Nacht in der Stadt

maxxia

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Tokyo, im August 1971 - Es ist Nacht und ich sitze draußen in einem Café. Die Straße passieren einige Menschen und sie ist von Reklamen und dem Licht der Läden erhellt. Ich habe ein Buch in der Hand und trinke eine Tasse Kaffee. Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht was ich hier mache. Ich sitze einfach nur da und lese, Aldous Huxleys Schöne Neue Welt. Wie die Zukunft wohl sein wird? Ich habe kein Smartphone und die einzige Ablenkung sind die vorbeigehenden Passanten. Was mache ich? Ich habe einen Nebenjob in einem Buchhandel. Ich liebe den Job. Ich arbeite in einem abgelegenen Viertel und es kommen kaum Besucher, also lese ich eigentlich den ganzen Tag nur. Außerdem studiere ich. Ich weiß noch nicht was ich später werden will, vielleicht Informatikerin, vielleicht Raketenwissenschaftlerin, vielleicht Philosophin oder Politikerin. Ich bin zu jung, zu unentschlossen, zu verwöhnt, zu unreif, um zu entscheiden, wer ich sein will.

Ich hole ein Päckchen Zigaretten aus meiner Jackentasche und zünde eine davon an. Der Geschmack brennt sich tief in den Rachen und ich trinke einen Schluck bitteren Kaffee. Ich liebe den Geruch des verbrannten Tabaks, ich rieche gern an Menschen, die den Rauch mit sich tragen. Ich sympathisiere auf eine seltsame Art und Weise mit ihnen. An ihnen haftet eine gewisse Apathie, eine Hoffnungslosigkeit und ebenfalls eine Gleichgültigkeit, weil keine Hoffnung für dieses Leben besteht. Wird man die Hoffnung je wieder finden? Ist sie einmal verloren, hat man einmal das Nichts, die Bedeutungslosigkeit dieses Lebens gespürt, so vergisst man sie nie. Die Erinnerung hat sich eingebrannt, wie die Narbe, die das Ausdrücken einer Zigarette auf der Haut hinterlässt. Ich habe etwas dazu gelesen, vielleicht hat ja jemand des Rätsels Lösung gefunden, vielleicht gab es einst einen schlauen Philosophen, der erkannt hat, warum wir eigentlich hier sind, woher die Leidenschaft kommt, die Freude am Leben, die Akzeptanz darüber, dass es alles keinen Sinn hat, das aber in Ordnung ist, weil du es erlebst, weil du lebst und das genug ist. Das Leben in sich ist wertvoll genug und ich weiß, dass es so ist, denn es ist das Einzige was es gibt. Aber ich fühle mich doch genau wie davor. Woher kommt dieses Verlangen, dass da mehr sein muss? Warum empfinde ich keine Genugtuung durch das Leben an sich? Denke ich einfach zu viel und bin am Boden des Ozeans meiner Gedanken angelangt? Befindet sich darunter auch einfach ein Erdmantel, ein Erdkern, der aus irgendetwas besteht? Auch diese Vorstellung, auch die Vorstellung daran über den Grund hinaus zu kommen, über den Gedanken hinauszukommen, dass diese Existenz sinnlos ist, führt einfach zu einem weiteren tieferen Grund. Zu einem Punkt den wir nicht begreifen können. Aber das scheint bedeutungslos. Diese Gedanken führen zu nichts und das Wissen darum stimmt mich wieder neutral. Nun bin ich wieder hier.

Ich rufe die Kellnerin zu mir, zahle den Kaffee, packe mein Buch ein und laufe richtig Bahnhof. Die Nacht ist noch voll von Leben und ich begegne hunderten, wenn nicht tausenden von Leuten bis ich an meiner Station ankomme. Sie lassen mich nicht alleine fühlen, auch wenn das Leben auf dem Land friedlich und ruhig ist, so bereitet es einem doch Angst, es begibt einen in eine Welt die nicht wirklich ist, eine Welt weit weg von der Realität. Das Leben in der Stadt dagegen zeigt dir all die Menschen, die sind wie du. Wir alle erleben dasselbe, wir alle sind so verbunden und doch so einsam. Es gibt wenige Dinge die ein so unbeschreibliches Gefühl auslösen, wie jenes, nachts durch diese lebhafte Stadt zu laufen. Selten sind Hoffnung und Bedeutungslosigkeit so nah beieinander. Dieses Gefühl löst eine tiefe Wärme in meinem Herzen aus. Auch wenn alles keinen Sinn hat, sind wir doch hier. Ich erlebe es nicht allein, wir alle erleben es. Irgendwann wird es vorbei sein, aber so lange ich hier bin, will ich es erleben. Die Türen der Bahn öffnen sich und ich trete ein.
 

lietzensee

Mitglied
Hallo Maxxia,
willkommen im Forum! Mir gefällt dein Text. Das ist echte Kurzprosa, die sich nicht viel mit Handlung belasten muss. Beim zweiten Absatz find ich gut, wie du von den Zigaretten ins Abstrakte überleitest. Aber ich würde den zweiten Teil des Absatzes etwas straffen.

Viele Grüße
lietzensee
 

Mimi

Mitglied
Hallo maxxia,
ich hätte diese Kurzprosa interessanter gefunden, wenn Du die Stadt etwas näher beschrieben hättest.
So bleibt das Bild dieser Stadt etwas vage.
Tokyo ist eine sehr überladende und wuselige Stadt, das hättest Du meiner Meinung nach besser mit in die Erzählung einfließen lassen können...
Ansonsten finde ich auch, dass Du den zweiten Teil mehr straffen könntest, weil es teilweise zu ausschweifend wirkt.

Gruß
Mimi
 
Hallo maxxia,

Tokyo, im August 1971
Da könnte auch "Berlin, im August 2005" stehen. Würde man gar nicht merken, die Stadt und das Jahr.

Ich bin noch neu hier und habe keine Ahnung, ob oder wieviel Handlung Kurzprosa hier bei der LL haben sollte.
Hier finde ich so gut wie keine. Dafür umso mehr philosophische Gedanken.

Ich gehöre nicht zur Zielgruppe deines Textes. Da ich aber schon mal hier bin, nur mein kurzer Eindruck, dass ich Tokyo und 1971 im Text nicht wiederentdeckt habe. Und das ist für mich der Knackpunkt

Ah, etwas habe ich noch gefunden: Wer geht davon aus, dass der/die Prota im Jahre 1971 ein Smartphone hat?
Dafür fehlt mir so etwas wie ein Zurückblicken aus dem Heute auf die Vergangenheit.

LG, Franklyn Francis
 



 
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