lästige Fliegen, die sowieso überall rumkrabbeln. Und Elefanten sind meistens ganz friedlich.“

Die lehmbeschmierte Haut warf sich in mächtigen Falten und Buckeln vor ihnen auf, hob und senkte sich in geräuschvollem Schnaufen, und Lars‘ Lippen zitterten vor Aufregung, als er das fremde Wesen berührte.

Wie von einem plötzlichen Zauber gefangen, schob er seine Hände in eine sanft ansteigende Riefe, fühlte die struppigen Haare der runzeligen Haut, und mit einem Ruck schwang er sich ein Stück in die Höhe. Das Tier rührte sich nicht. „Na, was hab ich gesagt“, rief er triumphierend. „Da haben wir den ganzen Tag versucht ein Gefährt zu finden und hier liegt eines herum und wartet auf uns.“ Er sprang ein Stück in die Luft und begann mit aller Kraft aufzustampfen. Es rührte sich immer noch nichts. Mutig begann Lars weiter hinaufzuklettern.
Michaele hatte vor Schreck den Atem angehalten, aber jetzt schnaufte sie vor Aufregung. „Eigentlich hat er recht“, dachte sie. „Allein kommen wir nirgendwo hin und gefährlicher als in der Nähe der Menschen ist es hier auch nicht. Jedenfalls können wir nicht gefangen werden, Tiere machen keine Gefangenen.“

Das Mondlicht warf ihre Schatten wie tanzende Derwische über die sich gleichmäßig heben- und senkende Haut, während sie, jetzt schweigend, vorankletterten. Eine ehrfurchtsvolle Stille hatte sich ihrer bemächtigt bei ihrem Weg hinauf in das lebende Gebirge.

Je höher sie kamen, desto stärker bebte der Grund mit jedem Atemzug des schlafenden Tieres. Plötzlich standen sie vor einer tiefen Rinne, die seitlich ihren Weg kreuzte. Es war eine Falte aus Haut, zerfurcht und gewaltig, die in gleichmäßigem Rhythmus aufbrach, um sich im nächsten Moment fast vollständig wieder zu schließen, wenn ihre Seite im Ausatmen herüberschwang. „Wenn wir da reinfallen, werden wir zu Mus zerquetscht“, flüsterte Michaele. Sie trat auf den wulstigen Rand, schwankte einen Augenblick und setzte dann mit einem energischen Schritt über. „Komm“, sagte sie.
Nach dem Queren der Rinne ging es leichter. Sie hatten das steilste Stück hinter sich gebracht. Ihr Weg wurde ebener und leichter, und mit einem Mal standen sie erleichtert und scheu auf dem Rücken des mächtigen Tieres. Sie konnten tief unter sich seine Silhouette erahnen.

Zu ihrer Überraschung befanden sie sich auf einem Nashorn. Der Mond hatte sich weiter hinaufgehangelt und über ihren Köpfen konnten sie den blassen Schimmer uralter Sterne erahnen. Um den Rand ihrer dunklen Oase aber leuchtete und funkelte die Großstadt, dass der Himmel verblasste, und es tanzten ihre Farben wie Leuchtkäfer in einer riesigen Wolke.
So bunt und strahlend hatten sie ihre Stadt schon lange nicht mehr gesehen. Aus dem Dunkel ihrer Entfernung aber verschwammen die Konturen des Einzelnen, der Häuser und Straßen, lösten sich auf zu Bändern aus Licht, und in ihrer Mitte ruhte der Dom als mächtiger Schatten, das Ziel ihrer Wünsche. „Von hier sieht es gar nicht so weit aus“, durchbrach Lars ihr Schweigen.

Michaele hatte sich auf dem Rücken des Nashorns ausgestreckt, fühlte die Wärme des mächtigen Tieres und ließ ihre Gedanken im Lichtermeer treiben. Ihre Müdigkeit war wie weggeblasen, aber ihre Aufregung auch, und nur eine gute Mattigkeit ruhte noch in ihren Gliedern. „Irgendwie sind die Sterne doch schöner.“ Der Wind hatte sich fast ganz gelegt, nur ein schwacher Hauch spielte noch sanft mit ihren Haaren. Plötzlich fröstelte sie. „Kommst du ein bisschen zu mir“, sagte sie.

ooo

Wie durch Zauberei hatte die Welt sich verändert. Jan konnte es kaum glauben. Er stand in einer Landschaft, die aus den Urzeiten der Erde zu stammen schien. Überall umgaben ihn baumhohe Wedel einer wilden Farnart, über deren Wipfeln sich ungeheure gelbe Blüten sanft im Wind wiegten. Dann fanden sich zartblaue Blumen, die ihre Blüten aus einem Gewirr armdicker Wurzeln und behaarter Blätter der Sonne entgegenstreckten, und die dicht bei dicht, wie Schmetterlinge, über seinem Kopf zu schweben schienen. Über allem aber thronten Bäume aus uralter Zeit, deren mächtige Stämme sich turmhoch emporschwangen, sich aufspreizten zu gewaltigen Kronen, die die Erde verdunkelten, und in deren Schatten ein Fußballfeld versunken wäre.

Überwältigt ließ Jan sich auf den Boden sinken. Wo war die kleine Eidechse. Er konnte sich nicht vorstellen, wie er hierher gekommen war. Aber in seinem Kopf dröhnte das Wort ‘Zauberei’, wühlte durch seine Gedanken. Und er flüsterte dieses magische Wort mit den Lippen, erst wie ein Hauch raschelnder Blätter, dann lauter und lauter, als wollte er sich an diesem Wort festhalten, das als einziges Sinn und Halt in diesem Traumbild versprach.

Er war völlig allein. Er wusste nicht wie viel Zeit vergangen war, als er sich endlich erhob. Die Schatten waren unendlich geworden und er fühlte das Nahen der Nacht. Das kleine Ungeheuer hatte ihn in eine urzeitliche Welt verschleppt, in der alles anders war, wild und gewaltig. Aber gleichzeitig schien ihm dieser Ort auch wunderbar zu sein, fremd und vertraut wie seine schönsten Träume. Ob er wirklich allein war?

Manchmal im Heim hatte er lange wach gelegen; die Geräusche der anderen wühlten in seinen Gedanken, ihr Husten und Räuspern, kleine Gesten des Seins, bis sein Kopf davon schwindelig wurde und er keinen Schlaf fand. Dann war der Wunsch allein zu sein übermächtig geworden, und in manchen Nächten war er aufgestanden und einfach fortgegangen, hinaus in das einsame Dunkel, wo seine Gedanken frei sein konnten.

Aber jetzt war er hier. Er blickte den Abhang hinunter auf das Rauschen eines gewaltigen Stromes, wie ihn die Jugend der Erde geformt haben mochte. Dies war nicht sein Weg. Er drehte sich um und stieg hinauf, bahnte sich seinen Weg zwischen glitschigem Grün und stumpfem Geröll, bis seine Füße eine Art Pfad fanden, der leichter aufwärts zu führen schien, sich aber unvermittelt wieder im Unbestimmten verlor.

Als Jan endlich aus dem Dickicht heraustrat, kniff er vor Staunen und Helligkeit geblendet die Augen zusammen. Vor ihm lag ein Streifen sandiger Wüste, zerfurcht und hügelig mit vereinzelten Oasen buschiger Pflanzen, sanft hingeworfener und glattgeschliffener Felsen, die von ferne an Flusskiesel erinnerten.

Aber seine Aufregung gehörte den Dingen dahinter. In ungeheurer Entfernung, wie durch ein umgedrehtes Fernglas, konnte er Kioske, Buden und Hinweisschilder erkennen, die ihm ohne jeden Zweifel bekannt vorkamen. Dann stolperte er über eine weggeworfene Eistüte, die knautschig und leer in den Sand getreten lag und das ganze Geheimnis dieser verkehrten Welt in sich zu tragen schien. Sie war schier riesig. Der Stiel des aufgedruckten Eises glich einem schmalen Weg und der Schriftzug markierte einen Platz, auf den er sich bequem setzen konnte. Die sprechende Echse hatte ihn in eine Welt versetzt, die genau wie die gewohnte aussah, aber die unendlich vergrößert war. Er konnte es kaum glauben. Sollte es neben dem Zoo, der Stadt, ja der ganzen Welt noch mal genau dasselbe geben, so eine Art vergrößertes Abbild, in dem vielleicht genau dieselben Menschen herumliefen, das Gleiche sprachen und dachten, und er sich vielleicht sogar selbst wiedersehen würde. Ihn fröstelte eine freudige Erregung. Er würde Geheimnisse erfahren wie noch kein Mensch vor ihm.

Plötzlich wusste er, dass er einsam war. „Es gibt ja niemand, den ich mitnehmen möchte, nicht mal in meinen Träumen. Da erlebe ich das seltsamste Abenteuer und habe nicht mal einen Freund, dem ich alles erzählen kann.“ Plötzlich musste er lachen. „Vielleicht hat die Echse mich strafen wollen, aber es gibt doch keinen, den ich vermisse, und die anderen sind mir egal.“

Er richtete seinen Blick auf die ersten Sterne, die aus dem nachtblauen Himmel aufschimmerten und die ihm auf einmal bleich und fremd vorkamen. Es gab nicht viel, nach dem er sich zurücksehnen würde. Wenn man so oft aus dem Heim ausgerissen ist wie ich, geht man am besten entschlossen, irgendwohin. Hauptsache es ist was los. Er suchte sich einen Punkt jenseits der Wüste und begann drauflos zu marschieren.

ooo

Zuerst hatten sie versucht zu schlafen, aber das viel zu helle Mondlicht, ihre Aufregung und der mächtige Atem des Nashorns ließen sie nicht zur Ruhe kommen. Endlich hatte Michaele sich aufgesetzt, den Rücken bequem in eine runzelige Falte geschmiegt, und aus einem plötzlichen Impuls heraus fühlte sie nach der Stirn ihres Freundes und begann seinen Haarschopf zu kraulen. „Schläfst du?“, fragte sie leise.

Lars hatte auch wach gelegen; immerzu rumorten in seinem Kopf die Gedanken. Was, wenn sie morgen wieder nicht weiterkamen, der Durst und der endlose Weg. Ob sie jemals zurückfinden würden. „Ich kenn’ mich doch hier gar nicht aus“, dachte er verzweifelt, „und Michaele auch nicht.“ Dann fühlte er die Wärme ihrer Hand und eine wunderbare Ruhe breitete sich in ihm aus. Er fühlte sie auf der Stirn, auf den Schläfen, den Lippen, aber er wollte nicht sprechen, und plötzlich rieselte ein Kuss durch seinen Körper. Er öffnete die Augen.

In diesem Moment begann sie zu singen; erst leise mit zitternder Stimme, dann immer voller und kräftiger, bis ihre Melodie sich aufschwang und frei wurde die Nacht zu durchdringen.

Er kannte das Lied. Es war traurig und trotzig zugleich, aber so wie sie sang war es neu, eine leuchtende Blume im Wind, und es trug alle Sorgen davon, bis er leicht und frei wurde, und er fühlte das Salz ihrer Haut auf den Lippen.

ooo

Die Nacht war schon weit fortgeschritten, als Jan mit einem Ruck erwachte. Der Mond hatte sich über die Baumwipfel emporgeschwungen, stand steil am Himmel und tauchte die Nacht in ein fahlweißes Licht.

Er schaute sich um. Etwas war seltsam in dieser Nacht und er brauchte einen Moment um das wiederzufinden, was sich in seine Träume geschlichen hatte. Und dann fühlte er es wieder, mehr als er es hörte; es war ein leiser Gesang in der Luft, fast wie ein Hauch, der sich mit dem Rhythmus des Windes mischte, eine Melodie, die sich manchmal zu Worten formte, um dann langsam dahinzuschwinden, bis sie nur noch ein Widerhall in seinem Kopfe war.

Vorsichtig stand er auf. Da war sie wieder, die Melodie, und jetzt glaubte er auch eine Richtung zu erkennen und unwillkürlich begann er ihr zu folgen.
Obwohl der Mond schien, herrschte zwischen den Gräsern fast völlige Dunkelheit und Jan bahnte sich seinen Weg durch dorniges Gestrüpp und knorriges Unterholz einen kleinen Hügel hinan, um besser hören zu können. Jetzt war die Stimme schon klarer, aber zu sehen war nichts, und er setzte sich einem Moment und lauschte.

Diese Welt hier war anders, fremd. Er fühlte, dass sie voll Wunder war, vielfach verzaubert. Und plötzlich verstand er den Ruf des seltsamen Liedes, wusste, warum in allen Filmen die Helden den geheimnisvollen Zeichen folgen, die sich plötzlich überall auftun, statt einfach ihrer Wege zu gehen. Warum sie sich in Gefahr begeben und Dinge suchen, von denen sie nichts wissen. Und dieses Lied galt jetzt ihm. Er war sich so sicher, dass er diesem Weg folgen sollte, dass dort sein Geheimnis und Abenteuer auf ihn wartete, wie er sich sicher war, dass er es heil überstehen würde, solange er sich nur richtig entschied. Ob Strafe oder Bewährung; dies war eine Welt, der er wichtig war.

Gutgelaunt ging er weiter. Seine Müdigkeit war verschwunden und hatte einer gespannten Erwartung Platz gemacht.
Er folgte der Stimme so gut wie er konnte, umrundete einen morastigen See, rutschte überraschend in glitschige Erdlöcher, aber er kämpfte sich weiter, denn er hatte ein Ziel.

ooo

Plötzlich hörten sie ein Geräusch. Erst nur das Bröseln von Sand oder Lehm, aber bald spürten sie Schritte, und als sie sich umsahen, stand ein älterer Junge auf dem Kamm über ihnen, und es dauerte ein Weilchen, bis sie seine Gesichtszüge erkennen konnten.

Mit einem Satz sprang er in ihre Mitte. „Ihr seid allein“, fragte er. Michaele hatte sich ein Stück zurückgezogen und vermied es die Frage, die mehr wie eine Feststellung klang, zu beantworten. Gleichzeitig grübelte sie darüber nach, woher sie dieses Gesicht kannte.

Lars war genauso überrascht wie sie, aber er fasste sich schneller. Der blaue Anorak mit den roten Streifen war ihm schon in der Gondel aufgefallen und plötzlich ahnte er den Zusammenhang. „Unser Drache passt auf uns auf“, sagte er schnell.

Für den Bruchteil eines Augenblicks zeigte der unruhige Blick des Jungen, dass er ins Schwarze getroffen hatte. „Tibo kommt immer“, sagte Michaele gedehnt, „wenn wir ihn brauchen.“ „Setz dich“, sagte Lars.

Zu seiner Überraschung kam der Junge der Aufforderung nach. „Ich heiße Lars und das ist Michaele“, fuhr er leutselig fort, merkte aber gleich, dass er vielleicht etwas schnell war. Einen Moment war Stille, aber dann sagte der Junge: „Ich heiße Jan-Helge, aber die meisten nennen mich Jan.“

Er musterte sie. „Seid ihr schon lange in dieser“, er suchte nach Worten, „Riesenwelt“, und nahm wie selbstverständlich das Gespräch in die Hand. Lars, der merkte, dass er aufpassen musste, sah hilfesuchend zu seiner Freundin.

„Du bist erst heute Nachmittag gekommen“, sagte Michaele beiläufig und verlieh sich ein allumfassendes Wissen, das nützlich sein konnte. Der überraschte Blick des Jungen schien ihr Recht zu geben und etwas keck fuhr sie fort: „Wir hatten dich längst hier erwartet.“ „Weil wir dich doch schon in der Gondel gesehen haben“, platzte Lars dazwischen, wurde aber durch einen energischen Blick von Michaele zum Schweigen gebracht.

Misstrauisch sah Jan von einem zum anderen. Die Beiden schienen ein geheimes Wissen von ihm zu besitzen. „Aber in dieser Welt ist schließlich alles möglich“, dachte er und fühlte wieder den Schleier geheimnisvollen Zaubers um sich. „Ich bin da“, sagte er etwas feierlich.

Im Osten rötete sich der Himmel zum nahen Morgen. „Und was hast du mit Tibo gemacht“, schrie Michaele plötzlich, aus der die ganze Wut auf diesen Jungen herausbrach und alle Vorsicht fortspülte. Aber zu ihrer Überraschung brach Jan unter diesem Ansturm zusammen. „Ich weiß nicht warum“, dachte er, „aber sie kennen alle Geheimnisse und sie verlangen die Wahrheit.“

Er wusste genau, wie er Tibo über das Wasser gehalten hatte, kalte Spiele der Macht über ein anderes Leben. Die ganze Last seiner Schuld lag plötzlich auf seinen Schultern. „Ich hätte es sowieso nicht getan, ehrlich nicht“, flüsterte er, und für einen Moment war er bereit sich zu glauben. Aber es gab anderes, Dinge, die ihn nachts manchmal aufschrecken ließen, und mit einem Mal fühlte er die Kraft seine Strafe auf sich zu nehmen. „Gebt mir eine Chance“, sagte er ruhig.

„Siehst du da vorne den Dom“, fragte Michaele, der die plötzliche Veränderung des Jungen unheimlich war. „Da müssen wir hin.“ Sie konnte sich nicht erklären, was diesen furchtbar ruppigen Jungen so aus der Fassung gebracht hatte, und wusste auch nicht, ob sie daran Schuld war. Sie spürte nur eine Not, die Verzweiflung war, und in einer Welle des Mitgefühls fluteten Tränen in ihre Augen. „Lasst uns noch ein bisschen schlafen“, sagte Lars.

ooo

Die Nacht war kalt gewesen und klamm, aber mit dem ersten Frühnebel war Tibo erwacht. Er fühlte den nahenden Tag.

„Normalerweise schlafen Drachen in gemütlichen Höhlen“, fand er, „und nicht auf dieser feuchten Erde, wo der Wind durch alle Knochen pfeift, dass man völlig verfroren aufwacht, bevor es überhaupt richtig hell ist.“ Er reckte und streckte seine Glieder, schlürfte Tropfen duftenden Taus aus schlafenden Knospen und sah sich um. „Na ja, ein bisschen Licht ist ja schon.“

Das Gestrüpp schälte sich aus dem milchigen Nebel und Tibo begann der unsichtbaren Spur zu folgen, die seine Nase ihm wies. „Wenigstens schrammt man nicht überall vor“, murmelte er, während sich einen Weg durch das knackende Unterholz suchte.

Er hatte nur Zorn gefühlt, Zorn und eine unglaubliche Wut auf diesen Jungen, der ihn aus frechem Übermut in Todesangst versetzt hatte. „Ich kann doch nicht schwimmen“, dachte er.
Aber dann trumpfte er auf. „Zuletzt habe ich ihm doch gezeigt, was ein richtiger Drache ist.“ Er freute sich über die gelungene List und fühlte ein stolzes Behagen bei der Erinnerung, wie er diesen großmäuligen Burschen als schlotterndes Bündel im Maul davon geschleift hatte. „So was macht der so schnell nicht noch einmal.“

Aber gleichzeitig sah er in seinem Inneren immer wieder diese schreckgeweiteten Augen, die ihn im Traum unruhig begleitet hatten. „Ich habe seine Angst auf der Zunge geschmeckt“, wunderte er sich. Er schnupperte. Der Geruch des Jungen hatte sich ihm aufgeprägt und er konnte seiner Spur sicher folgen.
„Eigentlich sind wir quitt“, dachte er. „Sein Schrecken war sicher nicht kleiner als meiner und wirklich getan hat er mir auch nichts.“ Er fühlte sich etwas unruhig, er hatte den Jungen einfach allein gelassen.

ooo

Sie hatten sich kaum ausgestreckt, als der Aufruhr begann. Mit einem Ruck war das Nashorn erwacht und stemmte unter wohligem Grunzen die Vorderbeine in den Boden. Dann drehte es langsam den Kopf nach allen Seiten und erhob sich zu seiner vollen Größe. Mit wiegenden Schritten näherte es sich dem Wasserloch. Glücklicherweise waren die Drei noch nicht völlig eingeschlafen, sonst wären sie wahrscheinlich beim ersten Stoß in den Dreck geflogen. Aber auch so war es schwierig genug sich oben zu halten. Bei jeder Bewegung des Nashorns rutschten sie in den Hautwülsten des wuchtigen Riesen herum, wie Erbsen in einer Blechdose, purzelten übereinander wie junge Welpen und lagen sich schließlich erschöpft in den Armen, als mit dem ersten Schlürfen des Rhinos etwas Ruhe einkehrte.

Vorsichtig richtete Jan sich auf und spähte über die Panzerhaut nach vorn. „Mensch hab ich einen Durst“, sagte er.

Das fanden Lars und Michaele auch und gemeinsam schauten sie auf die Wasserpfütze, aus der das Saugen und Schmatzen herüberdrang. „Wir sind Deppen“, sagte Lars. „Das hätten wir auch gestern Abend noch finden können. Jetzt hängen wir hier auf dem Rücken fest und kommen an das Wasser gar nicht mehr dran.“

Aber er war schon zu spät. Das Nashorn hatte seinen Frühtrunk genommen und wärmte sich mit einem kleinen Dauerlauf für den beginnenden Tag. Im Schweinsgalopp ging es auf den großen Parcours, um die Felsen herum, an denen man so wunderbar seinen Rücken reiben konnte, durch die kleine Schlammsuhle für heiße Sommertage, dann weiter auf die Rennstrecke bis zur Spitzkehre und immer am Rand des Geheges zurück.

Michaele überlegte gerade, ob sich ihr leerer Magen übergeben konnte, als das Tier unter ihr mit einem Ruck stoppte. Sie segelte über die große Rückenplatte, landete auf dem Schulterpanzer, rutschte die Nackenmuskeln hinunter, kullerte zwischen den Augen hindurch und prallte gegen das riesige Horn, wo sie zusammengekrümmt liegen blieb.

Das Nashorn zupfte mit schmatzendem Schnaufen saftigen Klee.

Einen endlosen Augenblick geschah nichts. Michaele fühlte den wuchtigen Hornwulst an ihrer Seite, die aufgeworfene Haut, lag einfach nur da und starrte gebannt auf die mächtige Stirn, die sie in sausendem Schwung hinunter gerutscht war.

„Ich muss hier weg“, dachte sie. In ihrem Kopf wirbelten wild die Gedanken. „Wenn es jetzt wieder losrennt, bin ich verloren.“ Sie fühlte das leise Schwingen des Kopfes und die sanft rupfenden Bewegungen des gewaltigen Tieres. „Ich kann mich hier doch nicht halten.“

Das Nashorn schob sich gemächlich von Grasbüschel zu Grasbüschel und bei jedem seiner kleinen, wiegenden Schritte hüpfte Michaele ein Stück in die Luft, wie auf einer Gummimatte.
Sie sah nach unten. Zu beiden Seiten des Horns rundete sich der Schädel zu einer abschüssigen Bahn, die steiler und steiler wurde und direkt vor das stetig mahlende Maul des ledernen Kolosses führte. Erschreckt wandte sie sich ab und schaute nach oben, suchte die Jungen; aber plötzlich blickte sie geradewegs in das kleine runzelige Auge des gewaltigen Tieres und angstvoll und fasziniert zugleich erstarrte sie vor seinem uralten Blick, dessen unendlicher Gleichmut auf ihr ruhte.

Die beiden Jungen hatten Michaeles sausender Fahrt mit offenem Mund nachgestarrt, aber dann wich das Entsetzen einer aufgeregten Hektik. Lars sprang aus seiner Deckung hervor und wollte sich seiner Freundin entgegenstürzen. Aber Jan hielt ihn am Ellbogen fest. „Bist du verrückt“, zischte er, „willst du auch noch abstürzen?“

„Ich muss zu Michaele.“

„Und dann fällst du dem Vieh direkt vor sein Maul und stirbst den Heldentod. Oder du machst so einen Krach, dass es wild wird, und dann ist richtig was los. Deine kleine Freundin muss schon alleine sehen, wie sie aus dem Schlamassel wieder rauskommt.“ Mit einem hämischen Grinsen ließ er Lars los. „Vielleicht hilft euch ja euer mächtiger Drache.“

Obwohl Lars den Jungen noch weniger mochte als vorher, er sah ein, dass er Recht hatte. „Und was sollen wir tun“, fragte er kleinlaut. Jan hatte sich über die große Stirnfalte nach vorn geschoben und blickte hinunter. Michaele hatte sich bisher kaum gerührt, schien aber unverletzt zu sein. Mit Zeichensprache versuchte er sich ihr verständlich zu machen. „Sie muss zu uns wieder raufklettern. Das ist ihre einzige Chance. Wenn sie das Nashorn aufschreckt, ist alles aus.“

Endlich schloss Michaele die Augen und unterwarf sich dem steinalten Blick. „Ich darf da nicht hinsehen“, dachte sie, „aber was soll ich sonst machen?“ Unter ihren Füßen schleckte die schwielige Zunge Büschel um Büschel in das mahlende Maul. „Wenn ich hier abrutsche“, dachte sie trotzig, „habe ich mich selber zum Fraß vorgeworfen.“

Sie schüttelte sich. Langsam fasste sie etwas Mut und löste sich vorsichtig von dem mächtigen Horn. „Ich darf nicht nach unten sehen und auch nicht nach oben und schon gar nicht in diese furchtbaren Augen“, hämmerten ihre Gedanken.

Die Haut des grauen Riesen war von seiner Nasenwurzel bis hinauf zur Stirn nur wenig zerfurcht, eher glatt und straff. Sie bot kaum Halt für Hände und Füße, und Michaele klammerte sich an einzelne Fältchen, schmiegte sich mit ganzer Länge in kleine Vertiefungen und schob sich fußbreit um fußbreit voran, den Blick starr auf das kleine Stück Haut gerichtet, welches direkt unter ihr war. „Ich darf jetzt nicht nachdenken“, beschwor sie sich.

Endlich hatte sie die Höhe der Augen erreicht, aber die Stirn wurde mit jedem Stück steiler und Michaele klammerte sich an diesen lebenden Berg, der gleichzeitig rupfte und kaute, bedächtig auf und nieder schwang, und von Zeit zu Zeit in einem mächtigen Schnaufen erbebte. Sie hörte das erstickte Rufen der Jungen, ihr aufgeregtes Flüstern, fühlte sich eins mit ihnen in der gemeinsamen Spannung und gleichzeitig völlig allein und geschieden in ihrer Angst. Sie blickte hinauf. Noch ein letztes Stück, eine besonders steile Kante, musste überwunden werden und sie hatte es geschafft, war wieder bei Ihren Freunden.

„Halt mich an den Füßen fest“, zischte Lars. Er hatte sich flach auf den Bauch gelegt und rutschte jetzt, von Jan-Helge gehalten, vorsichtig voran. Es fehlten nur noch wenige Armlängen. „Komm“, flüsterte er, „du schaffst es.“ Er sah seine Freundin vor Erschöpfung zittern; ihre Füße kämpften einen verzweifelten Kampf, stemmten sich in die lederne Haut, trampelten und schoben, aber jedes Mal, wenn sie an das steilste Stück kam, verlor sie den Halt und rutschte unabänderlich das gerade gewonnene Stück zurück. „Schieb mich noch etwas nach vorne“, rief er Jan zu, „sie schafft’s nicht alleine.“

Vielleicht war es das wilde Getrampel, vielleicht das hektische Rufen; jedenfalls hob das Nashorn plötzlich den Kopf in einem mächtigen Schwung und schüttelte sich. Michaele schien einen Moment in der Luft zu schweben, fiel dann zurück auf die steile Stirn und rutschte unabänderlich dem Abgrund entgegen.

Aber auch Lars war verloren. Er wurde mit so großer Kraft in die Höhe gerissen, dass er Jans Händen entglitt, sich seitlich überschlug, und kopfüber in die Tiefe sauste.
Jan-Helge allein war gerettet. Zwar hatte der Schwung ihn auch empor gerissen, aber sein Standort war sicherer und er war zurück in die Hautfalte gerutscht. Er starrte auf seine Hände. „Ich hab ihn losgelassen“, dachte er, „als es darum ging, habe ich ihn losgelassen.“ In seinen leeren Händen lag eine stille Verzweiflung. Er wollte doch einmal das Richtige tun und es war ihm missglückt.

Das Richtige tun. Und aus einem plötzlichen Impuls heraus stand er auf, nahm Schwung und sprang. Und während er noch zwischen Himmel und Erde schwebte, fühlte er, dass er sich neu gefunden hatte, dass dieser Sprung seinem Leben eine neue Richtung geben konnte.

Hart schlug er auf. Er war platt auf dem Brustkorb gelandet und einen endlosen Moment lang blieb ihm die Luft weg. Er spürte den stechenden Schmerz zusammengepresster Lungen und die Zeit schien stillzustehen. Erst als schon die Schwärze der Ohnmacht nach ihm griff, zwang er seinen Körper mit einer ungeheuren Willensanstrengung zum Atmen.

Es erschien ihm endlos, bis er aufstehen konnte. Er sah die Beine des Monstrums vorbeischlurfen, riesige wandelnde Türme, fühlte das Beben des Bodens unter ihrem Schritt. Aber wo waren die anderen?

Langsam zog das Nashorn weiter, gemütlich kauend zu anderen Grasbüscheln und einem weiteren ereignislosen Tag entgegen, wie schon seit Jahren.

Dann fand er sie. Sie saßen nicht weit auseinander und schauten noch genauso verdutzt aus der Wäsche, wie seit ihrer unsanften Landung. Verletzt war anscheinend niemand. Er ging zu ihnen hinüber, ließ sich bedächtig auf dem Boden nieder und schaute sie an.

Die Sonne hatte sich zu ihrer vollen Größe erhoben, wärmte die nachtfeuchten Glieder, und würde auf ihrer heutigen Bahn eine genauso staubige Hitze zurücklassen, wie den gestrigen Tag.

„Ihr wollt zum Dom?“, fragte er. „Ich weiß zwar nicht warum, aber wenn ihr wollt, helfe ich euch. Ich meine, wenn euer Drache nicht wiederkommt.“
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
beinahe

zum heulen schön.
wenn noch mehr fortsetzungen kommen, lies dir bitte die anleitung für lange texte durch, schreibe einen klappentext, den du hier einstellst und die fortsetzungen erscheinen dann, wenn du es richtig gemacht hast, bei Lange Texte und sind von hier aus erreichbar.
lg
 



 
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