Nachtbus durch die Unendlichkeit
*
Träume können fliegen.
Alpträume summen, Hornissen und Wespen gleich, durch unsere Köpfe und malträtieren uns mit ihren Stacheln, mit denen sie mir und dir die düstersten Bilder heraufbeschwören.
Andere Träume hingegen sind wie bunte Schmetterlinge, wunderschön und doch so verletzlich und ungreifbar.
Während seine Schwester daumenlutschend im Bett lag, umgeben von Traumwespen und Traumschmetterlingen, saß Pierre auf der Fensterbank und blickte hinaus in die Nacht.
In der Ferne leuchtete der Eifelturm zwischen dunklen Häuserdächern empor, als wollte er genauso hell funkeln wie die Sterne am Himmel.
Pierre's Mutter hatte immer gesagt, dass die Sterne am Himmel die edelsten und größten Träume der Menschen sind und deshalb die Nacht erhellen dürfen. Doch Pierre's Mama war tot, vor vielen Jahren gestorben.
Damals hatten sie, Pierre und seine kleine Schwester noch in einem dunklen Viertel von Paris gelebt, in dem Kakerlaken aus dem Klo kletterten und Rattenschwärme durch die Straßen streiften.
Pierre's Mama hatte sich abends immer geschminkt, ihren rötesten Lippenstift aufgetragen und schwarze Stöckelschuhe und einen Minirock angezogen. Dann war sie mit trauriger Miene aus der Wohnung gelaufen und spät nachts immer mit ramponierter Kleidung und Frisur, dafür aber mit einigen Euroscheinen, zurückgekehrt.
Sie hatte stets geweint, wenn sie zurückgekommen war und Pierre hatte es nicht verstanden und verstand es mit seinen sieben Jahren noch immer nicht.
Eines Abends aber war sie nich zurückgekehrt, selbst als die Sonne schon wieder am Himmel erstrahlte.
Einen Tag später war dann ein grauhaariger Mann mir gekrümmten Rücken in die Wohnung gekommen und hatte sich als Pierre's Großvater vorgestellt.
"Wo ist Mama?"hatte Pierre gefragt.
"Im Himmel!"hatte Großvater geantwortet.
"Wieso?"
Betretenes Schweigen ging von dem Großvater aus, als Pierre ihm diese Frage stellte.
"Frag nicht so viel!"entgegnete er grob.
Dann waren sie zu Pierre's Großvater gezogen, in ein großes, altes Haus, von dem Pierre's Schwester meinte, dass es verflucht und voll von Geistern wäre.
Seit Pierre's Mutter tot war, wurde Pierre jede Nacht besucht.
Wie ein dunkler, nebelartiger Windhauch strich der Besucher durch Pierre's Zimmer, geheimnisvolle Worte wispernd, und küsste Pierre dann wie ein Liebhaber auf die Stirn.
Auch wenn es ihm der Besucher nie sagte, wusste Pierre trotzdem, wer er war:
Es war der Tod.
Pierre wusste es aus einer Empfindung heraus. Und diese Empfindung war kalt und angsteinflößend.
Kalter Wind wehte durch das Fenster und rauschte leise in den Baumkronen. Pierre zog seine Beine an und ein kalter Schauer lief seinen Rücken hinab.
Sein hellblauer Schlafanzug bot nicht viel Schutz gegen die Kälte, doch trotzdem wollte er am Fenster sitzen bleiben und auf den Tod warten, der ihm wieder seinen allnächtlichen Besuch abstatten würde.
Warum der Tod kam, wusste Pierre nicht. Doch an ihm schien irgendetwas Besonderes zu sein.
Pierre hatte das Gefühl, als würde diese Nacht eine ganz besondere werden.
Hinter sich hörte er plötzlich das knarzende Geräusch der sich öffnenden Tür.
Pierre wandte seinen Blick zur Tür und erblickte seinen Großvater, der mit kleinen Schritten hereintrippelte und die Tür schloss.
"Pierre, du bist ja noch wach!"sagte Pierre's Großvater mit leiser, krächzender Stimme.
Die blauen Augen des Großvater sahen kurz zu Pierre's Schwester hinab, dann schlurfte er auf Pierre zu und setzte sich neben ihn auf die Fensterbank.
"Kalt hier, oder?"meinte der Großvater.
"Opa, wer oder was ist der Tod?"fragte Pierre unvermittelt.
Die Augen des Großvaters leuchteten auf, als er die Frage vernahm.
"Weißt du, Pierre, wir werden alle irgendwann einmal weggehen."
"Aber zum Laufen brauchen wir doch nicht den Tod, nur unsere Beine!"
"So habe ich das nicht gemeint! Lass mich ausreden!"
Der Großvater schwieg kurz verärgert, bevor sich seine Stimme wieder erhob.
"Ich werde auch einmal...sterben! Weggehen! Einfach nicht mehr da sein!"
"So wie Mama?"
Der Großvater nickte. "So wie Mama!"
"Und wie stirbt man, Opa?"
"Ja, durch Krankheiten, Mord, Raub und so!"
"Also kann man durch den Tod nicht sterben?"
"Moment, warte Pierre...jetzt bin ich durcheinander!"
Der Großvater massierte sich kurz die Schläfen.
"Der Tod ist nur für...na ja, das Sterben verantwortlich, so eine Art Verwalter!"
"Aha!"meinte Pierre und gähnte lange und laut.
"Du bist ja müde, kleiner Mann! Komm'! Leg dich ins Bett!"
Der Großvater hob Pierre hoch und legte ihn in sein Bett, wobei er liebevoll die Decke über ihn legte und ihm kurz über die Wange streifte.
"Schlaf gut!"raunte der Großvater, als er das Zimmer verließ.
Dann war es still im Raum, nur noch das Wispern des Windes erklang. Doch es war nicht der Wind, der da wisperte, nein, es war der Tod.
*
Der Tod stürzte durchs Fenster und wirbelte durch das Zimmer, wobei er eine altersschwache Spinne, dreiundreißig Bakterien und einen übergewichtigen Holzwurm, der im Bücherregal lebte, tötete.
"Pierre!"flüsterte der Tod. "Pierre!"
Der Angesprochene erzitterte und verbarg seinen Kopf unter der Bettdecke.
Der Tod schlich wie ein kalter Windhauch unter die Decke und schmiegte sich an Pierre's zitternden Körper.
"Dies ist eine besondere Nacht, Pierre!"hauchte der Tod Pierre ins Gesicht, wobei dieser bemerkte, dass der Tod schrecklichen Mundgeruch nach faulen Eiern hatte.
"Du hast Mundgeruch!"flüsterte Pierre.
"Was...äh...wie redest du mit mir? ICHHH BINNN DERRR TODD! Herrscher über das Leben, über Dunkel und Hell, über Gut und Böse!"
"Du hast eine ziemlich hohe Meinung von dir, Gevatter! Mein Opa sagt immer, dass solche Leute arrogant sind."
"Ich? Arrogant?Also, warte mal! Wo war ich stehen geblieben? Ach, ja!...Pierre, dies ist die Nacht aller Nächte, die Nacht, die über das Schiksal der Welt entscheiden wird! Und du wirst ene wichtige Rolle spielen Pierre!"
"Könnten sie aufhören mich so anzuhauchen, mir wird schlecht!"unterbrach Pierre ihn.
"Hör' endlich auf, mich zu unterbrechen! Nie will jemand mir zuhören, auch früher war das schon so!"
Der Tod schluchzte kurz, fasste sich dann aber wieder schnell.
"Pierre, du wirst eine wichtige Rolle spielen! Du wurdest auserkoren, deshalb habe ich dich jede Nacht besucht und über dich gewacht! Doch nun musst du sterben, um dein Schiksal zu erfüllen!"
"Ich will aber nicht sterben, Gevatter!"
"Du musst, Pierre, du musst!"
"Aber ich will doch gar nicht!Das verstehe ich nicht!"
"Niemand versteht es!"
"Verstehst du es denn, Tod?"
Der Tod sah ihn verdattert an, denn es hatte ihm noch nie jemand solch eine Frage gestellt. Er schwieg kurz verlegen, räusperte sich dann und fuhr fort.
"Also, lass uns das Unangenehme hinter uns bringen!"
"Wie soll ich denn einfach so sterben?"fragte Pierre.
"Lass das mal meine Sorge sein, schließlich muss ich ja auch irgendwie mein Geld verdienen!"
Plötzlich wirbelte eine außerordentlich starke Windhose durch den Raum, erfasste Pierre und wirbelte ihn aus dem offenen Fenster.
Während Pierre aus dem dritten Stock hinab gen Garten stürzte, wanderte sein Blick kurz über das unendliche Meer aus Sternen, bis seine Augen dann am leuchtenden Eifelturm festhielten.
Mit einem dumpfen Aufprall stürzte er in das herbstliche, bunte Laub, das den Garten bedeckte und brach sich dabei das Rückgrat.
"War doch gar nicht so schwer!"meinte der Tod zufrieden.
"Also, Pierre! Ich erwarte dich in meinem Heim! Der Nachtbus wird dich dorthin bringen, genieße deine Reise durch die Unendlichkeit!"Dann legte sich Dunkelheit um Pierre und sein Leben wurde vollendet, als er den letzten Atemzug tat.
*
Pierre öffnete die Augen als hätte er lange geschlafen.
Verstört blickte er sich um. Er stand an einem Bushaltestellenschild.
Doch das Schild neben ihm stand im Nichts. Auch er stand im Nichts.
Um ihn herum waren nur die Sterne und Planeten.
Auch allein war er nicht. Neben ihm standen mehrere Menschen.
Ein schwarzhäutiger Junge kam humpelnd auf ihn zu. Teile des linken Beines, des Rumpfes und des Kopfes des Jungen waren verbrannt und eingeäschert.
"Hallo!"grüßte er.
"Hallo!"entgegnete Pierre.
"Was machst du hier?"fragte Pierre.
"Ich war Kindersoldat in Uganda. Die Offiziere wollten, das ich über ein Minenfeld laufe, damit ich einen Weg für die Soldaten austeste. Dabei ist das passiert."er deutet an seinem Körper hinab.
Ein alter Mann kam auf die beiden zu.
"Ich hab einen Schlaganfall bekommen. Ich hab den Krankenwagen sogar noch gehört. Die waren aber zu langsam!"
Die beiden Jungen betrachteten ihn mitfühlend.
Der Mann winkte ab.
"Ist halb so wild. Ich hab seit einem Jahr im Bett gehockt und den ganzen Tag Fernsehen geguckt. Ich war überfällig."
Ein schwarzgekleideter Mann mit blonden, zerzausten Haaren trat herbei.
"Ich war auf 'ner Party von'nem Kumpel. Wollt' ma' Koks ausprobieren. Dann war ich auf einma' weg."
Ein kleines Mädchen, vielleicht fünf, näherte sich. Ihre Kleidung war zerissen. Sie hatte eine Platzwunde am Kopf und war ihrer Unschuld beraubt.
"Ein Mann hat mir wehgetan. Er hat mich...wo ist Mama?Mama!?"
Der alte Mann versuchte sie zu beruhigen.
Ein kahlköpfiger Mann mit stählernen Musklen trat herbei. Er trug Sträflingskleidung.
"Ich wurd' zum Tode mit der Giftspritze verurteilt."Er zeigte eine Injektionswunde.
"Dabei war ich unschuldig! Unschuldig!"
Plötzlich tauchte am Bushalteschild ein schwarzer Bus wie aus dem Nichts auf.
Eine Seitentür öffnete sich.
Ein Skelett im schwarzen Kapuzenmantel trat hinaus.
"IIIICHHHH BINNN DDEEERRR FÄHRMANN!" sagte es mit gewichtiger Stimme.
Doch auf einmal fing es an zu husten und schluckte ein Hustenbonbon.
"Immer verhunze ich meinen Auftritt!"fluchte es mit piepsiger Stimme.
"Hast du als Fährmann nicht ein Boot?"fragte Pierre.
"Hach! Wir müssen auch mit der Zeit gehen! Wir sind immer auf dem neusten Stand im Personenahverkehr."
Der Fährmann räusperte sich.
Dann deutete er mit weitausholender Geste auf den Bus.
"Willkommen, ihr seid Reisende im Nachtbus durch die Unendlichkeit. Bitte zeigt mir eure Tickets.""Welche Tickets?"fragte der alte Mann.
"Seht in eurer rechten Hosentasche nach!"antwortete der Fährmann und schluckte ein weiteres Hustenbonbon.
Die Menschen griffen in ihre Hosentaschen und holten entweder grüne, gelbe oder rote Tickets hervor.
"Was bedeutet das Rote?"fragte der Drogentote und deutete auf sein Ticket.
"Oh, dass bedeutet du darfst je nach Religion dein Reiseziel wählen! Wohin darf es gehen? IN die Hölle? Oder doch lieber zur Wiedergeburtszentrale?"
Der Drogentote sah den Fährmann entgeistert an."Aber..."
"Ja, ja!"sagte der Fährmann."Wer schlecht lebt, bekommt auch ein schlechtes Reiseziel."
Der alte Mann zeigt dem Fährmann sein gelbes Ticket.
"Oh, du darfst dir als Reiseziel Wiedergeburt als reicher, erfolgreicher Mann aussuchen. Du warst ja nett und gut in deinem Leben."
Der alte Mann lächelt.
Der schwarze Junge und das Mädchen zogen beide ein grünes Ticket.
"Oh ihr Glückspilze! Das Superreiseziel! Ihr dürft ins Himmelreich oder ins Paradies!"
Beide freuen sich.
Pierre greift selbst in seine Hosentasche. Und zieht ein funkelndes, goldenes Ticket hervor.
Der Fährmann reißt den Mund auf und verschluckt sich an seinem Hustenbonbon.
"Das goldene Ticket!"stöhnt er.
"Es ist also soweit! Die Nacht aller Nächte ist gekommen!"hauchte er.
*
"Und was bedeutet dieses Ticket jetzt?"fragte Pierre verwirrt.
Der Fährmann räusperte sich erneut und sagte mit grabestiefer Bassstimme:
"Das erfährst du am Ende deiner Busfahrt."
Pierre stöhnte enttäuscht. Er hasste Überraschungen.
Der Fährmann öffnete die Bustür und machte eine einladende Handbewegung.
"Steigt ein, Reisende durch die Uendlichkeit!"
Der alte Mann zuerst, betraten sie alle hintereinander das Gefährt.
Am Steuer des Busses saß ein Zombie mit leeren, dunklen Augenhöhlen und blauer Busfahrerkappe.
"Willkommen!"lispelte er.
"Wieso fährst du nicht selber, Fährmann?"fragte Pierre.
"Keinen Führerschein! Da haben wir lieber Piet, die blinde Nudel fahren lassen. Er hat irgendwie ein Gespür dafür, richtig zu fahren."Der Fährmann deutete auf eine Delle am Bus.
"Das ist passiert als ich es mal probiert habe, wir sind glatt in den Mond gedonnert."
Pierre setzte sich neben den schwarzhäutigen Jungen.
Ruckelnd setzte sich der Bus in Bewegung.
Sie fuhren vorbei an Sternennebeln und Schwarzen Löchern, Supernovas und Kometen, Planeten und Sonnen.
"Wie heißt du?"fragte Pierre den Jungen neben ihn.
"Sonmali,und du?"
"Pierre!"beide schüttelten sich die Hände.
"Hast du Angst?"fragte Sonmali.
"Ein bisschen! Aber ich werde meine Mama wiedersehen!""Meine Mama muss auch schon hier sein!"
"Hat sie auch von der Decke gehangen?"
"Nein!"Sonmali winkte ab."Es kamen böse Männer ins Dorf.
Ich habe mich mit meinem Bruder versteckt. Die Männer haben böse Sachen mit Mama gemacht und ihr den Hals durchgeschnitten."
"Oh!"stöhnte Pierre mitfühlend.
Plötzlich hupte der Bus laut auf.
"Erster Halt: Die Hölle!"rief der Fährmann.
Sie hielten in einem tosenden Inferno aus riesigen Flammen. In riesigen Kesseln saßen angekettete Menschen und wurden gebraten. Andere hingen an Bratspießen oder wurden von behörnten Kreaturen durch die Flammen gejagt.
"Das soll die Hölle sein?"fragte Pierre.
"Ist ja völlig klischeehaft. So hab ich sie mir immer vorgestellt!"meinte Pierre.
"Das ist auch euer Problem!"entgegnete der Fährmann."Die Hölle wird immer so sien, wie ihr sie euch in eurer Fantasie ausmalt. Für andere kann sie auch das Haus der Schwiegermutter sein."Der Fährmann grinste blöd und lachte klappernd.
"Ich will da nicht rein!"rief der Drogentote entsetzt und klammerte sich an seinem Sitz fest."Ich will da nicht rein!"
"Ach,komm! Jetzt mach nicht auf Adolf Hitler! Der hat genau so einen Rambaz wie du gemacht! Du willst gar nicht wissen was mein alter Kumpel Satan mit dme gemacht hat."
sagte der Färmann wütend.
Auf einmal tauchte Mitten im Bus ein riesiger, muskulöser Mann mit Spitzbart und Widderhörnern auf. Seine sieben Schwänze ruderten unruhig hin und her.
"Hey,Satan alte Socke!"sagte der Fährmann und gab dem Teufel alle Fünfe.
"Fährmann du alter Schlawiner!"entgegnete der Satan meckernd.
"Und? Wie läuft's bei dir?"
"Ach, der übliche Stress. Da mal den Dreizack in einen Hintern stecken, hier mal einen Kessel anzünden. Und dann die ganze Buchhaltung. Es sterben so viele schlechte Leute, ich komm gar nicht mehr mit meinen Ausgaben klar. Wenn das so weiter geht muss ich dicht machen und die ganze Bande ins Paradies schicken. Die haben da ja Geld wie Heu."
"Wieso werden es immer mehr schlechte Menschen?"fragte Pierre.
"Quatsch nicht dazwischen, du Bengel!"schnauzte ihn der Teufel wütend an.
"Hey, Luzifer!"sagte der Fährmann und packte den Teufel am Arm. "Er hat das goldene Ticket!"
Der Teufel blickte Pierre ungläubig an.
Dann fiel er vor Pierre auf die Knie."Verzeihe mir! Wie konnte ich nur so töricht sein und dich beleidigen! Bitte habe Nachsehen mit meinem dummen Verhalten!"
Pierre sah den Teufel, wie er da so wie ein Häufchen Elend vor ihm kniete an und lachte laut."Ihr seid alle urkomisch! Ich hab mir den Tod immer viel schlimmer vorgestellt. Und was passiert jetzt? Ich treffe auf einen sarkastischen Fährmann mit Halsproblemen und einen Teufel mit Geldproblemen. Der Tod ist lustig! Dir ist vergeben!""Ich find das nicht lustig, du Bastard!"rief der Drogentote wütend und griff Pierre an.
Doch der Teufel sprang dazwischen und packte die Hand des Drogentoten. Dieser Schrie schmerzentbrannt auf.
Dann schnippte der Teufel mit den Fingern und der Drogentote verschwand in einer Stichflamme.
"Wenn der NArr wüsste mit wem er redet."sagte der Teufel und blickte Pierre an.
"Wir müssen weiter!"sagte der Fährmann.
"Mach's gut!"entgegnete der Satan und verschwand.
Dann setzte sich der Bus in Bewegung und verließ die Hölle.
*
Sie durchquerten einen Sternennebel.
Nebelschwaden, in allen Facetten der Farben Rot und Orange, wehten vorbei und entlockten den Busreisenden leises Raunen.
"Hast du schon jemals so etwas wundervolles gesehen?"fragte der alte Mann Pierre."Nein, habe ich nicht...das ist fantastisch."
"Ich habe das letzte Jahr meines Lebens damit verbracht fern zu sehen. Kannst du dir das vorstellen? Während die Welt dort draußen darauf wartet von dir entdeckt zu werden, sitzt du auf deinem Sessel und siehst dir Werbesendungen für Rheuma-Decken an."
Der alte Mann schüttelte nachdenklich den Kopf.
"Erst jetzt kann ich den Sinn meines Lebens richtig erfassen,Jungchen."Der Fährmann trat hinzu.
"Ja, dass sagen sie alle!"meinte er.
Er deutete mit einer knochigen Hand auf eine Inschrift auf einem Sitz.
"Das hat mal ein verstorbener Dichter hier reingeritzt."Pierre betrachtete die Kritzelei auf dem Sitz.
"Das ist französisch-was heißt es?"fragte er.
"Es bedeutet:
"Und nun erst blick' ich der Wahrheit ins Gesicht-
hier inmitten des Sternelichts!"
"Das ist sehr schön!"meinte Pierre.
"Finde ich auch!"sagte der Fährmann."Es ist wirklich ein Traumjob, hier zu arbeiten. Man lernt so viele verschiedene Leute kennen-Dichter, Künstler, Philosophen, Staatsmänner..."Sein Blick wurde träumerisch.
"Nächster Halt-Die Wiedergeburtsstation!"rief der Zombie.
"Ah, hier steige ich aus!"sagte der Mann."Und beginne das Leben noch mal von vorn."
Der Bus hielt an einem Gebäude, dass wie eine futuristische Raumstation aussah.
Die Tür öffnete sich und der alte Mann wollte gerade hinaussteigen, da fragte er.
"Was wird aus all' meinen Erinnerungen? Meinen Gefühlen, Emotionen, Erlebnissen?"
"Die wirst du alle vergessen!"antwortete der Fährmann. "Manche Leute hatten zwar manchmal Erinnerungen an ihr früheres Dasein-aber Außnahmen bestimmen die Regel!"
"Dann gehe ich nicht!"sagte der Mann trotzig. "So viele Erinnerungen-das kann ich nicht zurücklassen."
"Wie du meinst!"sagte der Fährmann mit undeutbarer Stimme.
Dann schnippte er mit den Fingern.
Plötzlich fingen die Arme des alten Mannes an, sich zu hellen Staub aufzulösen.
"Was geschieht mit mir?"fragte der alte Mann panisch.
Doch dann hatte er sich schon zu Milliarden von hell leuchtenden Staubkörnern aufgelöst.
Der Staub suchte sich einen Weg aus dem Bus und verschwand in der Unendlichkeit des Raums.
"Und dann wurdest du zu Sternenstaub...!"sagte der Fährmann mit monotoner Stimme.
"Es tut mir Leid! Manchmal ist mein Job doch nicht so dolle."
*
Es ging weiter durch die Unendlichkeit.
Pierre unterhielt sich mit Sonmali, als hinter ihnen plötzlich das Mädchen aufschrie.
Die beiden fuhren herum.
Der Verbrecher hatte das kleine Mädchen am Hals gepackt und befummelte sie.
Wild versuchte sie sich seinem Griff zu entreißen, doch er würgte sie nur umso heftiger.
Pierre fuhr wutentbrannt von seinem Sitz hoch. Es war wohl das erste Mal das er Wut empfand.
Der Fährmann drehte sich ebenfalls zum Geschehen um."Was ist denn da los?"fragte er aufgebracht.
Pierre rannte auf den Mann zu.
"Lass sie los!"schrie er.
"Was willst du denn du Bastard?"rief der Verbrecher.
Plötzlich umfasste Pierre eine schwarze Aura. Sie stieg an seinem Körper wie feine Adern hinauf und sammelte sich in sienen Augen, deren Pupillen lila wurden.
"Lass sie los!"wiederholte Pierre, nun mit dunkler, tiefer Stimme.
Der Mann sah ihn verblüfft an, ließ aber noch immer nicht vom Mädchen ab.
Dann schossen auf einmal zwei hell-lila leuchtende Lichtblitze aus Pierres Augen und trafen die Brust des Mannes.
Sofort verschwand der Mann wie vom Erdboden verschluckt.
Pierre sackte erschöpft zusammen.Die Aura wich von ihm-
"Was war das?"fragte er stöhnend.
"Du hast ihn ausgelöscht, völlig ausradiert...er existiert nun gar nicht mehr. In keiner, in dieser Raumform möglichen Art. Er ist zu Nichts geworden."sagte der Fährmann
"Wieso habe ich das gemacht?"fragte Pierre und sah an seinem Körper hinab.
"Das wirst du an deinem Reiseziel erfahren!"antwortete der Fährmann.
*
"Nächster Halt: Das Paradies!"rief der Busfahrer.
"Hier muss ich aussteigen!"sagte Sonmali und stand auf.
"Wir machen hier eine halbe Stunde Pause!"sagte der Fährmann.
"Du kannst aussteigen und dir das Paradies ansehen."schlug er Pierre vor.
Der Bus hielt vor einem riesigen Gebirge aus Wolken, ein riesiges goldenes Tor führte ins Innere.
Pierre und Sonmali stiegen aus und liefen auf das Tor zu.
Sie blieben staunend vor dem prächtigen Eingang stehen. Doch nichts geschah.
"Vielleicht sollten wir mal klopfen?"meinte Pierre.
Sonmali schlug drei Mal gegen das goldene Tor.
Dann öffnete es sich wie von Geisterhand.
Ein greiser Mann mit einem Buch unterm Arm kam hinausgetrippelt.
"Gestatten, Petrus!"begrüßte er sie mit brüchiger,krächzender Stimme und schüttelte beiden die Hand.
Er setzte sich eine Lesebrille auf und öffnete das schwere Buch.
"Ah, das muss der Herr Sonmali sein. Dürfte ich ihr Ticket sehen?"
Sonmali zeigte dem alten Knaben sein Ticket.
"Aha, in Ordnung! Du darfst eintreten."
Petrus überreichte Sonmali einen goldenen Schlüssel.
"Für ihr neues Domizil. Die Adresse ist Wolke...Moment 1108341AZA8...oder war es 2208342AZA9?...Minimus? Maximus? Kommt mal her!"Zwei Jungen mit goldblonden Haaren und Flügeln, die ihnen aus den Schultern wuchsen eilten herbei.
"Eure Schrift kommt ja Hieroglyphen gleich. Ist das da eine 2 oder eine 1?"fragte Petrus die beiden.
"Das ist eine 1!"sagte Minimus.
"Oder doch eine 2?"warf Maximus ein.
"der Bogen könnte auch auf eine 3 hindeuten!"
"Mann, Minimus, du kannst ja deine eigene Schrift nicht lesen!"
"Jetzt hört doch auf ihr Beiden!"beendete Petrus das Streitgespräch.
"Also Somnauli...oh Verzeihung...Sonmali....Sie müssen dann zum Wolkenamt, Wolkenstraße 8 und sich ein neues Domizil aussuchen. Verzeihung."
Nun wandte er sich Pierre zu.
"Und wer sind sie, junger Mann?"fragte er.
"Das wüsste ich selbst gern!"antwortete Pierre kess."Ich weiß nur das ich der Eigentümer hiervon bin!"Bei diesem Worten holte er sein goldenes Ticket aus der Hosentasche.
Petrus nahm die Hände vor den Mund.
"Das goldene Ticket! Ich glaub' ich spinne!"
"Darf ich jetzt auch ein bisschen ins Paradies?"fragte Pierre.Ihn nervte lansam dieses ganze Pohei um sein Ticket.
"Aber natürlich! Oh, dass muss ich dem Chef sagen! Er will dich wahrscheinlich kennenlernen!""Meinst du mit Chef etwa...""Ja, genau...den Allmächtigen!"antwortete Petrus.
"Aber nun tretet ein ins Paradies."Pierre und Sonmali blickten sich kurz an und traten dann durch das riesige goldene Tor.
*
Als Pierre und Sonmali zum ersten Mal ihre Blicke über das Paradies schweifen ließen wurden ihre Beine schwach und sie sanken ehrfürchtig auf die Knie.
"Hast du schon mal so etwas schönes gesehen,Sonmali?"
"Nein! Das ist unglaublich!"
Zwischen den Wolken lugte das Licht der Sonne hervor.
Es tauchte grüne Hänge voller Klee und Blumen in unwirklich helles Licht. Wunderschöne Villen standen überall.
Die Luft war reiner als alles, was Pierre je atmen durfte.
Vögel flogen durch die Luft und piepsten und kreischten.
Hasen und Eichhörnchen liefen über die Wiesen.
Menschen in weißen Umhängen liefen die Wege entlang.
"Seid gegrüßt!"sagte ein dürrer, alter Mann mit vollem, grauem Haar zu ihnen.
Er schüttelte ihre Namen.
"Wenn ich mich vorstellen darf: Leonardo da Vinci!"Die Jungen blickten Leonardo ungläubig an.
"Du...du bist Leonardo da Vinci? Das Universalgenie?"
Der Mann errötete.
"Bitte, bitte, die kleinen Fluggeräte. Ich werd' ja ganz rot.
Ich bin euer Führer und zeige euch das Paradies, damit ihr euch hier zurecht findet."
"Was ist denn hier noch paradiesisch außer den Villen und den grünen Hängen?"fragte Pierre.
"Na ja, wir sind hier ein Steuerparadies. Außerdem kriegt jeder so einen schicken weißen Umhang. Außerdem gibt es hier keine Gewalt, keinen Tod, kein Arbeiten...Einfahc nur Leben.
Voller Erkenntnis und Frieden."
"Ist das nicht tierisch langweilig?"fragte Sonmali besorgt.
"Aber nein! Man lernt so viele Leute kennen. Künstler,Philiosophen,Forscher...na ja, wenn man mich einmal getroffen hat braucht man die auch nicht."Leonardo lächelte und betrachtete seine Fingernägel.
Pierre merkte schnell,dass Leonardo ein Angeber war.
"Folgt mir!"sagte Leonard und wedelte aufgeregt mit der Hand.
Der alte Knabe lief einen Weg entlang und die beiden Jungen folgten ihm staunend.
Sie kamen an einem alten Mann mit riesiger Brille auf dem Kopf vorbei.
"Hallo,Mahetma!"grüßte Leonardo.
"Hi,Leonardo!"grüßte der Mann.
"Das ist ja Gandhi!"flüster Sonmali Pierre aufgeregt zu.
Sie liefen weiter. Pierre war in nachdenkliches Schweigen vetieft.
"Du, Leonardo?"begann er.
"Ja, Pierre?"
"Du warst doch...äh,schwu...äh,homosexuell."stotterte Pierre schüchtern.
Leonardo errötete stark und verfiel in die Betrachtung seiner Fußspitzen.
"Alles Lügen!"stammelte er leise.
"Und du hast doch auch Bilder gemalt, auf denen du behauptest, dass Jesus und Maria zusammen...du weißt schon."
"Ach, dieser verdammte Dan Brown!"fluchte Leonardo.
"Macht Kohle mit meinem Namen!"
Leonardo kickte einen Stein zur Seite.
"Wenn der hier ankommt, kann er was erleben!"
Sie liefen weiter und gelangten zu einem Hügel, auf dem ein tempelartiges Gebäude stand.
"Wer wohnt da?"
"Oh, er heißt Haruspex!"sagte Leonardo.
"Ein alter Freund von mir. Er ist der größte und beste Hellseher der Welt.
Du willst doch deine Zukunft wissen,Pierre?"
"Woher weißt du das,Leo?"fragte Pierre erstaunt.
"Ich hab mit Siegmund Freud 50 Jahre lang über Psyschologie gesprochen!"sagte Leonardo stolz.
Sie blieben vor dem Gebäude stehen.
"Du kannst nur alleine eintreten, Pierre!"sagte Leonardo.
Pierre atmete kurz durch und trat dann durch die schwere Eichentür.
*
Pierre wurde von einer Schwade aus Weihrauch- und Kerzenduft umfangen.
Seine Schritte hallten hohl auf dem schwarzen Marmorfußboden.
Gedämpftes Licht drang durch hohe, kleine Fenster.Pierre konnte kaum etwas erkennen.
"Tritt näher mein Sohn!"sagte eine freundliche Stimme.
Pierre näherte sich der Stimme, konnte aber im Schatten des Raumes nichts erkennen.
"Setz dich!"befahl die Stimme.
Pierre ließ sich auf dem Fußboden nieder.
"Was willst du wissen, Unsterblicher?"
"Ich will wissen, was es hiermit auf sich hat!"sagte Pierre und zog das goldene Ticket aus seiner Hosentasche.
Die Stimme verstummte kurz.
"Was ist denn? Ich hab gedacht du bist der größte Weißsager aller Zeiten?"
Die Stimme räusperte sich.
"Wenn ich dir jetzt sagen würde, was dieses Ticket bedeutet, würde ich die Konstellation von Zeit und Raum verändern und das Universum würde im völligen Chaos versinken.
Aber ich kann dir so viel sagen:
Fürchte dich vor Schloss Schattenhall!"
"Und was soll mir dort passieren? Ich bin tot!"
"Es gibt Schlimmeres, vieeeeeeellllll Schlimmeeeeereees allllssss deeeeeeennnnnTOOOOOODDD!"
"Kann ich jetzt gehen?"
"Ja!""Ich seh' den Ausgang nicht! Mach doch das Licht an!"
"Warte Moment....aua....ahh, da ist der Schalter!"
Plötzlcih erstrahlte der Raum im Licht dreier Neonröhren.
Auf einem kleinen Kissen saß ein Junge und sah Pierre verlegen an.
"DU bist Haruspex, der tolle Seher?"
"Ach, Haruspex ist lateinisch und heißt Seher. In Wirklichkeit heiß ich Kain.
Aber verrat mich nicht, ich musste mir ne' neue Identität machen.
Sonst hätten sie mich doch fertig gemacht weil ich meinen Bruder um die Ecke gebracht hab'!""Und warum bist du dann im Paradies?"
"Ich darf hier nur bleiben solange ich diesen Seher-Hokuspokus mache, die gelangweilten SÄcke stehen drauf.
Ok, das bleibt unter uns...Ich heiße HARUSPEX!"
"Ok, Kain! Tschüss!"sagte Pierre und verließ das Gebäude.
*
Als Pierre aus dem Gebäude trat spürte er plötzlich eine aufkommende Dunkelheit.
Alles um ihn herum, die wunderbaren Wiesen und Hänge, versanken in tristen grau und schwarztönen.
Wieder umfing ihn diese merkwürdige, lilafarbene Aura, seine Pupillen verfärbten sich schwarz.
Das goldene Ticket in seiner Hosentasche schien auf einmal tonnenschwer.
Unter Aufwendung größter Mühen zog Pierre das Ticket aus der Tasche.
Als er es betrachtete ließ er es vor Schreck fallen.
Auf dem Ticket war ein Gesicht gewesen. Augen, Mund, Nase.
"Oh, habe ich dich erschreckt?"fragte eine junge Mädchenstimme dumpf.
Pierre sah sich erschrocken um. Doch niemand war in der Nähe.
"Hier unten!"sagte die Stimme.
Pierre blickte nach unten auf das Ticket.
"Bist du das?"fragte er schüchtern und verblüfft.
"Ja, du Blödmann! Jetzt heb' mich schon auf!"
Vorsichtig hob er das Ticket auf und sah es an.
Tatsächlich. Als es wieder anfing zu sprechen, bewegte sich der Mund und die Augen klimperten auf und ab.
"Wer bist du?"fragte das Ticket.
"Pierre!"antwortete er."Und du?"
"Ich bin Sofia? Aber...aber was mache ich hier? Wo ist mein Körper?"
"Du...du bist ein...na, ja...goldenes Ticket!"
Die Stimme von Sofia wurde schrill.
"Aber ich bin doch Sofia Ehrens! Ich, ich bin doch ein ganz normales Mädchen? Was ist mit mir passiert?"Pierre verspürte starkes Mitleid."Beruhig dich doch!"
Die Stimme schluchzte.
"Ich erinnere mich nur noch an eine kalte Stimme...an einen dunklen Schatten
Er sagte was von einem Schloss Schattenhall und einer Nachricht.Ich wollte gerade über die Straße gehen.Dann kam ein Auto! Es war so schnell und fuhr direkt auf mich zu! Dann war ich hier."
Sie verstummte kurz.
"Ich muss tot sein! O, mein Gott!"
"Das sind wir alle hier!"versuchte Pierre sie aufzumuntern.
"Aber was machst du in meinem Ticket!"
"Was denkst du,was ich mich gerade frage! Halt die Klappe!"sagte Sofia wütend.
Pierre verzog schmollend den Mund.
Die Dunkelheit um ihn herum schwand langsam und die Aura wehte davon.
Pierre fühlte sich plötzlich müde und erschöpft, als hätte er einen kilometerlangen Marsch hinter sich.
Wieder betrachtete er das Ticket, doch das Gesicht war verschwunden. Grübelnd lief er weiter.
Sonmali und Leonardo erwarteten ihn auf einer kleinen, gräsernen Aue.
"Ich muss wieder zum Bus!"sagte Pierre.
Sonmali umarmte ihn kurz freundschaftlich."Komm mich mal besuchen!"sagte er.
"Mache ich!"entgegnete Pierre und lief Richtung Himmelspforte.
Der Fährmann lehnte lässig am Bus und kaute ein wenig nervös auf seinem Hustenbonbon herum. Seine leeren Augenhöhlen fixierten Pierre.
"Schick, das Paradies! Oder?"fragte er.
"Ganz nett!"murmelte Pierre gedankenversunken.
Zusammen stiegen sie in den Bus.
"wo fahren wir jetzt hin?"fragte Pierre. "Ich bin doch jetzt der letzte Reisende."
"Eigentlich sollte dir das Ticket unser Ziel verraten."entgegnete der Fährmann.
"Moment..."murmelte Pierre grübelnd.
"Schloss Schattenhall!"rief er plötzlich. "Sofie hatte etwas von einem Schloss Schattenhall gesagt. Gibt es das?"
"Oooooohhhhh jjjaaaa...Schloss Schattenhall liegt in den nördlichen Wolkenbergen. Viele Geschichten ranken sich um dieses alte Gemäuer. Es stammt aus uralten Zeiten, Zeiten bevor es noch gar keine Zeit gab.
Manche meinen es war eine Irrenanstalt, andere sagen dort werden die schlimmsten aller Tyrannen hin verbannt und ganz andere glauben, es ist die Residenz des Todes!"
"Das klingt vielversprechend! Lass uns aufbrechen!"meinte Pierre.
Der Bus zischte kurz und setzte sich dann ruckelnd in Bewegung.
Pierre setzte sich auf eine Bank im hintersten Winkel des Busses. Strähnen siener schwarzen Haarmähne legten sich auf seine Augen und verbargen seine Miene. Er hatte die Hände vor der Brust verschränkt und war in tiefes Schweigen verfallen.
Der Fährmann kam zu ihm nach hinten gelaufen.
"Du solltest da noch etwas wissen..."begann der Fährmann.
Pierre sah auf.
"Noch nie ist jemand lebend aus dem Schloss zurückgekehrt!"
"Das hätte ich mir beinahe denken können!"schnauzte ihn Pierre an.
"Woher dieser Sarkasmus?"
"Ich weiß es auch nicht! Es ist, als würde etwas Kaltes, etwas Böses nach meinem Herz greifen. Je näher wir Schattenhall kommen, desto kälter wird mir, Fährmann.
Und deine Bemerkungen verängstigen mich nur noch mehr! Also sei still!"
Der Fährmann schniefte und fuhr sich mit dem Ärmel seines schwarzen Gewandes über die toten Augen, Tränen rannen aus ihnen herab.
"Noch nie hat mich irgendwann jemand gemocht! Alle hassen und fürchten mich! Nur weil ich ein Skelett bin! Nur weil ich euch in die Hölle kutschiere!"schluchzte er und ließ sich neben Pierre auf die Bank sinken.
Nun weinte der Fährmann hemmungslos und wirkte keinesfalls bedrohlich, eher wie ein kleines, armes Kind ohne Freunde.
"Keiner mag mich! Niemand! Noch nicht einmal der schehle Piet da vorne!"heulte er und deutete zu dem Zombie am Steuer.
Pierre legte dem Fährmann mitleidig einen Arm um die Schulter.
"Ich mag dich Fährmann! Ich mag dich!"flüsterte er ihm zu und spürte auch, wie ihm die Tränen in die Augen stiegen. Es war alles so schnell gegangen. Eben hatte er noch auf der Fensterbank des Waisenhauses gesessen, nun war er schon durch Himmel und Hölle gereist und weinte jetzt zusammen mit dem Fährmann um die Wette.
Der Fährmann beruhigte sich langsam wieder, seine Tränen versiegten und schließlich erstarb auch das letzte Schluchzen. Er sah Pierre mit seinen toten Augen und fahlen Zügen an.
"Ich komme mit dir nach Schloss Schattenhall! Heute gibt's eine all-inclusive-Reise!"
Pierre lächelte den Fährmann an.
"Hast du eigentlich einen richtigen Namen?"
"Ja, den habe ich! Aber den sage ich selbst dir nicht!"Und so verfielen sie beide in nachdenkliches Schweigen. Pierre blickte zum Fenster hinaus und betrachtete Sternenbilder und schwarze Löcher, die am Fenster vorbeizusausen schienen. Doch langsam schienen die Sterne immer größer und schöner zu werden und ihr Licht erstrahlte so hell und funkelnd, wie alles Glühbirnen der Welt zusammen.
"Was sind das für Sterne?"fragte Pierre den Fährmann.
"Das sind die großen und edlen Träume!"
"Ah! Davon hat mir meine Mutter erzählt!"entfuhr es Pierre und blickte mit wachsendem Intersse und Begeisterung aus dem Fenster.
"Siehst du den da?"meinte der Fährmann und deutete auf einen Stern, der direkt vor ihrer Nase vorbeiflog.
"Das ist der Traum von Martin Luther King! Eine Welt, frei von Rassismus!"
"Und der da?"fragte Pierre und zeigte auf einen Anderen.
"Der Traum vom Fliegen! Und der da, das ist der Traum von Freiheit! Und...."
"Achtung! Traumfresser!"rief Piet, der Busfahrer plötzlich.
"Verdammt! Pierre, werf dich auf dne Boden!"schrie der Fährmann und zog Pierre mit sich hinab.
Ein markerschütternder Aufschrei ließ den Bus, sowie Pierre und den Fährmann vor Angst, erzittern.
Pierre lugte ein wenig zwischen den Sitzreihen zum Fenster und sah ein riesiges, drachenartiges Geschöpf, dass einen schwarzen Schweif hinter sich ziehend am Fenster vorbeiflog und einen Stern in seinem weit aufgerissenen Maul verschwinden ließ.
"Er ist weg! Kommt hoch!"sagte Piet und Pierre und der Fährmann standen langsam auf.
"Was war das?"fragte Pierre seinen Begleiter.
"Das waren Traumfresser! Sie bestehen aus Zorn, Grausamkeit, Hass, Intoleranz und Feigheit der Menschen und ernähren sich von ihren Träumen."
"Also machen sich die Menschen ihre eigenen Träume kaputt!"meinte Pierre.
"Ja, Pierre, so ist es!"sagte der Fährmann nachdenklich.
Nachdem sie die Sterne der edlen Träume passiert hatten gelangten sie in ein Gebilde aus riesigen, schwarzen Wolkenbergen, die sich vor ihnen auftaten.
Blitze durchzuckten die Berge und das Donnergrollen ließ Pierre jedes Mal zusammenzucken.
Der Fährmann deutete auf die Spitze des höchsten Wolkenberges.
"Dort ist es! Schloss Schattenhall!"
Pierre sah hinauf zur Spitze und erblickte ein riesiges Bauwerk, aus schwarzen Steinen, mit riesigen Türmen, Zinnen und Erkern, die sich wie ein unentwirrbares Labyrinth auf der Spitze erstreckten.
"Sieht aus wie in einem Horrorfilm!"meinte Pierre.
Sie fuhren über steile Wolkenserpentinen hinauf zum Schloss, an den Seiten des Weges waren Schilder aufgestellt.
"Betreten verboten! Geistesgefahr!"prangerte es auf einem.
"Achtung! Für Verrücktheit und Wahnsinn kommt ihre Versicherung nicht auf!"auf dem Anderen.
Doch sie ließen sich nicht von den Schildern beeindrucken und fuhren immer weiter auf die Spitze des Berges, zu Schloss Schattenhall, dem düstersten aller düsteren Gemäuer.
*
Piet hielt in einigen Metern Abstand zum Schloss.
"Hier müsst ihr alleine weiter! Ich fahr nicht näher ran!"sagte der Busfahrer und öffnete per Knopfdruck die Tür.
Der Fährmann warf ihm einen düsteren Blick zu.
"Tut mir leid, Fährmann! Alter Knabe."
Dann traten Pierre und der Fährmann aus dem Bus. Als Pierre mit seinen Füßen auf die grauen Wolken trat, sackte er wie in Schnee ein.
"Keine Angst! Auf den Wolken kann dir nichts passieren!"sagte der Fährmann und lief voraus zum Schloss.
Aus den Fenstern des Schlosses drang warmes, gelbliches Licht.
"Esscheint jemand zuhause zu sein!"meinte der Fährmann.
"Und hoffentlich kann mir dieser Jemand endlich erklären was der ganze Unfug soll!"
Sie blieben vor dem riesigen, mit Schnitzerein von Dämonen und Monstern verzierten Portal des Schlosses stehen. Zu ihrer Verwunderung entdeckten sie einen elektronischen Kartenleser an der Seite des Portals. Auf dem kleinen Bildschirm flimmerten einige Worte:
"Please insert your Goldcard!"
"Überall Englisch! Sogar hier!"entrüstete sich der Fährmann.
Pierre holte sein goldenes Ticket hervor.
"Jetzt oder nie!"sagte er feierlich und steckte die Karte in den Leser.
Das Gerät summte kurz und schließlich erschienen die Lettern:
"Welcome at Castle Schattenhall! Your access is granted!"
Das Portal öffnete sich quietschend und gab eine riesige Halle mit schwarzen Marmorboden frei, an deren Ende eine Tür war, vor der an einem Tisch eine junge Frau saß.
Der Fährmann und Pierre wollten gerade eintreten, als hinter ihnen ein kurzes Husten ertönte und schließlich eine Stimme sagte, die Pierre wohl vertraut war:
"Wo, wo bin ich?"
Pierre fuhr herum.
"Sofie!"sagte er zaghaft.
Und tatsächlich. Neben dem Kartenschalter stand auf einmal ein schlankes Mädchen mit kastanienbraunen Haaren und blauen Augen, die aus einem hübschen, Sommersprossen bedeckten Gesicht hervorblickten, dass etwa in Pierres Alter war.
Sie trug einen trägerloses Top, eine Jeans und ihr Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.
"Ach, du bist doch dieser Pierre!"sagte sie.
"Das will ich doch meinen!"entgegnete dieser und war direkt auf Konfrontationskurs.
"Und kannst du mir sagen was ich hier soll?"fragte sie.
Sofie ging Pierre schon jetzt auf die Nerven, zickig und arrogant, genau die Sorte Mädchen, die Pierre ganz besonders verachtete.
Der Fährmann stellte sich zwischen die Beiden.
"Leuuuute! Beruhigt euch!"sagte er beschwichtigend.
"Und was bist du denn für ein Heini!"fuhr sie den Fährmann an.
"Weißt du wenigstens was hier abgeht! Ich will hier weg!"
Der Fährmann sah sie verwirrt an.
"Jetzt hört sich aber alles auf, junge Frau, weißt du,..."doch sie hörte ihn gar nicht und ging einfach an ihm vorbei zum Tisch an dem die Frau saß.
Pierre und der Fährmann folgten ihr völlig überrumpelt.
"Was ist hier los?"fragte Sofie die Frau direkt.
Die Frau, eine adrette 40-Jährige mit Nickelbrille und strengem Zopf, sah verwundert auf.
"Ich will wissen was hier los ist!"schluchzte Sofie mit hochroten Kopf und brach auf einmal in Tränen aus.
"Ich will weg zu meiner Mama...zu meinen Freunden...."rief sie flehend und fiel Pierre in die Arme. Dieser war noch verwirrter und überrumpelter zuvor. Erst war sie die reinste Furie und nun schmiegte sie sich weinend an ihn.
"Da soll mal einer die Frauen verstehen!"murmelte der Fährmann.
Pierre spürte Sofies warmen, geschmeidigen Körper an dem seinen und Röte stieg ihm ins Gesicht. Er wusste sich nicht zu helfen und legte ihr langsam, geistesgegenwärtig über den Rücken um sie zu beruhigen.
Als sie dies spürte, wandte sich Sofie aus seinem Griff.
"Was soll das?"fragte Sofie wütend.
"Ich will nichts von dir! Guck dich doch mal an! Du bist voll der Loser! Das war nur...aus Versehen!"rief sie.
"Wen darf ich melden?"fragte die Dame am Schreibtisch.
Der Fährmann räusperte sich und steckte sich ein Hustenbonbon in den Mund.
"Äh...Sofie, Pierre und meine Wenigkeit!"sagte er.
Die Dame griff nach einem Telefon.
"Ja, Sofie, Pierre und der Fährmann...sehr wohl, Herr,....ja, die drei Kammern...gut,...natürlich....ich schicke sie durch!"sprach sie in den Hörer und legte auf.
"Gehen sie bitte durch diese Tür!"sagte sie und deutete hinter sich.
"Sie werden durch die drei Kammern gehen müssen, eine tückischer als die Andere. Dann treffen sie meinen Chef."Pierre und der Fährmann liefen schweigend zur Tür.
"Wer ist ihr Chef?"fragte Sofie noch die Dame, doch diese blieb stumm wie ein Fisch.
Dann folgte Sofie den beiden Anderen.
Der Fährmann und Pierre waren vor der Tür stehen geblieben, auf der in großen, goldenen Lettern etwas stand:
Die Halle der toten Dichter
*
Pierre, Sofie und der Fährmann betraten die Halle. Im Schein von nur vier Fackeln lag die Halle in Dunkelheit. In ihrer Mitte stand ein kreisrunder Tisch, auf dem ein Teelicht stand.
Um ihn herum saßen vier Männer.
Hinter den Dreien fiel die Tür ins Schloss und es wurde noch dunkler.
"Gäste, Gäste was eine Freud"sagte ein Mann.
"O, was für ein schöner Tag ist heut!"sagte ein Anderer.
"Wenn ich uns vorstellen darf!"meinte ein Dritter.
"Unser Pergament ist rau und unsere Federn scharf!"sagte wieder der Erste.
"Wir sind die vier größten aller großen Dichter!"
"Unsere Werke funkeln wie der Sternen Lichter!"
"Ich bin Friedrich Schiller!"
"Und er ist bei weilen kein Stiller!"
"Ich bin Gothe, das weiß doch jeder!"
"Und mein Name ist...""Leute! Moment mal!"unterbrach der Fährmann die Dichter.
"Ist ja alles schön und gut, aber wir wollen nur weiter!"
"Den Schlüssel zum nächsten Raum hab ich in meiner Hand!"sagte Goethe.
"Aber ich geb ihn euch nicht in die Hand!"
"Schlechte Dichtung!"spottete Schiller über Goethe.
Pierre kam eine Idee.
"Ihr meint, ihr könnt zu jedem Wort ein Anderes finden, dass sich darauf reimt?"fragte er die Dichter.
"Ja, das behaupten wir!"
"Denn die größten Dichter sitzen hier!"
"Und wenn ich ein Wort sage, zu dem ihr kein Anderes wisst, gebt ihr mir dann den Schlüssel?"
Die Dichter steckten kurz die Köpfe zusammen, überlegten und diskutierten.
"Wir nehmen deine Herausforderung an!"entschieden sie.
"Gut!"sagte Pierre und ein verschmitzes Lächeln huschte über sein Gesicht.
"Dann sagt mir ein Wort, dass sich auf das beste Gedicht aller Zeiten reimt. Ihr habt fünf Minuten Zeit!"forderte sie Pierre auf und stellte seine Armbanduhr ein.
"Das ist natürlich mein "Erlkönig"!"meinte Goethe.
"Niemals! Ich habe tausendmal bessere Werke als du geschrieben! Wir müssen ein Wort finden, dass sich auf eines von meinen reimt!"
Und so stritten die Dichter ganze fünf Minuten lang. Mal sollten Goethes Werke besser sein, mal Schillers.
Pierres Uhr piepte und deutete an, dass die fünf Minuten vorüber waren.
"Es tut mir Leid, werte Herren!"sagte Pierre mit einem breiten Grinsen, während der Fährmann ihm anerkennend auf die Schulter klopfte.
"Aber ihr habt verloren! Her mit dem Schlüssel!"Mit schlaffen Schulten warf ihm Schiller einen bronzenen Schlüssel zu.
"Die Tür ist auf der anderen Seite! Doch sage mir, was ist die Lösung gewesen?"
Während Pierre mit Sofie und dem Fährmann zur Tür ging, drehte er sich noch einmal um.
"Keins! Das wäre richtig! Darauf reimt sich "meins", "seins","Scheins", "Weins" und "Reims!"antwortete Pierre kichernd.
Dann kamen sie zu einer weiteren, großen Tür, die in die nächste Halle führte.
Wieder stand auf ihr Etwas in goldenen Lettern:
Der Saal der wunderbaren Labsal
*
Pierre betrachtete nachdenklich den Schriftzug, steckte dann den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Tür, die knarzend aufschwang. Ein Duft nach Rosenblüten, Honig und Kerzenwachs umfing sie.
Der Fährmann rieb sich die Augen, Pierre's Mund stand so weit offen, dass er eine Banane hätte quer essen können, während Sofie große, funkelnde Augen bekommen hatte.
Vor ihnen tat sich eine große, hell erleuchtete Halle auf, die Decken waren mit bunten Stoffbahnen behängt, Vögelschwärme aus bunten Papageien flogen durch den Saal, Springbrunnen standen in dem Saal, aus denen Cola, Honig, Milch und reines, kristallklares Wasser sprudelten.
Bequem aussehende Liegen, neben denen kleine Tische mit erlesenen Köstlichkeiten standen, waren in der Mitte der Halle aufgebaut.
Männer mit Waschbrettbauch und stählernen Muskeln, sowie wunderschöne Frauen mit dunkler Haut und wallenden Gewändern standen mit Palmenwedeln und Platten mit Weintrauben und Chips neben den Liegen.
Eine Frau mit schwarzen, langen Haaren, dunklen Augen und schlanker Figur kam auf die Drei zu.
"Seid willkommen in den Hallen der wunderbaren Labsal! Mein Name ist Joslina, eure ergebene Dienerin, bereit um euch jeden Wunsch zu erfüllen!"stellte sie sich mit einer Stimme vor, die Pierre und den Fährmann Wachs in ihren Händen werden ließ.
Sofie sah Pierre wütend an und verschränkte die Arme vor der Brust.
"Wir wollen nur in die nächste Halle, du Tussi!"spie sie der Frau ins Gesicht.
Aber blieb, doch hier Kind! Wir werden dir all diene Träume wahr werden lassen!"
"Aber gerne bleiben wir hier,Joslina!"sagten der Fährmann und Pierre im Chor mit monotonen Stimmen und Sabber auf den Lippen.
Joslina strich Pierre über das Kinn und die Wange.
"Das freut mich mein, Lieber! Das freut mich!"
Sofie zerrte an Pierre's Arm.
"Komm schon, du Idiot! Die spinnt dich doch um den kleinen Finger! Wir müssen weiter!"
Pierre riss sich wütend von ihr los.
"Ich bleibe hier! Das ist doch perfekt! Die haben hier sogar Flachbildfernseher mit einer Playstation4! Die ist noch gar nciht auf dem Markt!"
"Jungs!"stöhnte Sofie entnervt.
"Dann geh' ich halt alleine weiter!"sagte sie entschlossen und lief zur nächsten Tür, während sich Pierre und der Fährmann zu den Liegen geleiten ließen.
Doch kurz vor der Tür hielt sie ein und kam zurück. Entschlossen stellte sie sich vor Pierre auf. Gelangweilt ließ er eine Weintraube in seinem Mund verschwinden.
"Ich bleibe hie...!"wollte er sagen, da küsste sie ihm kurz auf die Wange.
Pierre starrte ungläubig in ihre Augen, einen kurzen Moment, der für sie wie eine Ewigkeit war.
"Überredet!"hauchte er und stand auf.
Joslina berührte seinen Arm. "Aber..."
"Lass mich los! Wir müssen zu dem Herrn dieses Gemäuer!"sagte er zu ihr und zerrte den Fährmann mit sich zur nächsten Tür.
"Das klingt nicht lustig!"meinte Pierre als er die goldenen Lettern erblickte, die wieder an der nächsten Tür angebracht waren.
Die Katakomben des Krieges *
Sie betraten den nächsten Raum und diesmal rochen sie Schwefel und Blei, deren Geruch schwer in der Luft lag.
Die Halle war ein langgestrecktes Gewölbe, dessen Ende in Rauch verschwand. An den Wänden standen hohe Regale, die mit allen möglichen Waffen vollgestellt waren.
Morgensterne lagen auf den Regalbrettern, Schwerter, Dolche, Maschinengewehre, Äxte, Musketen, Kanonen, Kanonenkugeln, Pistolen, schallgedämpfte Pistolen, Bomben, Granaten, Sicheln, Bögen, Pfeile, Lanzen, Speere und Säbel.
Ein älterer Mann mit schütteren Haaren und einer Brille mit riesigen Gläsern kam herangeschlurft.
"Wenn ich mich vorstellen darf."sagte er mit brüchiger Stimme.
"Ich bin Tom, der Führer durch die Katakomben des Krieges! Folgt mir und bitte verfallt nicht in Wahnsinn bei dem was ihr seht. Dann werdet ihr den Herren treffen!"forderte er sie auf und schlurfte davon in den Nebel.
Sofie, der Fährmann und Pierre folgten ihm.
Sie liefen durch einen Gang, den Tom als Anthologie der Kriege bezeichnete."Wisst ihr eigentlich, dass 87% der Weltgeschichte Krieg ist. Kaum ein Jahr, in dem kein sinnloser Krieg geführt wurde."erklärte Tom.
Sie durchliefen den Gang, passierten die Punischen Kriege, die Germanischen Kriege, die Bulgarischen Kriege, den hundertjährigen Krieg, die Feldzüge des Alexanders, den dreißig jährigen Krieg, die Ungarnkriege, den Vietnamkrieg, den 1.Weltkrieg, den 2.Weltkrieg, die Pazifischen Kriege, die Peleponnesischen Kriege, den Unabhängigkeitskrieg, die Feldzüge der Spanier und den Irakkrieg, um nur einige zu nennen.
In den Hallen waren Bilder ausgestellt, die die Schlachtfelder, übersäht mit Leichen und zerstörten Waffen zeigten, in Fernsehern liefen Filme, die die Schlachten wirklich zeigten, keine Dokumentationen, kein Spielfilm, die echten Bilder, als ob jemand mit der Digitalkamera zugeguckt hatte.
Es dauerte drei Tage, um die Katakomben zu durchqueren, in denen sie immer wieder mit schrecklichen Bildern konfrontiert wurden. Und dazu immer die monotone Stimme Toms, der wie in einem Singsang Zahlen von Toten, Jahreszahlen und Umstände von Toden aufzählte.
Pierre musste sich mehrmals übergeben, Sofie weinte bittere Tränen und der Fährmann sagte kaum noch ein Wort.
Pierre glaubte, dass nicht etwa dieses klischeehafte Feuermeer am Anfang seiner Reise die wirkliche Hölle war, vielmehr glaubte er, dass dies hier die Hölle sein musste: Dieser nicht enden wollender Gang aus Krieg, Leid und Tod.
Irgendwann, kurz vor dem Golfkrieg, brach der Fährmann zusammen.
"Ich...ich kann nicht mehr! Mama, Mama! Ich kanns nicht mehr hören! So viel Tod! Das vertrag selbst ich nicht!"schluchzte er und kauerte sich zusammen.
Tom wollte gerade die Daten des Golfkrieges aufzählen, als Sofie ihm eine klatschte.
"Jetzt halt mal die Klappe, Alterchen!"schnauzte sie ihn wütend an.
"Das Gefasel ist ja nicht zum aushalten."Doch Tom fuhr unbeeindruckt fort.
Pierre stöhnte und riss eine Stoffbahn aus dem Umhang des Fährmanns, schlug Tom ins Gesicht, fesselte dem Alten die Hände auf den Rücken und knebelte ihn mit einer weiteren Stoffbahn.
"Endlich Ruhe!"murmelte er erleichtert und erschöpft.
Doch der Fährmann saß nur noch am Boden und murmelte Jahreszahlen und Totenzahlen.
"Der ist verrückt geworden!"meinte Sofie.
"Quatsch! Wir müssen ihn nur aufmuntern!"erwiderte Pierre, stellte sich vor den Fährmann, gackerte wie ein Huhn und lief im Kreis. Aber dieser beachtete ihn gar nicht, sondern zählte lieber die Verletzten der Schlacht von Agincourt auf.
"Hör auf! Du machst dich nur zum Affen!"sagte Sofie und erhob die Sitmme, um dem Fährmann einen Witz zu erzählen.
"Also...eine Frau kam zum Arzt..."
"Der ist blöd, Sofie! Ich kenne einen besseren!"
"Gar nicht! Meiner ist der beste!"
"Erzähl keinen Mist!"
Und so fingen sie an zu streiten, wobei Sofie und Pierre gar nicht merkten, wie der Fährmann plötzlich anfing klappernd zu lachen.
"Wenn ihr euch streitet seid ihr zum totlachen!"kicherte er.
Pierre fuhr herum.
"Du bist Ok!"rief er glücklich und fiel dem Skelett in die Arme.
"Das will ich doch meinen!"entgegnete der Fährmann.
"Los, Jungs! Wir haben es fast geschafft! Nur noch bis zum Ende der Halle!"rief Sofie erregt.
Und so rannten sie die letzten Meter, bis sie zu einem riesigen, goldenen Portal gelangten.
Als sich die Drei ihm näherten, öffnete es sich knarzend.
Hinter ihm lag ein düsterer Saal, beleuchtet von blauen Flammen.
*
Sofie, Pierre und der Fährmann betraten die Halle, an deren Ende ein gewaltiger Thron stand. Ein schwarzer Teppich führte zum Thron, der von mehreren, mit Hellebarden bewaffneten Skeletten flankiert wurde.
Die Drei liefen den Teppich entlang, wobei ihre Schritte hohl im Saal hallten.
Kurz vor dem Thron blieben sie stehen und glaubten ihren Augen nicht.
Im Thron saß ein Baby, dann plötzlich wurde es zum Jungen mit schwarzen Haaren, dann zum Teenie, zum Erwachsenen, zum Greiß, zum Skelett und wieder zum Baby. Alles geschah in nur wenigen Sekunden.
"Ich bin der Tod!"sagte er als Skelett. Dann brabbelte er etwas als Baby.
"Medizin!"rief der Tod als Teenager.
Ein Skelett eilte mit einer silbernen Karaffe heran und flößte dem Tod im Stadium eines Erwachsenen die Flüssigkeit im Gefäß ein.
Der Tod hörte abrupt auf sich zu verwandeln.
"Ah...so ist es besser!"sagte er.
"Was ist mit dir los?"fragte der Fährmann.
"ich leide an einer seltenen Krankheit, die mich in nur wenigen Sekunden altern lässt, da ich aber nicht sterblich bin, werde ich wieder vom Greis zum Baby und dann wieder von vorn. Diese Medizin hält die Krankheit für einige Minuten auf, doch sie kann sie nicht heilen! Ich bin kaum noch in der Lage mein Reich zu verwalten!""Das ist ja schrecklich!"meinte Sofie mitfühlend.
"Genau! Und deshalb habe ich dich von Pierre hierher bringen lassen, meine Tochter!"sagte der Tod liebevoll zu ihr.
"Lange bin ich über die Erde gewandelt und habe nach der Richtigen gesucht, dann hab' ich dich schnell vom Auto überfahren lassen und dich in das goldene Ticket verwandelt.
Dann habe ich Pierre sterben lassen, den ich nach dem Tod seiner Mutter ausgewählt hatte.
Du warst nichts weiter als ein Bote für meine Tochter, deshalb gab ich dir auch die Kraft, Menschen in Nichts zu verwandeln."
Sofie und Pierre wurden kreidebleich. Pierre war nur benutzt worden. Ein Postbote war er gewesen, nichts mehr.
Der Tod wandte sich wieder Sofie zu.
"Komm zu mir herauf, ich werde dich küssen und dann wirst du meine Stelle einnehmen! Ich mache dann Urlaub auf dem Mond!"
"Nein! Ich will nicht!"kreischte Sofie und wich zurück.
"Holt sie mir!"befahl der Tod zwei Skeletten, die klappernd und mit erhobenen Waffen auf sie zugingen.
Pierre und der Fährmann stellten sich zwichen Sofie und die Skelette.
Der Fährmann zückte ein Schwert unter seinem Mantel und warf Pierre einen Dolch zu.
"Hab ich in den Katakomben mitgenommen! Man kan ja nie wissen!"
Und so entbrach ein Kampf zwischen den Skeletten und Pierre, sowie dem Fährmann.
Ein Skelett schlug mit der Hellebarden nach Pierre, dieser wich aus und schlug dem Skelett den Kopf ab. Blind lief es durch den Saal, bis es schließlich gegen eine Wand knallte und in mehrere Teile zersprang.
Der Fährmann hackte einem Skelett die Beine und Arme weg, bis sich nur noch Kopf und Rumpf klappernd bewegten, ohne jede Gegenwehr.
Der Tod sprang wütend von seinem Stuhl auf, dieselbe Aura wie einst Pierre umfing ihn.
"Ihr habt es nicht anders gewollt!"
Er richtete seinen Zeigefinger auf den Fährmann und ein lilaner Strahl entfuhr ihm und durchbohrte den Fährmann.
Das Skelett sackte zusammen und fing sich von den Beinen an in Luft aufzulösen.
"Argh!"stöhnte der Fährmann.
"Ich werde zu Nichts!"sagte er mit matter Stimme.
Pierre beugte sich zu ihm herab und hielt seine Hand, während sich Becken und Rumpf auflösten.
"Ich hoffe ihnen gefiel die Reise im Nachtbus durch die Unendlichkeit und sie beehren uns bald wieder!"sagte der Fährmann mit hustendem Lachen und nahm zum letzten Mal ein Hustenbonbon in den Mund.
"Wie heißt du?"fragte ihn Pierre.
"Fährmann!"
Dann war der Fährmann zu nichts geworden. Weder tot, noch lebendig, einfach nicht vorhanden. Vom Erdboden verschluckt.
Pierre sank auf die Knie und weinte, dann ergriff er das Schwert des Fährmanns und stürzte in Richtung des Todes.
Dieser zückte ebenfalls seine Klinge und zwischen ihnen entbrannte ein heftiger Fechtkampf.
"Wir können beide nicht sterben! Willst du in alle Ewigkeit mit mir kämpfen, bis die Posaunen des jüngsten Tages uns aus unserem Kampf reißen!"
"Wenn es sein muss, Gevatter!"erwiderte Pierre mit aufeinandergebissenen Zähnen.
Da schlich sich Sofie plötzlich von hinten an den Tod heran.
"Hey, Tod! Alte Kalkleiste! Dreh dich mal um!"rief sie ihm zu.
Verwirrt fuhr er herum.
"Tod...ich liebe dich!"rief sie und küsste ihn.
Der Tod röchelte plötzlich und ließ das Schwert fallen. Er griff sich an die Brust, dort wo das Herz war und sank auf die Knie.
Dann verschwand er vollends, und dort, wo er eben noch gestanden hatte, lag nun nur noch eine schwarze Rose.
"Wie hast du das gemacht?"fragte Pierre Sofie verwirrt.
"Liebe ist stärker als der Tod!"sagte sie und ihr Gesicht näherte sich Pierres.
Dann küssten sie sich hingebungsvoll.
*
Träume können fliegen.
Manche sind wie Schmetterlinge, andere aber wie Wespen.
Pierre schlug müde die Augen auf und konnte sich nicht entscheiden, was er für einen Traum gehabt hatte. Vieles in dem Traum, der Tod des Fährmanns zum Beispiel, hatte ihn gestochen, doch vor allem das Ende war sehr nett gewesen, wenn er an den Kuss dachte.
Er blickte sich in dem Kinderzimmer um. Alles war wie immer und doch war alles anders.
Neben sich auf dem Boden vor dem Bett lag sein Geschichtsbuch mit den Daten aller Kriege, darunter seine Deutschhausaufgaben mit Schiller und Goethes Gedichten.
Pierre blickte hinauf zum Fenster, zu den Sternen und Monden.
Der Wind wehte durch die Baumkronen und klang fast wie das Wispern des Todes.
Irgendwo zwischen den Milliarden Sternen fuhr gerade der Nachtbus entlang, auf seinem Weg durch die Unendlichkeit.
Ende der Geschichte
*
Träume können fliegen.
Alpträume summen, Hornissen und Wespen gleich, durch unsere Köpfe und malträtieren uns mit ihren Stacheln, mit denen sie mir und dir die düstersten Bilder heraufbeschwören.
Andere Träume hingegen sind wie bunte Schmetterlinge, wunderschön und doch so verletzlich und ungreifbar.
Während seine Schwester daumenlutschend im Bett lag, umgeben von Traumwespen und Traumschmetterlingen, saß Pierre auf der Fensterbank und blickte hinaus in die Nacht.
In der Ferne leuchtete der Eifelturm zwischen dunklen Häuserdächern empor, als wollte er genauso hell funkeln wie die Sterne am Himmel.
Pierre's Mutter hatte immer gesagt, dass die Sterne am Himmel die edelsten und größten Träume der Menschen sind und deshalb die Nacht erhellen dürfen. Doch Pierre's Mama war tot, vor vielen Jahren gestorben.
Damals hatten sie, Pierre und seine kleine Schwester noch in einem dunklen Viertel von Paris gelebt, in dem Kakerlaken aus dem Klo kletterten und Rattenschwärme durch die Straßen streiften.
Pierre's Mama hatte sich abends immer geschminkt, ihren rötesten Lippenstift aufgetragen und schwarze Stöckelschuhe und einen Minirock angezogen. Dann war sie mit trauriger Miene aus der Wohnung gelaufen und spät nachts immer mit ramponierter Kleidung und Frisur, dafür aber mit einigen Euroscheinen, zurückgekehrt.
Sie hatte stets geweint, wenn sie zurückgekommen war und Pierre hatte es nicht verstanden und verstand es mit seinen sieben Jahren noch immer nicht.
Eines Abends aber war sie nich zurückgekehrt, selbst als die Sonne schon wieder am Himmel erstrahlte.
Einen Tag später war dann ein grauhaariger Mann mir gekrümmten Rücken in die Wohnung gekommen und hatte sich als Pierre's Großvater vorgestellt.
"Wo ist Mama?"hatte Pierre gefragt.
"Im Himmel!"hatte Großvater geantwortet.
"Wieso?"
Betretenes Schweigen ging von dem Großvater aus, als Pierre ihm diese Frage stellte.
"Frag nicht so viel!"entgegnete er grob.
Dann waren sie zu Pierre's Großvater gezogen, in ein großes, altes Haus, von dem Pierre's Schwester meinte, dass es verflucht und voll von Geistern wäre.
Seit Pierre's Mutter tot war, wurde Pierre jede Nacht besucht.
Wie ein dunkler, nebelartiger Windhauch strich der Besucher durch Pierre's Zimmer, geheimnisvolle Worte wispernd, und küsste Pierre dann wie ein Liebhaber auf die Stirn.
Auch wenn es ihm der Besucher nie sagte, wusste Pierre trotzdem, wer er war:
Es war der Tod.
Pierre wusste es aus einer Empfindung heraus. Und diese Empfindung war kalt und angsteinflößend.
Kalter Wind wehte durch das Fenster und rauschte leise in den Baumkronen. Pierre zog seine Beine an und ein kalter Schauer lief seinen Rücken hinab.
Sein hellblauer Schlafanzug bot nicht viel Schutz gegen die Kälte, doch trotzdem wollte er am Fenster sitzen bleiben und auf den Tod warten, der ihm wieder seinen allnächtlichen Besuch abstatten würde.
Warum der Tod kam, wusste Pierre nicht. Doch an ihm schien irgendetwas Besonderes zu sein.
Pierre hatte das Gefühl, als würde diese Nacht eine ganz besondere werden.
Hinter sich hörte er plötzlich das knarzende Geräusch der sich öffnenden Tür.
Pierre wandte seinen Blick zur Tür und erblickte seinen Großvater, der mit kleinen Schritten hereintrippelte und die Tür schloss.
"Pierre, du bist ja noch wach!"sagte Pierre's Großvater mit leiser, krächzender Stimme.
Die blauen Augen des Großvater sahen kurz zu Pierre's Schwester hinab, dann schlurfte er auf Pierre zu und setzte sich neben ihn auf die Fensterbank.
"Kalt hier, oder?"meinte der Großvater.
"Opa, wer oder was ist der Tod?"fragte Pierre unvermittelt.
Die Augen des Großvaters leuchteten auf, als er die Frage vernahm.
"Weißt du, Pierre, wir werden alle irgendwann einmal weggehen."
"Aber zum Laufen brauchen wir doch nicht den Tod, nur unsere Beine!"
"So habe ich das nicht gemeint! Lass mich ausreden!"
Der Großvater schwieg kurz verärgert, bevor sich seine Stimme wieder erhob.
"Ich werde auch einmal...sterben! Weggehen! Einfach nicht mehr da sein!"
"So wie Mama?"
Der Großvater nickte. "So wie Mama!"
"Und wie stirbt man, Opa?"
"Ja, durch Krankheiten, Mord, Raub und so!"
"Also kann man durch den Tod nicht sterben?"
"Moment, warte Pierre...jetzt bin ich durcheinander!"
Der Großvater massierte sich kurz die Schläfen.
"Der Tod ist nur für...na ja, das Sterben verantwortlich, so eine Art Verwalter!"
"Aha!"meinte Pierre und gähnte lange und laut.
"Du bist ja müde, kleiner Mann! Komm'! Leg dich ins Bett!"
Der Großvater hob Pierre hoch und legte ihn in sein Bett, wobei er liebevoll die Decke über ihn legte und ihm kurz über die Wange streifte.
"Schlaf gut!"raunte der Großvater, als er das Zimmer verließ.
Dann war es still im Raum, nur noch das Wispern des Windes erklang. Doch es war nicht der Wind, der da wisperte, nein, es war der Tod.
*
Der Tod stürzte durchs Fenster und wirbelte durch das Zimmer, wobei er eine altersschwache Spinne, dreiundreißig Bakterien und einen übergewichtigen Holzwurm, der im Bücherregal lebte, tötete.
"Pierre!"flüsterte der Tod. "Pierre!"
Der Angesprochene erzitterte und verbarg seinen Kopf unter der Bettdecke.
Der Tod schlich wie ein kalter Windhauch unter die Decke und schmiegte sich an Pierre's zitternden Körper.
"Dies ist eine besondere Nacht, Pierre!"hauchte der Tod Pierre ins Gesicht, wobei dieser bemerkte, dass der Tod schrecklichen Mundgeruch nach faulen Eiern hatte.
"Du hast Mundgeruch!"flüsterte Pierre.
"Was...äh...wie redest du mit mir? ICHHH BINNN DERRR TODD! Herrscher über das Leben, über Dunkel und Hell, über Gut und Böse!"
"Du hast eine ziemlich hohe Meinung von dir, Gevatter! Mein Opa sagt immer, dass solche Leute arrogant sind."
"Ich? Arrogant?Also, warte mal! Wo war ich stehen geblieben? Ach, ja!...Pierre, dies ist die Nacht aller Nächte, die Nacht, die über das Schiksal der Welt entscheiden wird! Und du wirst ene wichtige Rolle spielen Pierre!"
"Könnten sie aufhören mich so anzuhauchen, mir wird schlecht!"unterbrach Pierre ihn.
"Hör' endlich auf, mich zu unterbrechen! Nie will jemand mir zuhören, auch früher war das schon so!"
Der Tod schluchzte kurz, fasste sich dann aber wieder schnell.
"Pierre, du wirst eine wichtige Rolle spielen! Du wurdest auserkoren, deshalb habe ich dich jede Nacht besucht und über dich gewacht! Doch nun musst du sterben, um dein Schiksal zu erfüllen!"
"Ich will aber nicht sterben, Gevatter!"
"Du musst, Pierre, du musst!"
"Aber ich will doch gar nicht!Das verstehe ich nicht!"
"Niemand versteht es!"
"Verstehst du es denn, Tod?"
Der Tod sah ihn verdattert an, denn es hatte ihm noch nie jemand solch eine Frage gestellt. Er schwieg kurz verlegen, räusperte sich dann und fuhr fort.
"Also, lass uns das Unangenehme hinter uns bringen!"
"Wie soll ich denn einfach so sterben?"fragte Pierre.
"Lass das mal meine Sorge sein, schließlich muss ich ja auch irgendwie mein Geld verdienen!"
Plötzlich wirbelte eine außerordentlich starke Windhose durch den Raum, erfasste Pierre und wirbelte ihn aus dem offenen Fenster.
Während Pierre aus dem dritten Stock hinab gen Garten stürzte, wanderte sein Blick kurz über das unendliche Meer aus Sternen, bis seine Augen dann am leuchtenden Eifelturm festhielten.
Mit einem dumpfen Aufprall stürzte er in das herbstliche, bunte Laub, das den Garten bedeckte und brach sich dabei das Rückgrat.
"War doch gar nicht so schwer!"meinte der Tod zufrieden.
"Also, Pierre! Ich erwarte dich in meinem Heim! Der Nachtbus wird dich dorthin bringen, genieße deine Reise durch die Unendlichkeit!"Dann legte sich Dunkelheit um Pierre und sein Leben wurde vollendet, als er den letzten Atemzug tat.
*
Pierre öffnete die Augen als hätte er lange geschlafen.
Verstört blickte er sich um. Er stand an einem Bushaltestellenschild.
Doch das Schild neben ihm stand im Nichts. Auch er stand im Nichts.
Um ihn herum waren nur die Sterne und Planeten.
Auch allein war er nicht. Neben ihm standen mehrere Menschen.
Ein schwarzhäutiger Junge kam humpelnd auf ihn zu. Teile des linken Beines, des Rumpfes und des Kopfes des Jungen waren verbrannt und eingeäschert.
"Hallo!"grüßte er.
"Hallo!"entgegnete Pierre.
"Was machst du hier?"fragte Pierre.
"Ich war Kindersoldat in Uganda. Die Offiziere wollten, das ich über ein Minenfeld laufe, damit ich einen Weg für die Soldaten austeste. Dabei ist das passiert."er deutet an seinem Körper hinab.
Ein alter Mann kam auf die beiden zu.
"Ich hab einen Schlaganfall bekommen. Ich hab den Krankenwagen sogar noch gehört. Die waren aber zu langsam!"
Die beiden Jungen betrachteten ihn mitfühlend.
Der Mann winkte ab.
"Ist halb so wild. Ich hab seit einem Jahr im Bett gehockt und den ganzen Tag Fernsehen geguckt. Ich war überfällig."
Ein schwarzgekleideter Mann mit blonden, zerzausten Haaren trat herbei.
"Ich war auf 'ner Party von'nem Kumpel. Wollt' ma' Koks ausprobieren. Dann war ich auf einma' weg."
Ein kleines Mädchen, vielleicht fünf, näherte sich. Ihre Kleidung war zerissen. Sie hatte eine Platzwunde am Kopf und war ihrer Unschuld beraubt.
"Ein Mann hat mir wehgetan. Er hat mich...wo ist Mama?Mama!?"
Der alte Mann versuchte sie zu beruhigen.
Ein kahlköpfiger Mann mit stählernen Musklen trat herbei. Er trug Sträflingskleidung.
"Ich wurd' zum Tode mit der Giftspritze verurteilt."Er zeigte eine Injektionswunde.
"Dabei war ich unschuldig! Unschuldig!"
Plötzlich tauchte am Bushalteschild ein schwarzer Bus wie aus dem Nichts auf.
Eine Seitentür öffnete sich.
Ein Skelett im schwarzen Kapuzenmantel trat hinaus.
"IIIICHHHH BINNN DDEEERRR FÄHRMANN!" sagte es mit gewichtiger Stimme.
Doch auf einmal fing es an zu husten und schluckte ein Hustenbonbon.
"Immer verhunze ich meinen Auftritt!"fluchte es mit piepsiger Stimme.
"Hast du als Fährmann nicht ein Boot?"fragte Pierre.
"Hach! Wir müssen auch mit der Zeit gehen! Wir sind immer auf dem neusten Stand im Personenahverkehr."
Der Fährmann räusperte sich.
Dann deutete er mit weitausholender Geste auf den Bus.
"Willkommen, ihr seid Reisende im Nachtbus durch die Unendlichkeit. Bitte zeigt mir eure Tickets.""Welche Tickets?"fragte der alte Mann.
"Seht in eurer rechten Hosentasche nach!"antwortete der Fährmann und schluckte ein weiteres Hustenbonbon.
Die Menschen griffen in ihre Hosentaschen und holten entweder grüne, gelbe oder rote Tickets hervor.
"Was bedeutet das Rote?"fragte der Drogentote und deutete auf sein Ticket.
"Oh, dass bedeutet du darfst je nach Religion dein Reiseziel wählen! Wohin darf es gehen? IN die Hölle? Oder doch lieber zur Wiedergeburtszentrale?"
Der Drogentote sah den Fährmann entgeistert an."Aber..."
"Ja, ja!"sagte der Fährmann."Wer schlecht lebt, bekommt auch ein schlechtes Reiseziel."
Der alte Mann zeigt dem Fährmann sein gelbes Ticket.
"Oh, du darfst dir als Reiseziel Wiedergeburt als reicher, erfolgreicher Mann aussuchen. Du warst ja nett und gut in deinem Leben."
Der alte Mann lächelt.
Der schwarze Junge und das Mädchen zogen beide ein grünes Ticket.
"Oh ihr Glückspilze! Das Superreiseziel! Ihr dürft ins Himmelreich oder ins Paradies!"
Beide freuen sich.
Pierre greift selbst in seine Hosentasche. Und zieht ein funkelndes, goldenes Ticket hervor.
Der Fährmann reißt den Mund auf und verschluckt sich an seinem Hustenbonbon.
"Das goldene Ticket!"stöhnt er.
"Es ist also soweit! Die Nacht aller Nächte ist gekommen!"hauchte er.
*
"Und was bedeutet dieses Ticket jetzt?"fragte Pierre verwirrt.
Der Fährmann räusperte sich erneut und sagte mit grabestiefer Bassstimme:
"Das erfährst du am Ende deiner Busfahrt."
Pierre stöhnte enttäuscht. Er hasste Überraschungen.
Der Fährmann öffnete die Bustür und machte eine einladende Handbewegung.
"Steigt ein, Reisende durch die Uendlichkeit!"
Der alte Mann zuerst, betraten sie alle hintereinander das Gefährt.
Am Steuer des Busses saß ein Zombie mit leeren, dunklen Augenhöhlen und blauer Busfahrerkappe.
"Willkommen!"lispelte er.
"Wieso fährst du nicht selber, Fährmann?"fragte Pierre.
"Keinen Führerschein! Da haben wir lieber Piet, die blinde Nudel fahren lassen. Er hat irgendwie ein Gespür dafür, richtig zu fahren."Der Fährmann deutete auf eine Delle am Bus.
"Das ist passiert als ich es mal probiert habe, wir sind glatt in den Mond gedonnert."
Pierre setzte sich neben den schwarzhäutigen Jungen.
Ruckelnd setzte sich der Bus in Bewegung.
Sie fuhren vorbei an Sternennebeln und Schwarzen Löchern, Supernovas und Kometen, Planeten und Sonnen.
"Wie heißt du?"fragte Pierre den Jungen neben ihn.
"Sonmali,und du?"
"Pierre!"beide schüttelten sich die Hände.
"Hast du Angst?"fragte Sonmali.
"Ein bisschen! Aber ich werde meine Mama wiedersehen!""Meine Mama muss auch schon hier sein!"
"Hat sie auch von der Decke gehangen?"
"Nein!"Sonmali winkte ab."Es kamen böse Männer ins Dorf.
Ich habe mich mit meinem Bruder versteckt. Die Männer haben böse Sachen mit Mama gemacht und ihr den Hals durchgeschnitten."
"Oh!"stöhnte Pierre mitfühlend.
Plötzlich hupte der Bus laut auf.
"Erster Halt: Die Hölle!"rief der Fährmann.
Sie hielten in einem tosenden Inferno aus riesigen Flammen. In riesigen Kesseln saßen angekettete Menschen und wurden gebraten. Andere hingen an Bratspießen oder wurden von behörnten Kreaturen durch die Flammen gejagt.
"Das soll die Hölle sein?"fragte Pierre.
"Ist ja völlig klischeehaft. So hab ich sie mir immer vorgestellt!"meinte Pierre.
"Das ist auch euer Problem!"entgegnete der Fährmann."Die Hölle wird immer so sien, wie ihr sie euch in eurer Fantasie ausmalt. Für andere kann sie auch das Haus der Schwiegermutter sein."Der Fährmann grinste blöd und lachte klappernd.
"Ich will da nicht rein!"rief der Drogentote entsetzt und klammerte sich an seinem Sitz fest."Ich will da nicht rein!"
"Ach,komm! Jetzt mach nicht auf Adolf Hitler! Der hat genau so einen Rambaz wie du gemacht! Du willst gar nicht wissen was mein alter Kumpel Satan mit dme gemacht hat."
sagte der Färmann wütend.
Auf einmal tauchte Mitten im Bus ein riesiger, muskulöser Mann mit Spitzbart und Widderhörnern auf. Seine sieben Schwänze ruderten unruhig hin und her.
"Hey,Satan alte Socke!"sagte der Fährmann und gab dem Teufel alle Fünfe.
"Fährmann du alter Schlawiner!"entgegnete der Satan meckernd.
"Und? Wie läuft's bei dir?"
"Ach, der übliche Stress. Da mal den Dreizack in einen Hintern stecken, hier mal einen Kessel anzünden. Und dann die ganze Buchhaltung. Es sterben so viele schlechte Leute, ich komm gar nicht mehr mit meinen Ausgaben klar. Wenn das so weiter geht muss ich dicht machen und die ganze Bande ins Paradies schicken. Die haben da ja Geld wie Heu."
"Wieso werden es immer mehr schlechte Menschen?"fragte Pierre.
"Quatsch nicht dazwischen, du Bengel!"schnauzte ihn der Teufel wütend an.
"Hey, Luzifer!"sagte der Fährmann und packte den Teufel am Arm. "Er hat das goldene Ticket!"
Der Teufel blickte Pierre ungläubig an.
Dann fiel er vor Pierre auf die Knie."Verzeihe mir! Wie konnte ich nur so töricht sein und dich beleidigen! Bitte habe Nachsehen mit meinem dummen Verhalten!"
Pierre sah den Teufel, wie er da so wie ein Häufchen Elend vor ihm kniete an und lachte laut."Ihr seid alle urkomisch! Ich hab mir den Tod immer viel schlimmer vorgestellt. Und was passiert jetzt? Ich treffe auf einen sarkastischen Fährmann mit Halsproblemen und einen Teufel mit Geldproblemen. Der Tod ist lustig! Dir ist vergeben!""Ich find das nicht lustig, du Bastard!"rief der Drogentote wütend und griff Pierre an.
Doch der Teufel sprang dazwischen und packte die Hand des Drogentoten. Dieser Schrie schmerzentbrannt auf.
Dann schnippte der Teufel mit den Fingern und der Drogentote verschwand in einer Stichflamme.
"Wenn der NArr wüsste mit wem er redet."sagte der Teufel und blickte Pierre an.
"Wir müssen weiter!"sagte der Fährmann.
"Mach's gut!"entgegnete der Satan und verschwand.
Dann setzte sich der Bus in Bewegung und verließ die Hölle.
*
Sie durchquerten einen Sternennebel.
Nebelschwaden, in allen Facetten der Farben Rot und Orange, wehten vorbei und entlockten den Busreisenden leises Raunen.
"Hast du schon jemals so etwas wundervolles gesehen?"fragte der alte Mann Pierre."Nein, habe ich nicht...das ist fantastisch."
"Ich habe das letzte Jahr meines Lebens damit verbracht fern zu sehen. Kannst du dir das vorstellen? Während die Welt dort draußen darauf wartet von dir entdeckt zu werden, sitzt du auf deinem Sessel und siehst dir Werbesendungen für Rheuma-Decken an."
Der alte Mann schüttelte nachdenklich den Kopf.
"Erst jetzt kann ich den Sinn meines Lebens richtig erfassen,Jungchen."Der Fährmann trat hinzu.
"Ja, dass sagen sie alle!"meinte er.
Er deutete mit einer knochigen Hand auf eine Inschrift auf einem Sitz.
"Das hat mal ein verstorbener Dichter hier reingeritzt."Pierre betrachtete die Kritzelei auf dem Sitz.
"Das ist französisch-was heißt es?"fragte er.
"Es bedeutet:
"Und nun erst blick' ich der Wahrheit ins Gesicht-
hier inmitten des Sternelichts!"
"Das ist sehr schön!"meinte Pierre.
"Finde ich auch!"sagte der Fährmann."Es ist wirklich ein Traumjob, hier zu arbeiten. Man lernt so viele verschiedene Leute kennen-Dichter, Künstler, Philosophen, Staatsmänner..."Sein Blick wurde träumerisch.
"Nächster Halt-Die Wiedergeburtsstation!"rief der Zombie.
"Ah, hier steige ich aus!"sagte der Mann."Und beginne das Leben noch mal von vorn."
Der Bus hielt an einem Gebäude, dass wie eine futuristische Raumstation aussah.
Die Tür öffnete sich und der alte Mann wollte gerade hinaussteigen, da fragte er.
"Was wird aus all' meinen Erinnerungen? Meinen Gefühlen, Emotionen, Erlebnissen?"
"Die wirst du alle vergessen!"antwortete der Fährmann. "Manche Leute hatten zwar manchmal Erinnerungen an ihr früheres Dasein-aber Außnahmen bestimmen die Regel!"
"Dann gehe ich nicht!"sagte der Mann trotzig. "So viele Erinnerungen-das kann ich nicht zurücklassen."
"Wie du meinst!"sagte der Fährmann mit undeutbarer Stimme.
Dann schnippte er mit den Fingern.
Plötzlich fingen die Arme des alten Mannes an, sich zu hellen Staub aufzulösen.
"Was geschieht mit mir?"fragte der alte Mann panisch.
Doch dann hatte er sich schon zu Milliarden von hell leuchtenden Staubkörnern aufgelöst.
Der Staub suchte sich einen Weg aus dem Bus und verschwand in der Unendlichkeit des Raums.
"Und dann wurdest du zu Sternenstaub...!"sagte der Fährmann mit monotoner Stimme.
"Es tut mir Leid! Manchmal ist mein Job doch nicht so dolle."
*
Es ging weiter durch die Unendlichkeit.
Pierre unterhielt sich mit Sonmali, als hinter ihnen plötzlich das Mädchen aufschrie.
Die beiden fuhren herum.
Der Verbrecher hatte das kleine Mädchen am Hals gepackt und befummelte sie.
Wild versuchte sie sich seinem Griff zu entreißen, doch er würgte sie nur umso heftiger.
Pierre fuhr wutentbrannt von seinem Sitz hoch. Es war wohl das erste Mal das er Wut empfand.
Der Fährmann drehte sich ebenfalls zum Geschehen um."Was ist denn da los?"fragte er aufgebracht.
Pierre rannte auf den Mann zu.
"Lass sie los!"schrie er.
"Was willst du denn du Bastard?"rief der Verbrecher.
Plötzlich umfasste Pierre eine schwarze Aura. Sie stieg an seinem Körper wie feine Adern hinauf und sammelte sich in sienen Augen, deren Pupillen lila wurden.
"Lass sie los!"wiederholte Pierre, nun mit dunkler, tiefer Stimme.
Der Mann sah ihn verblüfft an, ließ aber noch immer nicht vom Mädchen ab.
Dann schossen auf einmal zwei hell-lila leuchtende Lichtblitze aus Pierres Augen und trafen die Brust des Mannes.
Sofort verschwand der Mann wie vom Erdboden verschluckt.
Pierre sackte erschöpft zusammen.Die Aura wich von ihm-
"Was war das?"fragte er stöhnend.
"Du hast ihn ausgelöscht, völlig ausradiert...er existiert nun gar nicht mehr. In keiner, in dieser Raumform möglichen Art. Er ist zu Nichts geworden."sagte der Fährmann
"Wieso habe ich das gemacht?"fragte Pierre und sah an seinem Körper hinab.
"Das wirst du an deinem Reiseziel erfahren!"antwortete der Fährmann.
*
"Nächster Halt: Das Paradies!"rief der Busfahrer.
"Hier muss ich aussteigen!"sagte Sonmali und stand auf.
"Wir machen hier eine halbe Stunde Pause!"sagte der Fährmann.
"Du kannst aussteigen und dir das Paradies ansehen."schlug er Pierre vor.
Der Bus hielt vor einem riesigen Gebirge aus Wolken, ein riesiges goldenes Tor führte ins Innere.
Pierre und Sonmali stiegen aus und liefen auf das Tor zu.
Sie blieben staunend vor dem prächtigen Eingang stehen. Doch nichts geschah.
"Vielleicht sollten wir mal klopfen?"meinte Pierre.
Sonmali schlug drei Mal gegen das goldene Tor.
Dann öffnete es sich wie von Geisterhand.
Ein greiser Mann mit einem Buch unterm Arm kam hinausgetrippelt.
"Gestatten, Petrus!"begrüßte er sie mit brüchiger,krächzender Stimme und schüttelte beiden die Hand.
Er setzte sich eine Lesebrille auf und öffnete das schwere Buch.
"Ah, das muss der Herr Sonmali sein. Dürfte ich ihr Ticket sehen?"
Sonmali zeigte dem alten Knaben sein Ticket.
"Aha, in Ordnung! Du darfst eintreten."
Petrus überreichte Sonmali einen goldenen Schlüssel.
"Für ihr neues Domizil. Die Adresse ist Wolke...Moment 1108341AZA8...oder war es 2208342AZA9?...Minimus? Maximus? Kommt mal her!"Zwei Jungen mit goldblonden Haaren und Flügeln, die ihnen aus den Schultern wuchsen eilten herbei.
"Eure Schrift kommt ja Hieroglyphen gleich. Ist das da eine 2 oder eine 1?"fragte Petrus die beiden.
"Das ist eine 1!"sagte Minimus.
"Oder doch eine 2?"warf Maximus ein.
"der Bogen könnte auch auf eine 3 hindeuten!"
"Mann, Minimus, du kannst ja deine eigene Schrift nicht lesen!"
"Jetzt hört doch auf ihr Beiden!"beendete Petrus das Streitgespräch.
"Also Somnauli...oh Verzeihung...Sonmali....Sie müssen dann zum Wolkenamt, Wolkenstraße 8 und sich ein neues Domizil aussuchen. Verzeihung."
Nun wandte er sich Pierre zu.
"Und wer sind sie, junger Mann?"fragte er.
"Das wüsste ich selbst gern!"antwortete Pierre kess."Ich weiß nur das ich der Eigentümer hiervon bin!"Bei diesem Worten holte er sein goldenes Ticket aus der Hosentasche.
Petrus nahm die Hände vor den Mund.
"Das goldene Ticket! Ich glaub' ich spinne!"
"Darf ich jetzt auch ein bisschen ins Paradies?"fragte Pierre.Ihn nervte lansam dieses ganze Pohei um sein Ticket.
"Aber natürlich! Oh, dass muss ich dem Chef sagen! Er will dich wahrscheinlich kennenlernen!""Meinst du mit Chef etwa...""Ja, genau...den Allmächtigen!"antwortete Petrus.
"Aber nun tretet ein ins Paradies."Pierre und Sonmali blickten sich kurz an und traten dann durch das riesige goldene Tor.
*
Als Pierre und Sonmali zum ersten Mal ihre Blicke über das Paradies schweifen ließen wurden ihre Beine schwach und sie sanken ehrfürchtig auf die Knie.
"Hast du schon mal so etwas schönes gesehen,Sonmali?"
"Nein! Das ist unglaublich!"
Zwischen den Wolken lugte das Licht der Sonne hervor.
Es tauchte grüne Hänge voller Klee und Blumen in unwirklich helles Licht. Wunderschöne Villen standen überall.
Die Luft war reiner als alles, was Pierre je atmen durfte.
Vögel flogen durch die Luft und piepsten und kreischten.
Hasen und Eichhörnchen liefen über die Wiesen.
Menschen in weißen Umhängen liefen die Wege entlang.
"Seid gegrüßt!"sagte ein dürrer, alter Mann mit vollem, grauem Haar zu ihnen.
Er schüttelte ihre Namen.
"Wenn ich mich vorstellen darf: Leonardo da Vinci!"Die Jungen blickten Leonardo ungläubig an.
"Du...du bist Leonardo da Vinci? Das Universalgenie?"
Der Mann errötete.
"Bitte, bitte, die kleinen Fluggeräte. Ich werd' ja ganz rot.
Ich bin euer Führer und zeige euch das Paradies, damit ihr euch hier zurecht findet."
"Was ist denn hier noch paradiesisch außer den Villen und den grünen Hängen?"fragte Pierre.
"Na ja, wir sind hier ein Steuerparadies. Außerdem kriegt jeder so einen schicken weißen Umhang. Außerdem gibt es hier keine Gewalt, keinen Tod, kein Arbeiten...Einfahc nur Leben.
Voller Erkenntnis und Frieden."
"Ist das nicht tierisch langweilig?"fragte Sonmali besorgt.
"Aber nein! Man lernt so viele Leute kennen. Künstler,Philiosophen,Forscher...na ja, wenn man mich einmal getroffen hat braucht man die auch nicht."Leonardo lächelte und betrachtete seine Fingernägel.
Pierre merkte schnell,dass Leonardo ein Angeber war.
"Folgt mir!"sagte Leonard und wedelte aufgeregt mit der Hand.
Der alte Knabe lief einen Weg entlang und die beiden Jungen folgten ihm staunend.
Sie kamen an einem alten Mann mit riesiger Brille auf dem Kopf vorbei.
"Hallo,Mahetma!"grüßte Leonardo.
"Hi,Leonardo!"grüßte der Mann.
"Das ist ja Gandhi!"flüster Sonmali Pierre aufgeregt zu.
Sie liefen weiter. Pierre war in nachdenkliches Schweigen vetieft.
"Du, Leonardo?"begann er.
"Ja, Pierre?"
"Du warst doch...äh,schwu...äh,homosexuell."stotterte Pierre schüchtern.
Leonardo errötete stark und verfiel in die Betrachtung seiner Fußspitzen.
"Alles Lügen!"stammelte er leise.
"Und du hast doch auch Bilder gemalt, auf denen du behauptest, dass Jesus und Maria zusammen...du weißt schon."
"Ach, dieser verdammte Dan Brown!"fluchte Leonardo.
"Macht Kohle mit meinem Namen!"
Leonardo kickte einen Stein zur Seite.
"Wenn der hier ankommt, kann er was erleben!"
Sie liefen weiter und gelangten zu einem Hügel, auf dem ein tempelartiges Gebäude stand.
"Wer wohnt da?"
"Oh, er heißt Haruspex!"sagte Leonardo.
"Ein alter Freund von mir. Er ist der größte und beste Hellseher der Welt.
Du willst doch deine Zukunft wissen,Pierre?"
"Woher weißt du das,Leo?"fragte Pierre erstaunt.
"Ich hab mit Siegmund Freud 50 Jahre lang über Psyschologie gesprochen!"sagte Leonardo stolz.
Sie blieben vor dem Gebäude stehen.
"Du kannst nur alleine eintreten, Pierre!"sagte Leonardo.
Pierre atmete kurz durch und trat dann durch die schwere Eichentür.
*
Pierre wurde von einer Schwade aus Weihrauch- und Kerzenduft umfangen.
Seine Schritte hallten hohl auf dem schwarzen Marmorfußboden.
Gedämpftes Licht drang durch hohe, kleine Fenster.Pierre konnte kaum etwas erkennen.
"Tritt näher mein Sohn!"sagte eine freundliche Stimme.
Pierre näherte sich der Stimme, konnte aber im Schatten des Raumes nichts erkennen.
"Setz dich!"befahl die Stimme.
Pierre ließ sich auf dem Fußboden nieder.
"Was willst du wissen, Unsterblicher?"
"Ich will wissen, was es hiermit auf sich hat!"sagte Pierre und zog das goldene Ticket aus seiner Hosentasche.
Die Stimme verstummte kurz.
"Was ist denn? Ich hab gedacht du bist der größte Weißsager aller Zeiten?"
Die Stimme räusperte sich.
"Wenn ich dir jetzt sagen würde, was dieses Ticket bedeutet, würde ich die Konstellation von Zeit und Raum verändern und das Universum würde im völligen Chaos versinken.
Aber ich kann dir so viel sagen:
Fürchte dich vor Schloss Schattenhall!"
"Und was soll mir dort passieren? Ich bin tot!"
"Es gibt Schlimmeres, vieeeeeeellllll Schlimmeeeeereees allllssss deeeeeeennnnnTOOOOOODDD!"
"Kann ich jetzt gehen?"
"Ja!""Ich seh' den Ausgang nicht! Mach doch das Licht an!"
"Warte Moment....aua....ahh, da ist der Schalter!"
Plötzlcih erstrahlte der Raum im Licht dreier Neonröhren.
Auf einem kleinen Kissen saß ein Junge und sah Pierre verlegen an.
"DU bist Haruspex, der tolle Seher?"
"Ach, Haruspex ist lateinisch und heißt Seher. In Wirklichkeit heiß ich Kain.
Aber verrat mich nicht, ich musste mir ne' neue Identität machen.
Sonst hätten sie mich doch fertig gemacht weil ich meinen Bruder um die Ecke gebracht hab'!""Und warum bist du dann im Paradies?"
"Ich darf hier nur bleiben solange ich diesen Seher-Hokuspokus mache, die gelangweilten SÄcke stehen drauf.
Ok, das bleibt unter uns...Ich heiße HARUSPEX!"
"Ok, Kain! Tschüss!"sagte Pierre und verließ das Gebäude.
*
Als Pierre aus dem Gebäude trat spürte er plötzlich eine aufkommende Dunkelheit.
Alles um ihn herum, die wunderbaren Wiesen und Hänge, versanken in tristen grau und schwarztönen.
Wieder umfing ihn diese merkwürdige, lilafarbene Aura, seine Pupillen verfärbten sich schwarz.
Das goldene Ticket in seiner Hosentasche schien auf einmal tonnenschwer.
Unter Aufwendung größter Mühen zog Pierre das Ticket aus der Tasche.
Als er es betrachtete ließ er es vor Schreck fallen.
Auf dem Ticket war ein Gesicht gewesen. Augen, Mund, Nase.
"Oh, habe ich dich erschreckt?"fragte eine junge Mädchenstimme dumpf.
Pierre sah sich erschrocken um. Doch niemand war in der Nähe.
"Hier unten!"sagte die Stimme.
Pierre blickte nach unten auf das Ticket.
"Bist du das?"fragte er schüchtern und verblüfft.
"Ja, du Blödmann! Jetzt heb' mich schon auf!"
Vorsichtig hob er das Ticket auf und sah es an.
Tatsächlich. Als es wieder anfing zu sprechen, bewegte sich der Mund und die Augen klimperten auf und ab.
"Wer bist du?"fragte das Ticket.
"Pierre!"antwortete er."Und du?"
"Ich bin Sofia? Aber...aber was mache ich hier? Wo ist mein Körper?"
"Du...du bist ein...na, ja...goldenes Ticket!"
Die Stimme von Sofia wurde schrill.
"Aber ich bin doch Sofia Ehrens! Ich, ich bin doch ein ganz normales Mädchen? Was ist mit mir passiert?"Pierre verspürte starkes Mitleid."Beruhig dich doch!"
Die Stimme schluchzte.
"Ich erinnere mich nur noch an eine kalte Stimme...an einen dunklen Schatten
Er sagte was von einem Schloss Schattenhall und einer Nachricht.Ich wollte gerade über die Straße gehen.Dann kam ein Auto! Es war so schnell und fuhr direkt auf mich zu! Dann war ich hier."
Sie verstummte kurz.
"Ich muss tot sein! O, mein Gott!"
"Das sind wir alle hier!"versuchte Pierre sie aufzumuntern.
"Aber was machst du in meinem Ticket!"
"Was denkst du,was ich mich gerade frage! Halt die Klappe!"sagte Sofia wütend.
Pierre verzog schmollend den Mund.
Die Dunkelheit um ihn herum schwand langsam und die Aura wehte davon.
Pierre fühlte sich plötzlich müde und erschöpft, als hätte er einen kilometerlangen Marsch hinter sich.
Wieder betrachtete er das Ticket, doch das Gesicht war verschwunden. Grübelnd lief er weiter.
Sonmali und Leonardo erwarteten ihn auf einer kleinen, gräsernen Aue.
"Ich muss wieder zum Bus!"sagte Pierre.
Sonmali umarmte ihn kurz freundschaftlich."Komm mich mal besuchen!"sagte er.
"Mache ich!"entgegnete Pierre und lief Richtung Himmelspforte.
Der Fährmann lehnte lässig am Bus und kaute ein wenig nervös auf seinem Hustenbonbon herum. Seine leeren Augenhöhlen fixierten Pierre.
"Schick, das Paradies! Oder?"fragte er.
"Ganz nett!"murmelte Pierre gedankenversunken.
Zusammen stiegen sie in den Bus.
"wo fahren wir jetzt hin?"fragte Pierre. "Ich bin doch jetzt der letzte Reisende."
"Eigentlich sollte dir das Ticket unser Ziel verraten."entgegnete der Fährmann.
"Moment..."murmelte Pierre grübelnd.
"Schloss Schattenhall!"rief er plötzlich. "Sofie hatte etwas von einem Schloss Schattenhall gesagt. Gibt es das?"
"Oooooohhhhh jjjaaaa...Schloss Schattenhall liegt in den nördlichen Wolkenbergen. Viele Geschichten ranken sich um dieses alte Gemäuer. Es stammt aus uralten Zeiten, Zeiten bevor es noch gar keine Zeit gab.
Manche meinen es war eine Irrenanstalt, andere sagen dort werden die schlimmsten aller Tyrannen hin verbannt und ganz andere glauben, es ist die Residenz des Todes!"
"Das klingt vielversprechend! Lass uns aufbrechen!"meinte Pierre.
Der Bus zischte kurz und setzte sich dann ruckelnd in Bewegung.
Pierre setzte sich auf eine Bank im hintersten Winkel des Busses. Strähnen siener schwarzen Haarmähne legten sich auf seine Augen und verbargen seine Miene. Er hatte die Hände vor der Brust verschränkt und war in tiefes Schweigen verfallen.
Der Fährmann kam zu ihm nach hinten gelaufen.
"Du solltest da noch etwas wissen..."begann der Fährmann.
Pierre sah auf.
"Noch nie ist jemand lebend aus dem Schloss zurückgekehrt!"
"Das hätte ich mir beinahe denken können!"schnauzte ihn Pierre an.
"Woher dieser Sarkasmus?"
"Ich weiß es auch nicht! Es ist, als würde etwas Kaltes, etwas Böses nach meinem Herz greifen. Je näher wir Schattenhall kommen, desto kälter wird mir, Fährmann.
Und deine Bemerkungen verängstigen mich nur noch mehr! Also sei still!"
Der Fährmann schniefte und fuhr sich mit dem Ärmel seines schwarzen Gewandes über die toten Augen, Tränen rannen aus ihnen herab.
"Noch nie hat mich irgendwann jemand gemocht! Alle hassen und fürchten mich! Nur weil ich ein Skelett bin! Nur weil ich euch in die Hölle kutschiere!"schluchzte er und ließ sich neben Pierre auf die Bank sinken.
Nun weinte der Fährmann hemmungslos und wirkte keinesfalls bedrohlich, eher wie ein kleines, armes Kind ohne Freunde.
"Keiner mag mich! Niemand! Noch nicht einmal der schehle Piet da vorne!"heulte er und deutete zu dem Zombie am Steuer.
Pierre legte dem Fährmann mitleidig einen Arm um die Schulter.
"Ich mag dich Fährmann! Ich mag dich!"flüsterte er ihm zu und spürte auch, wie ihm die Tränen in die Augen stiegen. Es war alles so schnell gegangen. Eben hatte er noch auf der Fensterbank des Waisenhauses gesessen, nun war er schon durch Himmel und Hölle gereist und weinte jetzt zusammen mit dem Fährmann um die Wette.
Der Fährmann beruhigte sich langsam wieder, seine Tränen versiegten und schließlich erstarb auch das letzte Schluchzen. Er sah Pierre mit seinen toten Augen und fahlen Zügen an.
"Ich komme mit dir nach Schloss Schattenhall! Heute gibt's eine all-inclusive-Reise!"
Pierre lächelte den Fährmann an.
"Hast du eigentlich einen richtigen Namen?"
"Ja, den habe ich! Aber den sage ich selbst dir nicht!"Und so verfielen sie beide in nachdenkliches Schweigen. Pierre blickte zum Fenster hinaus und betrachtete Sternenbilder und schwarze Löcher, die am Fenster vorbeizusausen schienen. Doch langsam schienen die Sterne immer größer und schöner zu werden und ihr Licht erstrahlte so hell und funkelnd, wie alles Glühbirnen der Welt zusammen.
"Was sind das für Sterne?"fragte Pierre den Fährmann.
"Das sind die großen und edlen Träume!"
"Ah! Davon hat mir meine Mutter erzählt!"entfuhr es Pierre und blickte mit wachsendem Intersse und Begeisterung aus dem Fenster.
"Siehst du den da?"meinte der Fährmann und deutete auf einen Stern, der direkt vor ihrer Nase vorbeiflog.
"Das ist der Traum von Martin Luther King! Eine Welt, frei von Rassismus!"
"Und der da?"fragte Pierre und zeigte auf einen Anderen.
"Der Traum vom Fliegen! Und der da, das ist der Traum von Freiheit! Und...."
"Achtung! Traumfresser!"rief Piet, der Busfahrer plötzlich.
"Verdammt! Pierre, werf dich auf dne Boden!"schrie der Fährmann und zog Pierre mit sich hinab.
Ein markerschütternder Aufschrei ließ den Bus, sowie Pierre und den Fährmann vor Angst, erzittern.
Pierre lugte ein wenig zwischen den Sitzreihen zum Fenster und sah ein riesiges, drachenartiges Geschöpf, dass einen schwarzen Schweif hinter sich ziehend am Fenster vorbeiflog und einen Stern in seinem weit aufgerissenen Maul verschwinden ließ.
"Er ist weg! Kommt hoch!"sagte Piet und Pierre und der Fährmann standen langsam auf.
"Was war das?"fragte Pierre seinen Begleiter.
"Das waren Traumfresser! Sie bestehen aus Zorn, Grausamkeit, Hass, Intoleranz und Feigheit der Menschen und ernähren sich von ihren Träumen."
"Also machen sich die Menschen ihre eigenen Träume kaputt!"meinte Pierre.
"Ja, Pierre, so ist es!"sagte der Fährmann nachdenklich.
Nachdem sie die Sterne der edlen Träume passiert hatten gelangten sie in ein Gebilde aus riesigen, schwarzen Wolkenbergen, die sich vor ihnen auftaten.
Blitze durchzuckten die Berge und das Donnergrollen ließ Pierre jedes Mal zusammenzucken.
Der Fährmann deutete auf die Spitze des höchsten Wolkenberges.
"Dort ist es! Schloss Schattenhall!"
Pierre sah hinauf zur Spitze und erblickte ein riesiges Bauwerk, aus schwarzen Steinen, mit riesigen Türmen, Zinnen und Erkern, die sich wie ein unentwirrbares Labyrinth auf der Spitze erstreckten.
"Sieht aus wie in einem Horrorfilm!"meinte Pierre.
Sie fuhren über steile Wolkenserpentinen hinauf zum Schloss, an den Seiten des Weges waren Schilder aufgestellt.
"Betreten verboten! Geistesgefahr!"prangerte es auf einem.
"Achtung! Für Verrücktheit und Wahnsinn kommt ihre Versicherung nicht auf!"auf dem Anderen.
Doch sie ließen sich nicht von den Schildern beeindrucken und fuhren immer weiter auf die Spitze des Berges, zu Schloss Schattenhall, dem düstersten aller düsteren Gemäuer.
*
Piet hielt in einigen Metern Abstand zum Schloss.
"Hier müsst ihr alleine weiter! Ich fahr nicht näher ran!"sagte der Busfahrer und öffnete per Knopfdruck die Tür.
Der Fährmann warf ihm einen düsteren Blick zu.
"Tut mir leid, Fährmann! Alter Knabe."
Dann traten Pierre und der Fährmann aus dem Bus. Als Pierre mit seinen Füßen auf die grauen Wolken trat, sackte er wie in Schnee ein.
"Keine Angst! Auf den Wolken kann dir nichts passieren!"sagte der Fährmann und lief voraus zum Schloss.
Aus den Fenstern des Schlosses drang warmes, gelbliches Licht.
"Esscheint jemand zuhause zu sein!"meinte der Fährmann.
"Und hoffentlich kann mir dieser Jemand endlich erklären was der ganze Unfug soll!"
Sie blieben vor dem riesigen, mit Schnitzerein von Dämonen und Monstern verzierten Portal des Schlosses stehen. Zu ihrer Verwunderung entdeckten sie einen elektronischen Kartenleser an der Seite des Portals. Auf dem kleinen Bildschirm flimmerten einige Worte:
"Please insert your Goldcard!"
"Überall Englisch! Sogar hier!"entrüstete sich der Fährmann.
Pierre holte sein goldenes Ticket hervor.
"Jetzt oder nie!"sagte er feierlich und steckte die Karte in den Leser.
Das Gerät summte kurz und schließlich erschienen die Lettern:
"Welcome at Castle Schattenhall! Your access is granted!"
Das Portal öffnete sich quietschend und gab eine riesige Halle mit schwarzen Marmorboden frei, an deren Ende eine Tür war, vor der an einem Tisch eine junge Frau saß.
Der Fährmann und Pierre wollten gerade eintreten, als hinter ihnen ein kurzes Husten ertönte und schließlich eine Stimme sagte, die Pierre wohl vertraut war:
"Wo, wo bin ich?"
Pierre fuhr herum.
"Sofie!"sagte er zaghaft.
Und tatsächlich. Neben dem Kartenschalter stand auf einmal ein schlankes Mädchen mit kastanienbraunen Haaren und blauen Augen, die aus einem hübschen, Sommersprossen bedeckten Gesicht hervorblickten, dass etwa in Pierres Alter war.
Sie trug einen trägerloses Top, eine Jeans und ihr Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.
"Ach, du bist doch dieser Pierre!"sagte sie.
"Das will ich doch meinen!"entgegnete dieser und war direkt auf Konfrontationskurs.
"Und kannst du mir sagen was ich hier soll?"fragte sie.
Sofie ging Pierre schon jetzt auf die Nerven, zickig und arrogant, genau die Sorte Mädchen, die Pierre ganz besonders verachtete.
Der Fährmann stellte sich zwischen die Beiden.
"Leuuuute! Beruhigt euch!"sagte er beschwichtigend.
"Und was bist du denn für ein Heini!"fuhr sie den Fährmann an.
"Weißt du wenigstens was hier abgeht! Ich will hier weg!"
Der Fährmann sah sie verwirrt an.
"Jetzt hört sich aber alles auf, junge Frau, weißt du,..."doch sie hörte ihn gar nicht und ging einfach an ihm vorbei zum Tisch an dem die Frau saß.
Pierre und der Fährmann folgten ihr völlig überrumpelt.
"Was ist hier los?"fragte Sofie die Frau direkt.
Die Frau, eine adrette 40-Jährige mit Nickelbrille und strengem Zopf, sah verwundert auf.
"Ich will wissen was hier los ist!"schluchzte Sofie mit hochroten Kopf und brach auf einmal in Tränen aus.
"Ich will weg zu meiner Mama...zu meinen Freunden...."rief sie flehend und fiel Pierre in die Arme. Dieser war noch verwirrter und überrumpelter zuvor. Erst war sie die reinste Furie und nun schmiegte sie sich weinend an ihn.
"Da soll mal einer die Frauen verstehen!"murmelte der Fährmann.
Pierre spürte Sofies warmen, geschmeidigen Körper an dem seinen und Röte stieg ihm ins Gesicht. Er wusste sich nicht zu helfen und legte ihr langsam, geistesgegenwärtig über den Rücken um sie zu beruhigen.
Als sie dies spürte, wandte sich Sofie aus seinem Griff.
"Was soll das?"fragte Sofie wütend.
"Ich will nichts von dir! Guck dich doch mal an! Du bist voll der Loser! Das war nur...aus Versehen!"rief sie.
"Wen darf ich melden?"fragte die Dame am Schreibtisch.
Der Fährmann räusperte sich und steckte sich ein Hustenbonbon in den Mund.
"Äh...Sofie, Pierre und meine Wenigkeit!"sagte er.
Die Dame griff nach einem Telefon.
"Ja, Sofie, Pierre und der Fährmann...sehr wohl, Herr,....ja, die drei Kammern...gut,...natürlich....ich schicke sie durch!"sprach sie in den Hörer und legte auf.
"Gehen sie bitte durch diese Tür!"sagte sie und deutete hinter sich.
"Sie werden durch die drei Kammern gehen müssen, eine tückischer als die Andere. Dann treffen sie meinen Chef."Pierre und der Fährmann liefen schweigend zur Tür.
"Wer ist ihr Chef?"fragte Sofie noch die Dame, doch diese blieb stumm wie ein Fisch.
Dann folgte Sofie den beiden Anderen.
Der Fährmann und Pierre waren vor der Tür stehen geblieben, auf der in großen, goldenen Lettern etwas stand:
Die Halle der toten Dichter
*
Pierre, Sofie und der Fährmann betraten die Halle. Im Schein von nur vier Fackeln lag die Halle in Dunkelheit. In ihrer Mitte stand ein kreisrunder Tisch, auf dem ein Teelicht stand.
Um ihn herum saßen vier Männer.
Hinter den Dreien fiel die Tür ins Schloss und es wurde noch dunkler.
"Gäste, Gäste was eine Freud"sagte ein Mann.
"O, was für ein schöner Tag ist heut!"sagte ein Anderer.
"Wenn ich uns vorstellen darf!"meinte ein Dritter.
"Unser Pergament ist rau und unsere Federn scharf!"sagte wieder der Erste.
"Wir sind die vier größten aller großen Dichter!"
"Unsere Werke funkeln wie der Sternen Lichter!"
"Ich bin Friedrich Schiller!"
"Und er ist bei weilen kein Stiller!"
"Ich bin Gothe, das weiß doch jeder!"
"Und mein Name ist...""Leute! Moment mal!"unterbrach der Fährmann die Dichter.
"Ist ja alles schön und gut, aber wir wollen nur weiter!"
"Den Schlüssel zum nächsten Raum hab ich in meiner Hand!"sagte Goethe.
"Aber ich geb ihn euch nicht in die Hand!"
"Schlechte Dichtung!"spottete Schiller über Goethe.
Pierre kam eine Idee.
"Ihr meint, ihr könnt zu jedem Wort ein Anderes finden, dass sich darauf reimt?"fragte er die Dichter.
"Ja, das behaupten wir!"
"Denn die größten Dichter sitzen hier!"
"Und wenn ich ein Wort sage, zu dem ihr kein Anderes wisst, gebt ihr mir dann den Schlüssel?"
Die Dichter steckten kurz die Köpfe zusammen, überlegten und diskutierten.
"Wir nehmen deine Herausforderung an!"entschieden sie.
"Gut!"sagte Pierre und ein verschmitzes Lächeln huschte über sein Gesicht.
"Dann sagt mir ein Wort, dass sich auf das beste Gedicht aller Zeiten reimt. Ihr habt fünf Minuten Zeit!"forderte sie Pierre auf und stellte seine Armbanduhr ein.
"Das ist natürlich mein "Erlkönig"!"meinte Goethe.
"Niemals! Ich habe tausendmal bessere Werke als du geschrieben! Wir müssen ein Wort finden, dass sich auf eines von meinen reimt!"
Und so stritten die Dichter ganze fünf Minuten lang. Mal sollten Goethes Werke besser sein, mal Schillers.
Pierres Uhr piepte und deutete an, dass die fünf Minuten vorüber waren.
"Es tut mir Leid, werte Herren!"sagte Pierre mit einem breiten Grinsen, während der Fährmann ihm anerkennend auf die Schulter klopfte.
"Aber ihr habt verloren! Her mit dem Schlüssel!"Mit schlaffen Schulten warf ihm Schiller einen bronzenen Schlüssel zu.
"Die Tür ist auf der anderen Seite! Doch sage mir, was ist die Lösung gewesen?"
Während Pierre mit Sofie und dem Fährmann zur Tür ging, drehte er sich noch einmal um.
"Keins! Das wäre richtig! Darauf reimt sich "meins", "seins","Scheins", "Weins" und "Reims!"antwortete Pierre kichernd.
Dann kamen sie zu einer weiteren, großen Tür, die in die nächste Halle führte.
Wieder stand auf ihr Etwas in goldenen Lettern:
Der Saal der wunderbaren Labsal
*
Pierre betrachtete nachdenklich den Schriftzug, steckte dann den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Tür, die knarzend aufschwang. Ein Duft nach Rosenblüten, Honig und Kerzenwachs umfing sie.
Der Fährmann rieb sich die Augen, Pierre's Mund stand so weit offen, dass er eine Banane hätte quer essen können, während Sofie große, funkelnde Augen bekommen hatte.
Vor ihnen tat sich eine große, hell erleuchtete Halle auf, die Decken waren mit bunten Stoffbahnen behängt, Vögelschwärme aus bunten Papageien flogen durch den Saal, Springbrunnen standen in dem Saal, aus denen Cola, Honig, Milch und reines, kristallklares Wasser sprudelten.
Bequem aussehende Liegen, neben denen kleine Tische mit erlesenen Köstlichkeiten standen, waren in der Mitte der Halle aufgebaut.
Männer mit Waschbrettbauch und stählernen Muskeln, sowie wunderschöne Frauen mit dunkler Haut und wallenden Gewändern standen mit Palmenwedeln und Platten mit Weintrauben und Chips neben den Liegen.
Eine Frau mit schwarzen, langen Haaren, dunklen Augen und schlanker Figur kam auf die Drei zu.
"Seid willkommen in den Hallen der wunderbaren Labsal! Mein Name ist Joslina, eure ergebene Dienerin, bereit um euch jeden Wunsch zu erfüllen!"stellte sie sich mit einer Stimme vor, die Pierre und den Fährmann Wachs in ihren Händen werden ließ.
Sofie sah Pierre wütend an und verschränkte die Arme vor der Brust.
"Wir wollen nur in die nächste Halle, du Tussi!"spie sie der Frau ins Gesicht.
Aber blieb, doch hier Kind! Wir werden dir all diene Träume wahr werden lassen!"
"Aber gerne bleiben wir hier,Joslina!"sagten der Fährmann und Pierre im Chor mit monotonen Stimmen und Sabber auf den Lippen.
Joslina strich Pierre über das Kinn und die Wange.
"Das freut mich mein, Lieber! Das freut mich!"
Sofie zerrte an Pierre's Arm.
"Komm schon, du Idiot! Die spinnt dich doch um den kleinen Finger! Wir müssen weiter!"
Pierre riss sich wütend von ihr los.
"Ich bleibe hier! Das ist doch perfekt! Die haben hier sogar Flachbildfernseher mit einer Playstation4! Die ist noch gar nciht auf dem Markt!"
"Jungs!"stöhnte Sofie entnervt.
"Dann geh' ich halt alleine weiter!"sagte sie entschlossen und lief zur nächsten Tür, während sich Pierre und der Fährmann zu den Liegen geleiten ließen.
Doch kurz vor der Tür hielt sie ein und kam zurück. Entschlossen stellte sie sich vor Pierre auf. Gelangweilt ließ er eine Weintraube in seinem Mund verschwinden.
"Ich bleibe hie...!"wollte er sagen, da küsste sie ihm kurz auf die Wange.
Pierre starrte ungläubig in ihre Augen, einen kurzen Moment, der für sie wie eine Ewigkeit war.
"Überredet!"hauchte er und stand auf.
Joslina berührte seinen Arm. "Aber..."
"Lass mich los! Wir müssen zu dem Herrn dieses Gemäuer!"sagte er zu ihr und zerrte den Fährmann mit sich zur nächsten Tür.
"Das klingt nicht lustig!"meinte Pierre als er die goldenen Lettern erblickte, die wieder an der nächsten Tür angebracht waren.
Die Katakomben des Krieges *
Sie betraten den nächsten Raum und diesmal rochen sie Schwefel und Blei, deren Geruch schwer in der Luft lag.
Die Halle war ein langgestrecktes Gewölbe, dessen Ende in Rauch verschwand. An den Wänden standen hohe Regale, die mit allen möglichen Waffen vollgestellt waren.
Morgensterne lagen auf den Regalbrettern, Schwerter, Dolche, Maschinengewehre, Äxte, Musketen, Kanonen, Kanonenkugeln, Pistolen, schallgedämpfte Pistolen, Bomben, Granaten, Sicheln, Bögen, Pfeile, Lanzen, Speere und Säbel.
Ein älterer Mann mit schütteren Haaren und einer Brille mit riesigen Gläsern kam herangeschlurft.
"Wenn ich mich vorstellen darf."sagte er mit brüchiger Stimme.
"Ich bin Tom, der Führer durch die Katakomben des Krieges! Folgt mir und bitte verfallt nicht in Wahnsinn bei dem was ihr seht. Dann werdet ihr den Herren treffen!"forderte er sie auf und schlurfte davon in den Nebel.
Sofie, der Fährmann und Pierre folgten ihm.
Sie liefen durch einen Gang, den Tom als Anthologie der Kriege bezeichnete."Wisst ihr eigentlich, dass 87% der Weltgeschichte Krieg ist. Kaum ein Jahr, in dem kein sinnloser Krieg geführt wurde."erklärte Tom.
Sie durchliefen den Gang, passierten die Punischen Kriege, die Germanischen Kriege, die Bulgarischen Kriege, den hundertjährigen Krieg, die Feldzüge des Alexanders, den dreißig jährigen Krieg, die Ungarnkriege, den Vietnamkrieg, den 1.Weltkrieg, den 2.Weltkrieg, die Pazifischen Kriege, die Peleponnesischen Kriege, den Unabhängigkeitskrieg, die Feldzüge der Spanier und den Irakkrieg, um nur einige zu nennen.
In den Hallen waren Bilder ausgestellt, die die Schlachtfelder, übersäht mit Leichen und zerstörten Waffen zeigten, in Fernsehern liefen Filme, die die Schlachten wirklich zeigten, keine Dokumentationen, kein Spielfilm, die echten Bilder, als ob jemand mit der Digitalkamera zugeguckt hatte.
Es dauerte drei Tage, um die Katakomben zu durchqueren, in denen sie immer wieder mit schrecklichen Bildern konfrontiert wurden. Und dazu immer die monotone Stimme Toms, der wie in einem Singsang Zahlen von Toten, Jahreszahlen und Umstände von Toden aufzählte.
Pierre musste sich mehrmals übergeben, Sofie weinte bittere Tränen und der Fährmann sagte kaum noch ein Wort.
Pierre glaubte, dass nicht etwa dieses klischeehafte Feuermeer am Anfang seiner Reise die wirkliche Hölle war, vielmehr glaubte er, dass dies hier die Hölle sein musste: Dieser nicht enden wollender Gang aus Krieg, Leid und Tod.
Irgendwann, kurz vor dem Golfkrieg, brach der Fährmann zusammen.
"Ich...ich kann nicht mehr! Mama, Mama! Ich kanns nicht mehr hören! So viel Tod! Das vertrag selbst ich nicht!"schluchzte er und kauerte sich zusammen.
Tom wollte gerade die Daten des Golfkrieges aufzählen, als Sofie ihm eine klatschte.
"Jetzt halt mal die Klappe, Alterchen!"schnauzte sie ihn wütend an.
"Das Gefasel ist ja nicht zum aushalten."Doch Tom fuhr unbeeindruckt fort.
Pierre stöhnte und riss eine Stoffbahn aus dem Umhang des Fährmanns, schlug Tom ins Gesicht, fesselte dem Alten die Hände auf den Rücken und knebelte ihn mit einer weiteren Stoffbahn.
"Endlich Ruhe!"murmelte er erleichtert und erschöpft.
Doch der Fährmann saß nur noch am Boden und murmelte Jahreszahlen und Totenzahlen.
"Der ist verrückt geworden!"meinte Sofie.
"Quatsch! Wir müssen ihn nur aufmuntern!"erwiderte Pierre, stellte sich vor den Fährmann, gackerte wie ein Huhn und lief im Kreis. Aber dieser beachtete ihn gar nicht, sondern zählte lieber die Verletzten der Schlacht von Agincourt auf.
"Hör auf! Du machst dich nur zum Affen!"sagte Sofie und erhob die Sitmme, um dem Fährmann einen Witz zu erzählen.
"Also...eine Frau kam zum Arzt..."
"Der ist blöd, Sofie! Ich kenne einen besseren!"
"Gar nicht! Meiner ist der beste!"
"Erzähl keinen Mist!"
Und so fingen sie an zu streiten, wobei Sofie und Pierre gar nicht merkten, wie der Fährmann plötzlich anfing klappernd zu lachen.
"Wenn ihr euch streitet seid ihr zum totlachen!"kicherte er.
Pierre fuhr herum.
"Du bist Ok!"rief er glücklich und fiel dem Skelett in die Arme.
"Das will ich doch meinen!"entgegnete der Fährmann.
"Los, Jungs! Wir haben es fast geschafft! Nur noch bis zum Ende der Halle!"rief Sofie erregt.
Und so rannten sie die letzten Meter, bis sie zu einem riesigen, goldenen Portal gelangten.
Als sich die Drei ihm näherten, öffnete es sich knarzend.
Hinter ihm lag ein düsterer Saal, beleuchtet von blauen Flammen.
*
Sofie, Pierre und der Fährmann betraten die Halle, an deren Ende ein gewaltiger Thron stand. Ein schwarzer Teppich führte zum Thron, der von mehreren, mit Hellebarden bewaffneten Skeletten flankiert wurde.
Die Drei liefen den Teppich entlang, wobei ihre Schritte hohl im Saal hallten.
Kurz vor dem Thron blieben sie stehen und glaubten ihren Augen nicht.
Im Thron saß ein Baby, dann plötzlich wurde es zum Jungen mit schwarzen Haaren, dann zum Teenie, zum Erwachsenen, zum Greiß, zum Skelett und wieder zum Baby. Alles geschah in nur wenigen Sekunden.
"Ich bin der Tod!"sagte er als Skelett. Dann brabbelte er etwas als Baby.
"Medizin!"rief der Tod als Teenager.
Ein Skelett eilte mit einer silbernen Karaffe heran und flößte dem Tod im Stadium eines Erwachsenen die Flüssigkeit im Gefäß ein.
Der Tod hörte abrupt auf sich zu verwandeln.
"Ah...so ist es besser!"sagte er.
"Was ist mit dir los?"fragte der Fährmann.
"ich leide an einer seltenen Krankheit, die mich in nur wenigen Sekunden altern lässt, da ich aber nicht sterblich bin, werde ich wieder vom Greis zum Baby und dann wieder von vorn. Diese Medizin hält die Krankheit für einige Minuten auf, doch sie kann sie nicht heilen! Ich bin kaum noch in der Lage mein Reich zu verwalten!""Das ist ja schrecklich!"meinte Sofie mitfühlend.
"Genau! Und deshalb habe ich dich von Pierre hierher bringen lassen, meine Tochter!"sagte der Tod liebevoll zu ihr.
"Lange bin ich über die Erde gewandelt und habe nach der Richtigen gesucht, dann hab' ich dich schnell vom Auto überfahren lassen und dich in das goldene Ticket verwandelt.
Dann habe ich Pierre sterben lassen, den ich nach dem Tod seiner Mutter ausgewählt hatte.
Du warst nichts weiter als ein Bote für meine Tochter, deshalb gab ich dir auch die Kraft, Menschen in Nichts zu verwandeln."
Sofie und Pierre wurden kreidebleich. Pierre war nur benutzt worden. Ein Postbote war er gewesen, nichts mehr.
Der Tod wandte sich wieder Sofie zu.
"Komm zu mir herauf, ich werde dich küssen und dann wirst du meine Stelle einnehmen! Ich mache dann Urlaub auf dem Mond!"
"Nein! Ich will nicht!"kreischte Sofie und wich zurück.
"Holt sie mir!"befahl der Tod zwei Skeletten, die klappernd und mit erhobenen Waffen auf sie zugingen.
Pierre und der Fährmann stellten sich zwichen Sofie und die Skelette.
Der Fährmann zückte ein Schwert unter seinem Mantel und warf Pierre einen Dolch zu.
"Hab ich in den Katakomben mitgenommen! Man kan ja nie wissen!"
Und so entbrach ein Kampf zwischen den Skeletten und Pierre, sowie dem Fährmann.
Ein Skelett schlug mit der Hellebarden nach Pierre, dieser wich aus und schlug dem Skelett den Kopf ab. Blind lief es durch den Saal, bis es schließlich gegen eine Wand knallte und in mehrere Teile zersprang.
Der Fährmann hackte einem Skelett die Beine und Arme weg, bis sich nur noch Kopf und Rumpf klappernd bewegten, ohne jede Gegenwehr.
Der Tod sprang wütend von seinem Stuhl auf, dieselbe Aura wie einst Pierre umfing ihn.
"Ihr habt es nicht anders gewollt!"
Er richtete seinen Zeigefinger auf den Fährmann und ein lilaner Strahl entfuhr ihm und durchbohrte den Fährmann.
Das Skelett sackte zusammen und fing sich von den Beinen an in Luft aufzulösen.
"Argh!"stöhnte der Fährmann.
"Ich werde zu Nichts!"sagte er mit matter Stimme.
Pierre beugte sich zu ihm herab und hielt seine Hand, während sich Becken und Rumpf auflösten.
"Ich hoffe ihnen gefiel die Reise im Nachtbus durch die Unendlichkeit und sie beehren uns bald wieder!"sagte der Fährmann mit hustendem Lachen und nahm zum letzten Mal ein Hustenbonbon in den Mund.
"Wie heißt du?"fragte ihn Pierre.
"Fährmann!"
Dann war der Fährmann zu nichts geworden. Weder tot, noch lebendig, einfach nicht vorhanden. Vom Erdboden verschluckt.
Pierre sank auf die Knie und weinte, dann ergriff er das Schwert des Fährmanns und stürzte in Richtung des Todes.
Dieser zückte ebenfalls seine Klinge und zwischen ihnen entbrannte ein heftiger Fechtkampf.
"Wir können beide nicht sterben! Willst du in alle Ewigkeit mit mir kämpfen, bis die Posaunen des jüngsten Tages uns aus unserem Kampf reißen!"
"Wenn es sein muss, Gevatter!"erwiderte Pierre mit aufeinandergebissenen Zähnen.
Da schlich sich Sofie plötzlich von hinten an den Tod heran.
"Hey, Tod! Alte Kalkleiste! Dreh dich mal um!"rief sie ihm zu.
Verwirrt fuhr er herum.
"Tod...ich liebe dich!"rief sie und küsste ihn.
Der Tod röchelte plötzlich und ließ das Schwert fallen. Er griff sich an die Brust, dort wo das Herz war und sank auf die Knie.
Dann verschwand er vollends, und dort, wo er eben noch gestanden hatte, lag nun nur noch eine schwarze Rose.
"Wie hast du das gemacht?"fragte Pierre Sofie verwirrt.
"Liebe ist stärker als der Tod!"sagte sie und ihr Gesicht näherte sich Pierres.
Dann küssten sie sich hingebungsvoll.
*
Träume können fliegen.
Manche sind wie Schmetterlinge, andere aber wie Wespen.
Pierre schlug müde die Augen auf und konnte sich nicht entscheiden, was er für einen Traum gehabt hatte. Vieles in dem Traum, der Tod des Fährmanns zum Beispiel, hatte ihn gestochen, doch vor allem das Ende war sehr nett gewesen, wenn er an den Kuss dachte.
Er blickte sich in dem Kinderzimmer um. Alles war wie immer und doch war alles anders.
Neben sich auf dem Boden vor dem Bett lag sein Geschichtsbuch mit den Daten aller Kriege, darunter seine Deutschhausaufgaben mit Schiller und Goethes Gedichten.
Pierre blickte hinauf zum Fenster, zu den Sternen und Monden.
Der Wind wehte durch die Baumkronen und klang fast wie das Wispern des Todes.
Irgendwo zwischen den Milliarden Sternen fuhr gerade der Nachtbus entlang, auf seinem Weg durch die Unendlichkeit.
Ende der Geschichte