Nachtfahrt mit Ulrike

Hagen

Mitglied
Nachtfahrt mit Ulrike

Es ist lange her, eine gefühlte Ewigkeit, dass es Hägar-Comics und CB-Funkgeräte in den Autos gab; - aber genau da beginnt die folgende Geschichte:
„Wer ist QRV für einen einsamen Fünfachser auf dem Weg nach Norden'?“
Ich drückte Ulrikes Hand kurz.
'Geh' doch mal rein für den einsamen Fünfachser' heißt das.
Ulrike drückte zurück.
'Okay' heißt das, 'dann quasseln wir eben ein bisschen. Es tut irgendwie gut, mal wieder mit normalen Menschen zu reden.'
„Hay Trucker! Dann komm' doch mal rein für die badende Venus. Beakedy-break.“
Ulrike ließ den Sprechknopf des Mikrophons los und drehte das Autoradio etwas leiser, es gab eh nur seichte Tanzmusik vor Mitternacht von sich.
„Hier ist der Tango Diesel, ganz alleine mit einer Ladung Bücher hinten drauf. Freut mich, dass sonst noch wer auf dem Band ist. Hallo badende Venus, sei mir geflirtet. Break.“
„Sei mir zurückgeflirtet Tango Diesel. Was hast Du denn für Bücher geladen?“
„Du wirst es nicht glauben, lauter Bibeln. Die gehen alle nach Afrika. Sicher hat da son Missionar einen neuen Eingeborenenstamm aufgerissen; - ha-ih.“
„Hast Du das sechste und siebente Buch Mose auch dabei?“
„Aaah, das meinst Du doch nicht im Ernst! Wer glaubt denn an sowas? Du etwa?“
„Man kann nie wissen. Scherzen tue ich jedenfalls nicht damit.“
„Bist Du auch eine Hexe, badende Venus? Deiner Stimme nach musst Du aber eine sehr süße Hexe sein.“
„Ich bin keine Hexe, Trucker. Mein Mann neben mir wird dir das gerne bestätigen.“
„Na, gut, entschuldige bitte. - Was treibt euch denn zu mitternächtlicher Stunde aufs Band?“
„Auch Bücher. Wir haben sechs Kartons schöne, alte Bücher mit. Wir haben die Bücher von meiner Tante in Coburg bekommen und sie lieber selber abgeholt, bevor ein Spediteur die Sachen verhunzt.“
„Kann ich verstehen“, sagte der Trucker, „ich bin früher auch für eine Spedition gefahren, da musste immer alles hoppla-hopp gehen; - und Bücher, mein Gott, was habe ich früher gelesen ...“
„Und?“, fragte Ulrike, „warum tust Du das jetzt nicht mehr?“
„Ach, weißt Du, Venus, ich hänge manchmal bis zu achtzehn Stunden auf dem Bock, am Wochenende versuche ich unser Haus alleine hochzuziehen. Wo bleibt da noch Zeit zum Lesen?“
„Verstehe ich. Aber wieso musst Du denn das Haus alleine hochziehen?“
„Tja, wir hatten mit Moluba gebaut, die haben mit der Bausparkasse alles geregelt, auch die Finanzierung und so. Schließlich haben die das Haus fertig gemeldet, kassiert und pleite gemacht. Wir saßen mit dem Rohbau und einem Haufen Schulden da. – Ach, was soll's? Bis zur Rente werde ich fertig sein.“
„Hast Du diese Schweinerei denn nicht vorher bemerkt?“
„Konnte ich nicht! Ich habe zu dem Zeitpunkt LKWs nach Libyen überführt, und meine Frau musste sich um unsere Tochter kümmern. Die ließ sich gerade scheiden und ist immer noch mit den Nerven am Ende. Unser Ältester war gerade durchs Examen gerasselt; - Wirtschaftswissenschaften; - da fällt jeder erst mal durch, naja, jetzt hat er sich gefangen und macht weiter. Ausgerechnet zu dem Zeitpunkt ist unser Jüngster auch durchgedreht. Er wurde von heute auf morgen Punker und musste unbedingt nach Amsterdam. Drei Wochen später war er wieder da, ausgehungert und mit einer dicken Lungenentzündung. Man hatte ihm seinen Schlafsack geklaut.“
„Oh, Mann“, sagte Ulrike, „ich kann dich gut verstehen. Ist deine Ehe wenigstens in Ordnung?“
„Ja, ich habe die beste Frau der Welt, auch wenn wir uns nur so selten sehen. Warum fragst Du, Venus?“
„Nur aus Anteilnahme, weil Fernfahrerehen in dem Ruf stehen, früher oder später kaputt zu gehen.“
Der Trucker an der CB-Funke erzählte, von sich und seiner Familie und von seinem Haus, das er alleine baute. Hin und wieder gestattete er sich sogar bescheidene Träume, von einem Urlaub in der Lüneburger Heide, mal drei Wochen Ruhe, weg von dem dröhnenden Diesel rechts neben sich, keinen Zeitdruck, keinen Chef und keine Autobahnpolizisten, die immer erst mal die 'Scheibe' sehen wollten, bevor sie 'guten Tag' sagen und das Bußgeld kassieren.
Fernfahrer gehören mit Sicherheit zu den einsamsten Menschen der Welt. Als ich mal achtzehn Stunden lang gefahren war, hatten sich bei mir Halluzinationen eingestellt, ich hatte einen imaginären Lastwagen zu überholen versucht und Autos und Maschinen auf Brücken gesehen, die nicht da waren, und ich war groggy danach wie selten zuvor.
Aber der Bursche da vor uns in dem Sattelschlepper, der machte sowas fast jeden Tag und wühlte am Wochenende sogar noch auf dem Bau.
Ulrike neben mir schwieg eine Weile, die Musik im Radio wurde auch ausgeblendet und der Nachrichtensprecher meldete sich: „Es ist Null Uhr. Vom saarländischen Rundfunk hören sie Nachrichten.“
Vor uns schälte sich ein einsamer Sattelschlepper aus der Dunkelheit.
„Tango Diesel für die badende Venus, was ist denn los bei euch, seit ihr gestorben?“
„Keineswegs“, sagte Ulrike, „wir haben nur überlegt, ob Du das bist, in dem grünen Truck vor uns.“
„Ja, das bin ich. Seid ihr das, in dem Leichenwagen, der mich eben überholt hat, und der so hoch auf der Straße liegt'?“
„Oh, nein, die badende Venus fährt doch nicht mit einem Leichenwagen! Wir sind in dem silbernen Passat hinter dir.“
„Ach, klar, Mensch! In dem Wagen sitzt auch nur einer; - ein merkwürdiger Typ! Als ich ihn im Rückspiegel sah, hatte ich das Gefühl, da sitzt keiner am Steuer. Na, wahrscheinlich bin ich übermüdet.“
„Möglich“, sagte Ulrike nachdenklich, „weißt Du, dass man Vampire im Spiegel nicht sehen kann?“
„Ammenmärchen! Wer glaubt denn heutzutage an Vampire? - Venus, sei' mir bitte nicht böse, aber ich muss mal eben rechts raus, nach den Reifen gucken, 'hab' das dumpfe Gefühl, da verliert hinten einer Luft. War nett mit Dir zu breaken, vielleicht trifft man sich mal wieder.“
„Können wir Dir helfen, Trucker?“ fragte Ulrike.
„Lass' man, Venus, nett von euch, aber Ihr wollt doch sicher auch nach Hause, lasst euch nicht aufhalten. Das war's dann vom Tango Diesel.“
„Schade, wir hätten gerne noch weiter gemacht, man trifft so selten nette Leute auf Band. Das war's denn auch von der badenden Venus. Mach's gut, Trucker!“
Der Sattelschlepper vor uns begann rechts zu blinken und bog kurz darauf hinter einem Parkplatzschild ab.
„Schade“, sagte ich zu Ulrike, „'ist so'n netter Kerl gewesen, ich hätte gerne noch eine Tasse Kaffee mit ihm getrunken, meinst Du nicht auch'?“
„Oh, ja“, antwortete Ulrike, ließ meine rechte Hand los und begann Zigaretten zu drehen, „der ominöse Leichenwagen geht mir nicht aus dem Kopf; - hast Du noch einen Wagen auf der Autobahn gesehen?“
„Nein, gar nichts. Seit Karlsruhe ist die Autobahn wie leergefegt, nicht mal in der Raststätte 'Wetterau', wo wir vorhin getankt haben, war jemand.“
Ulrike zündete die Zigaretten an und schob mir eine in den Mund, „trotzdem geht mir der Leichenwagen nicht aus dem Kopf! Der Trucker darin machte mir nicht den Eindruck, als ob er spinnen würde.“
„Mir geht es genauso. Möglicherweise ist der Leichenwagen auch vor uns auf den Parkplatz gefahren, und wir konnten ihn deshalb nicht sehen.“
„Möglich“, grübelte Ulrike, „trotzdem habe ich das dumpfe Gefühl, als ob uns heute noch was passieren würde! Fahr bitte vorsichtig, oder soll ich dich mal ablösen?“
„Ich musste ja bei Tante Anette schlafen. Bis Kassel schaffe ich es wohl noch, und den Rest machst Du dann, Okay?“
„Okay“, lächelte Ulrike, stellte ihren Sitz etwas zurück und griff wieder nach meiner rechten Hand, „dann will ich mal 'n bisschen Kräfte sammeln.“
Die gesamte Autobahn vor und hinter uns war leer, gespenstisch leer, als Kassel vor uns auftauchte.
Ein faszinierendes Bild, die Lichter dieser Stadt, durch die sich in weitem Bogen das Band der Autobahn spannte.
Ulrike bewegte sich etwas, ließ meine rechte Hand los und legte sie ans Lenkrad.
„Ich hab' son doofes Gefühl“, sagte sie leise. Auch mich beschlich eine dumpfe Ahnung, als ob sich von hinten etwas Unheimliches nähern würde und ich nahm den Fuß etwas vom Gas.
Im gleichen Moment tat es vorne links einen dumpfen Knall, der Wagen brach zum Mittelstreifen hin aus und das Lenkrad wäre mir fast aus der Hand geschlagen worden.
Ulrike schrie auf, ich packte den Griff der Handbremse und riss ihn hoch.
Gleichzeitig lenkte ich verzweifelt gegen, weg von der Leitplanke in der Mitte der Autobahn.
Schreiend rutschten die Hinterräder über den Beton, und die Tachonadel, die eben noch auf der 140 gezittert hatte, näherte sich dem unteren Anschlag.
Ulrike atmete schwer aus, als ich den Wagen mit weißen Knöcheln auf dem Standstreifen zum Stehen brachte.
„Wir hätten uns überschlagen können“, sagte sie tonlos.
Ich nickte, meine Hände zitterten leicht und mit dezentem Vibrato in der Stimme sagte ich: „Wir sollten den Wagen absichern, damit uns keiner reinbrummt.“
Ich schaltete die Warnblinkanlage ein, stellte den Motor ab und zog die Handbremse fest an.
Der Schock kam erst, als ich ausstieg und die Fetzen des geplatzten Reifens um die Felgen hängen sah.
Bleich und zitternd lehnte ich eine Weile am Auto und rauchte eine von Ulrike liebevoll gedrehte Zigarette, während sich aus den Wiesen und Gräben um uns her die ersten Morgennebel hoben und in trägen Schwaden auf die Autobahn zu kriechen begannen.
Kein Laut war zu hören, eine unheimliche Stille lastete auf der Autobahn, nicht einmal aus der hinter uns liegenden Stadt drangen irgendwelche Geräusche zu uns, selbst der Mond schien sich vor dieser unheimlichen Stille hinter einer Wolke zu verstecken.
Das Geräusch ihrer Turnschuhe auf dem Beton der Autobahn schien mir unheimlich laut, als Ulrike ihre Zigarettenkippe austrat.
„Wechseln wir den Reifen?“, fragte Ulrike, öffnete die Heckklappe unseres Autos und nahm das Drehkreuz für die Radmuttern heraus.
Ich hatte meinen Kopf etwas gedreht, und wollte mich gerade vom Auto lösen, als sich eine der Nebelschwaden hinter uns, die inzwischen wie schlafende Drachen auf der Autobahn lagen, teilte und die Motorhaube eines großen, schwarzen Wagens freigab.
Die Vorderräder dieses Wagens schienen sich nicht zu drehen, es sah aus, als würde er eine Handbreit über der Autobahn schweben wie ein Luftkissenfahrzeug; - nur dass er völlig geräuschlos aus der Wolke kroch.
Die Türen wurden freigegeben, ein langer Kombiwagen mit Milchglasscheiben hinten schob sich aus der Nebelbank und es dauerte etliche Herzschläge, bis die Hinterräder sichtbar wurden - stillstehend wie festgeschraubt - riesige Heckflossen und schließlich eine gewaltige Stoßstange.
Alles an dem Kombiwagen war schwarz - von einem unheimlichen, alles Licht verzehrendes, mattes Schwarz. Es gab keine im Mondlicht blinkenden Chromteile, selbst die Scheiben schienen jeden Rest von Helligkeit zu schlucken, aber sie waren durchsichtig und wir konnten den Fahrer dieses unheimlichen Leichenwagens sehen.
Der Mann war schwarz gekleidet, ein hoher, aufgerichteter Kragen stand auf seinen Schultern und bedeckte seine ebenfalls schwarzen Haare zum Teil. Sein fahles, fast weißes Gesicht wirkte wie aus Wachs, nur seine Augen schienen unergründlich tief zu glühen.
Langsam, unendlich langsam schob sich der Wagen an uns vorbei, schwebte weiter und glitt geräuschlos in die nächste Nebelschwade. Der Nebel schloss sich hinter den schwarzen Heckflossen wie der Vorhang im Theater um den Kulissenschiebern Gelegenheit zu geben, die Bühne für den nächsten Akt zu richten.
„Hast Du das eben gesehen?“, fragte Ulrike leise.
„Normalerweise würde ich sagen, da hat einer vergessen das Licht anzuschalten, aber das eben; - Du, ich weiß auch nicht.“
Wir standen einen Moment und lauschten, erst jetzt nahmen wir das Klicken aus dem Relais der Warnblinkanlage wahr. Als hätte der Leichenwagen die Stille mit sich genommen, drang nun auch das gedämpfte Brausen der Stadt Kassel zu uns herüber, und in dieses Brausen mischte sich das Geräusch eines Dieselmotors.
Der Dieselklang schwoll an und kurz darauf donnerte ein grüner Sattelschlepper an uns vorbei.
„War das nicht der Tango Diesel?“, fragte Ulrike. „warum hat der denn nicht angehalten? Ich dachte immer Fernfahrer sind so hilfsbereit.“
„Vielleicht hat er uns nicht gesehen“, antwortete ich, „hältst Du mir bitte die Lampe beim Radwechsel?“
Ulrike nickte, wir asteten die Bücherkartons und den Wagenheber heraus, Ulrike rollte erst den Reservereifen nach vorne und dann Zigaretten für uns, während ich den Wagen vorne hochbockte.
Leise vor uns hinpfeiffernd wechselten wir das Rad. Wer wird sich denn von solch einem kleinen Missgeschick aus der Bahn werfen lassen?
Wir doch nicht!
Trotzdem, der schwarze Wagen ging uns nicht aus dem Kopf.
„Meinst du, das war der Leichenwagen, von dem der Tango Diesel vorhin sprach?“ fragte Ulrike, als wir den zerfetzten Reifen, den Wagenheber und die Bücherkartons wieder einluden.
„Möglich. Du, sag' mal: der Tango Diesel hat doch auch was mit einem Reifen gehabt. – Uns ist auch son Ding geplatzt! Ob da ein Zusammenhang besteht?“
„Möglich“, sagte Ulrike nachdenklich, „es kann sein, dass er die Autos auf diese Weise zum Halten bringt. Aber dann hätte er sich doch schon blicken lassen! Ich jedenfalls habe noch nie von einem Vampir gehört, der Reifen manipulieren kann.“
„Dann wird es wohl Zufall gewesen sein! So, ich glaube, wir haben alles eingepackt. Machen wir die Klappe zu und fahren weiter!“
Grinsend hielt Ulrike mir das Drehkreuz für die Radmuttern unter die Nase: „Es wäre das erste Mal, dass Du nichts vergisst. Seit wir letztens den Trouble mit dem Vergaser hatten, und Du anschließend das Warndreieck hast stehen lassen, gucke ich lieber erst mal nach.“
„Hast Du mich denn trotzdem lieb?“, fragte ich möglichst treuherzig, stopfte das Drehkreuz zwischen zwei Bücherkartons und knallte die Hecklappe zu.
„Oh, ja“, sagte Ulrike, ihre Arme legten sich um meinen Rücken und wir küssten uns. Ich schloss die Augen und nahm nichts mehr wahr, bis auf Ulrikes heiße Lippen.
Ich nahm nicht wahr, dass die gleiche unheimliche Stille wie vorhin wieder heran kroch.
Mitten in diesem Kuss zuckte Ulrike plötzlich zusammen, ruckartig kam ich zu mir und blickte in Ulrikes weit aufgerissene Augen.
„Da!“, sagte Ulrike in die unheimliche Stille hinein, löste ihre Arme von mir und deutete in die Fahrtrichtung unseres Autos.
Ich drehte mich um.
Die Nebelbank lag noch immer auf der Autobahn vor uns. Mit quälender Langsamkeit schälten sich die Heckflossen des Leichenwagens daraus hervor.
Das riesige, schwarze Auto schwebte rückwärts auf uns zu, kam näher und näher, während die Beklemmung in unseren Herzgegenden wuchs.
Ulrike fing sich zuerst wieder, stieß mich an und zischte: „Los, weg hier!“
„Okay“, bestätigte ich und wir rannten jeder an seiner Seite des Wagens entlang nach vorne und ich riss die Fahrertür auf als Ulrike sich schon in den Beifahrersitz fallen ließ.
Fuß aufs Gaspedal, Schlüssel drehen, der Motor kam sofort. Braves Auto.
Noch im Stehen kurbelte ich das Lenkrad an den linken Anschlag, die Handbremse war noch angezogen.
„Fertig?“, rief ich und trat das Gaspedal bis zum Bodenblech durch. Gequält heulte der geschundene Motor auf.
„Fertig!“, brüllte Ulrike gegen den Motorenlärm an, die Heckflossen des unheimlichen Leichenwagens waren nur noch eine knappe halbe Manneslänge von unseren Scheinwerfern entfernt.
Ich ließ die Kupplung kommen, der Motor vor uns stöhnte und die Vorderräder drehten sich wimmernd auf dem Beton des Bandstreifens. Langsam drehte unser Auto auf die Autobahn, und in dem Moment, in dem die linke Heckflosse des Leichenwagens unser Blinkerglas vorne rechts eindrückte, löste ich die Handbremse.
Befreit sprang unser Auto nach vorne.
Ich kurbelte das Lenkrad wie wild auf den anderen Anschlag und wieder halb zurück. Wir tauchten nochmal kurz in das Gras des Mittelstreifens und dann lag das Band der Autobahn wieder vor uns
„Harrrr“, presste ich zwischen meinen zusammengepressten Zähnen hervor, „jahrelang Stock-Cars gefahren! – Hast Du Dich auch angeschnallt?“
„Hab' ich“, nickte Ulrike, „und ich möchte dem großen Stock-Car-Fahrer hier das gleiche raten! Schau mal, wer wieder da ist!“
Mit leichtem Kopfnicken deutete Ulrike nach links. Der schwarze Wagen schob sich näher, mit einem einzelnen Mann darin; - zum Greifen nahe!
Eisiger Schreck durchpulste mich, gleichzeitig wunderte ich mich über Ulrikes unglaubliche Gelassenheit.
Der Mund in dem wächsernen Gesicht in dem Wagen neben mir öffnete sich ein wenig und lange, spitze Zähne wurden sichtbar während die Augen darüber kurz aufglühten.
„Ganz klar ein Vampir“, sagte Ulrike, „und uns hat er als sein nächstes Opfer ausersehen. Möglicherweise spielt er vorher noch 'Katz und Maus' mit uns.“
„Verdammt, ich hab' Angst“, sagte ich heiser.
„Ich auch“, antwortete Ulrike, „wir haben weder ein Silberkreuz noch eine Bibel mit, noch Knoblauch, von einem Holzpflock um ihn zu pfählen ganz zu schweigen. Wir können nur versuchen, ihn abzuhängen; - schaffst Du das?“
„Hoffentlich!“
Ich trat das Gaspedal trotz der Nebelbänke wieder durch. Der schwarze Wagen neben uns blieb kurz zurück, holte dann aber sofort auf und das wächserne Gesicht zeigte uns wieder lange, spitze Augenzähne.
Das Grinsen des Leichenwagenfahrers neben uns wurde noch eine Spur dämonischer und ich sah, wie er sein Lenkrad eine Winzigkeit nach rechts drehte.
Ich ging vom Gas, zwei schwarze Heckflossen schoben sich dicht vor unsere Scheinwerfer.
Ich stieg wieder aufs Gas und zog nach links auf die Überholspur; - der Leichenwagen war vor uns da.
In diesem Moment schob sich der Mond hinter eine Wolke, es wurde noch dunkler, der Leichenwagen vor uns tauchte nur noch zeitweise schemenhaft im Nebel auf.
„Fuck“, fluchte ich und nahm das Gas eine Winzigkeit zurück um etwas Abstand zwischen uns zu bringen.
„Fluchen hilft nix“, sagte Ulrike, „wir müssen versuchen, ihn auszutrixen. Dreh' mir um Himmelswillen nicht durch.“
„Oh, nein“, antwortete ich, „aber der vor uns faärt jetzt auch langsamer. Wenn der so weiter macht, können wir bald anhalten und uns beißen lassen.“
„Ich weiß. Du, da vorne kommt eine Ausfahrt, denkst Du das Gleiche, was ich denke?“
Ich nickte und betätigte den Blinker, fuhr noch etwas langsamer und hielt mich ganz rechts. Der Leichenwagen blieb vor uns, als wir die Autobahn verließen. In dem Moment, in dem die Heckflossen hinter der Bepflanzung der Ausfahrt verschwanden, bremste ich ab und schaltete das Licht aus.
Vorsichtig fuhr ich rückwärts in die Dunkelheit; - ein von der Autobahn abbiegendes Fahrzeug hätte uns mit tödlicher Sicherheit gerammt.
„Hoffentlich knallt uns keiner hinten rein“, flüsterte Ulrike so leise, als könnte der Mann in dem schwarzen Wagen uns hören.
Langsam, so leise wie möglich, ließ ich unser Auto zurückrollen, bis zu der Paralellspur, die Ein; - und Ausfahrt der Autobahnabzweigung miteinander verbindet.
Die Bremsen seufzten leise, als ich anhielt.
Ich legte den Vorwärtsgang ein, lenkte unser Auto auf die Paralellspur, fuhr ein Stück und drängte den Wagen zwischen zwei Büsche.
Wir atmeten beide erleichtert aus, als ich den Motor abstellte, und Ulrike begann sofort Beruhigungszigaretten zu drehen.
Wir warteten, die Zigaretten in der hohlen Hand verborgen.
Zäh tropfte die Zeit dahin, jedes Knacken des sich abkühlenden Motors vor uns ließ uns zusammenfahren, unheimlich laut knisterte die Glut der Zigaretten bei jedem Zug, den wir nahmen, um unsere Nerven zu beruhigen.
Glitt da nicht ein Schatten die Ausfahrt herunter; - langsam und geräuschlos?
„Da“, flüsterte Ulrike, „er kommt zurück!“
Der Leichenwagen schwebte, die riesigen Heckflossen voran, quälend langsam auf die Autobahn zurück, verharrte dort einen Moment und glitt sanft beschleunigend die Autobahn entlang.
Als hätte er uns schützen wollen, trat der Mond in diesem Moment wieder hinter der Wolke hervor und wir konnten durch die Büsche neben der Autobahn sehen, wie der Leichenwagen den Nebel zerteilend davon glitt.
„Puh“, sagte Ulrike leise, „wir wollen hoffen, dass wir ihn los sind!“
„Das hoffe ich auch. Haben wir noch einen Schluck Kaffee in der Thermosflasche?“
„Leider nicht, aber wenn Du möchtest, fahre ich mal eine Weile.“
„Ich wäre dir dankbar. Wie ich die Dame kenne, ist sie auch kaffeereif. Darf ich dich bei der nächsten, sich bietenden Gelegenheit zu einem Kännchen einladen?“
„Gerne“, sagte Ulrike und schnallte sich los, um auf den Fahrersitz rutschen zu können. Ich wollte gerade aussteigen, nochmal nach dem linken Vorderrad sehen und mich dann in den Beifahrersitz plumpsen lassen, als die Lichtkegel zweier Autoscheinwerfer in der Ausfahrt erschienen.
Die Lichtkegel tasteten die Ausfahrt entlang und blieben dann plötzlich ruckartig stehen, sie wurden einen winzigen Moment kürzer, als der dazugehörige Wagen beim Bremsen kurz in die Knie ging. Die Lichtkegel tasteten nun über die Büsche der Bepflanzung, hüllten uns in gleißende Helligkeit, kamen langsam näher und stoppten dicht hinter uns.
Die Silhouette einer breitschultrigen Gestalt löste sich aus dem Wagen, ein Schatten huschte über unsere Rückfenster und kurz darauf pochte eine weiße Hand an die Scheibe auf der Fahrerseite.
'Abhauen’, war unser erster Impuls, 'so schnell wie möglich weg von hier!'
Die Hand pochte erneut, diesmal stärker, eindringlicher.
Ich blickte nach vorne. Ein massiver Busch stand direkt vor unserer Motorhaube und verhinderte einen Blitzstart, zudem standen wir mit den rechten Rädern auf Gras, bei einem Blitzstart wären wir an der Betonkante der Fahrbahn hängen geblieben.
Wieder pochte die Hand am Fenster.
Automatisch, fast euphorisch drehte ich die Scheibe ein Stück herunter, die weiße Hand neben der Scheibe verschwand, und ein bärtiges Gesicht erschien, unrasiert und mit übernächtigten Augen. Eine weiß behandschuhte Hand rückte eine Dienstmütze auf einem Polizistenkopf zurecht.
„Puh“, sagte Ulrike zauberhaft lächelnd und tat so, als würde sie sich die Bluse zuknöpfen, „wir haben nur eine Zigarette geraucht, Herr Wachtmeister.“
„So, so. Darf ich mal ihre Papiere sehen?“, fragte der Beamte mit breitem Grinsen.
Ich stieg mit etwas weichen Knien aus.
„Mann“, sagte der Polizist leise zu mir, „das muss ja eine heiße Braut sein, die Sie da mit haben.“
„Wenn Sie wüssten!“, sagte ich und meinte die Geschichte mit dem Leichenwagen.
„Ich kann es mir vorstellen“, grinste der Polizist und konnte sich einen weiteren Blick auf Ulrike nicht verkneifen.
„Eigentlich müsste ich Sie ja mit einem Bußgeld belegen; - ach, was, trinken Sie nachher einen Kaffee auf mein Wohl.“
„Danke schön, Herr Wachmeister.“
„Gute Fahrt, ihr beiden. Und wartet damit lieber, bis ihr zuhause seid.“
Ich nickte, stieg ein, startete den Motor, setzte ein Stück zurück und fuhr wieder aufs Band.
„Eigentlich wollte ich ja fahren“, sagte Ulrike, „aber jetzt ist erst mal Kaffee angesagt, und dann übernehme ich unwiderruflich, Oh ja!“
Das Betonband der Autobahn floss wieder unter uns durch, ich hielt mit einer Hand das Lenkrad, die andere lag in Ulrikes Schoß, von ihren Händen liebevoll umschlossen.
Aus dem Autoradio rieselte sanfte Musik und das CB-Gerät rauschte leise vor sich hin. Die Autobahn war noch immer unheimlich leer, und die Nebelschwaden hatten sich fast alle verzogen.
„Ich werde das dumpfe Gefühl nicht los, dass gleich etwas passiert“, sagte Ulrike plötzlich, „noch sind wir den Vampir nicht los, noch ist es dunkel!“
„Meinst Du, wir sollten auf Nummer Sicher gehen und die Autobahn bei der nächsten Abfahrt verlassen? Wir könnten dann über die Landstraßen nach Hause fahren. Ist übrigens landschaftlich reizvoll, die Strecke.“
„Sollten wir“, sagte Ulrike, „auch wenn wir von der Gegend nicht viel haben werden. Der Mond beginnt sich wieder hinter seiner Wolke zurückzuziehen, und die ersten Nebelschwaden tauchen auch wieder auf! Ich möchte dich bitten, beide Hände ans Lenkrad zu nehmen.“
„Ungern, äußerst ungern.“
„Für diese Scheißromantik haben wir noch Zeit genug, wenn wir zuhause sind!“
Liebevoll nahm Ulrike meine rechte Hand und legte sie ans Lenkrad. Keine Sekunde zu früh, denn in diesem Moment schoss ein dunkler Schatten aus dem Gebüsch des Mittelstreifens, rumste kurz an den vorderen, linken Kotflügel und war wieder vor uns.
Wie ein Haifisch, der sich mit nahezu unsichtbaren Bewegungen seiner Schwanzflosse pfeilschnell auf sein Opfer stürzt, hatte es ausgesehen, als sich der Leichenwagen mit den riesigen Heckflossen wieder vor uns setzte.
„Mist“, fluchte ich, „wo kam der denn auf einmal her?“
„Aus der Mittelstreifenbepflanzung“, sagte Ulrike lakonisch, „meinst Du, der Trick mit der Ausfahrt klappt nochmal?“
„Glaube ich nicht. Aber da vorne ist ein Parkplatz, pass auf!“
Ich ging vom Gas, schaltete das Licht aus und riss kurz hinter dem Schild das Lenkrad herum.
Die ersten Sekundenbruchteile fuhr ich in völlige Dunkelheit, bis sich meine Augen an die Finsternis um uns her gewöhnt hatten.
„Puh“, machte Ulrike und atmete hörbar aus, „wenn da einer gestanden hätte, wären wir rein gebrummt!“
Vorsichtig fuhr ich mit halb zusammengekniffenen Augen an den Müllcontainern und Bänken des Parkplatzes vorbei, stieg wieder aufs Gas und bog auf die Autobahn ein.
„Gut“, sagte Ulrike, „ich hoffe, er hat geglaubt, wir halten an.“
„Das will ich auch hoffen! Ich glaube, er ist hinter uns.“
Im Rückspiegel war der dunkle Schatten des Leichenwagens zu sehen; - und der Wagen sah absolut leer aus. Kein Fahrer, keine Hand am sichtbaren Teil des Lenkrades.
Ich schaltete das Licht wieder an und trat fest aufs Gaspedal.
„Er kommt wieder näher“, sagte Ulrike.
„Der wird sich wundern!“ Ich packte das Lenkrad fester und drängte unser Auto auf die Überholspur, als der Leichenwagen wieder versuchte, sich neben uns zu setzen.
Er blieb etwas zurück, schwebte auf die rechte Fahrbahn, nahm Geschwindigkeit auf und kam wieder ran. Kurz bevor er sich neben uns setzen konnte zog ich auch rechts rüber.
„Festhalten“, knurrte ich, und Ulrike lehnte sich fest an die Kopfstütze.
Mit dumpfem Knall fuhr der Leichenwagen uns hinten rein, schlingerte ein wenig und ging wieder auf Abstand.
„Hoffentlich ist bei uns nicht allzu viel kaputt“, sagte Ulrike und nahm ihren Kopf wieder vor, „und wenn Du diese blöde verspiegelte Sonnenbrille noch einmal aufsetzt, verlasse ich dich!“
Der Inhalt der Mittelkonsole, Tabakpäckchen, meine Sonnenbrille, Straßenkarten, der Eiskratzer vom Winter, einige CDs und ein alter 'Hägar'-Comic hatten sich bei dem Aufprall in den Fußraum ergossen, und Ulrike begann trotz der prekären Situation aufzuräumen.
„Deine Nerven möchte ich haben“, sagte ich und sah in den Rückspiegel. Der schwarze Wagen näherte sich wieder und setzte erneut zum Überholen an. ich zog auf die Überholspur und wir bereiteten uns auf einen weiteren Stoß von hinten vor.
Der Leichenwagen blieb jedoch dicht hinter uns und glitt plötzlich durch eine offene Stelle der Leitplanke auf die Gegenfahrbahn.
„Scheiße!“, fluchte ich als der Leichenwagen, nur von den Leitplanken getrennt, neben uns auftauchte.
„Stimmt“, sagte Ulrike, „ein Geisterfahrer im wahrsten Sinne des Wortes! Jedenfalls wird er Schwierigkeiten haben, ein weiteres Loch zu finden.“
Der Leichenwagen blieb eine Weile neben unserem Wagen, beschleunigte einige hundert Meter vor uns und durchbrach die Leitplanken mit Leichtigkeit.
Mit einem lässigen Schlenker setzte er sich wieder vor uns und seine Bremslichter leuchteten höhnisch auf.
„Fuck! Das nächste Mal nehmen wir eine Panzerfaust mit“, knurrte ich und ging etwas vom Gas, um dem schwarzen Wagen nicht in die Heckflossen zu fahren.
„Ich weiß nicht, ob Panzerfäuste gegen Vampire helfen“, sagte Ulrike, „wir müssen aber jetzt sehen, dass wir mit dem da klar kommen.“
„Stimmt, und das werden wir auch!“
Ich beschleunigte und zog auf die Überholspur. Der Leichenwagen kam auch rüber. Ich ging wieder vom Gas und fuhr auf die rechte Fahrspur, die riesigen Heckflossen blieben vor uns.
Ich blieb dicht hinter ihnen und setzte meine Stoßstange in dem Moment an das rechte Bremslicht des Leichenwagens, als er wieder gerade zog, stieg aufs Gas und versuchte ihn damit quer zu schieben.
Nichts.
Er blieb auf dem Betonband wie festgeschraubt, selbst ein Methodistenpfarrer hätte ihn nicht ruhiger halten können.
„… und nun?“ fragte ich, „der ist schwerer und schneller als wir, hoffentlich hat er uns vor der nächsten Ausfahrt nicht zum Stehen gebracht!“
„Ich weiß auch nicht“, sagte Ulrike, „aber da kommt wieder ein Parkplatz. Versuchen wir diesmal etwas anderes.“
„Okay“, knurrte ich, täuschte noch schnell einen Überholversuch vor, fuhr auf den Parkplatz und schaltete das Licht aus.
„Und nun?“, fragte ich.
„Zurück zur Einfahrt“, antwortete Ulrike, „und so hinstellen, dass wir sowohl über den Parkplatz, als auch auf die Autobahn raus wegzischen können. Viel Zeit hat er nicht mehr, bis es hell wird, er kann also nicht nochmal auf uns warten.“
„Okay“, nickte ich, stoppte das Auto in der Einfahrt zum Parkplatz und stellte den Motor ab.
Die unheimliche Stille umfing uns wieder, als wir ausstiegen um Parkplatz und Autobahn besser einsehen zu können. Wie Explosionen klang es, als die Autotüren zufielen.
„Meinst Du, der kommt noch mal?“, flüsterte ich.
„Klar kommt der noch mal“, antwortete Ulrike ebenso leise, „wir müssen nur sehen, dass wir bis zur nächsten Abfahrt vor ihm bleiben, und die kommt in fünf Kilometern.“
„Na, dann. Gehen wir auf Posten und hoffen wir, dass es klappt.“
Die unheimliche Stille, die der Leichenwagen mit sich führte, kroch näher und Ulrikes Turnschuhe lärmten förmlich auf dem Schotterbelag des Parkplatzes.
„Pst“, flüsterte Ulrike einen Atemzug später, „er kommt rückwärts über den Parkplatz.“
Mit einem schnellen Satz waren wir wieder beim Auto und rissen gleichzeitig an den Türgriffen.
„Mach' schon auf!“, rief Ulrike und rackelte wieder an der Beifahrertür.
„Oh, Scheiße“, fluchte ich und hieb in hilfloser Wut auf das Autodach, „die Schlüssel stecken innen!“
Langsam, wie ein Skalar in seinem Aquarium, glitt der Leichenwagen rückwärts auf uns zu.
Ebenso langsam, als hätte er Sinn für Dramaturgie, schob sich der Mond wieder hinter einer Wolke hervor.
„Sieh' ihn bloß nicht an“, sagte Ulrike leise, „Vampire hypnotisieren ihre Opfer bevor sie zubeißen.“
„Okay, ich werd's versuchen. Was hast Du vor, wie gehen wir ihn an?“
„Ich weiß es nicht“, sagte Ulrike tonlos, „mein Taschenmesser ist in der Jackentasche, und die liegt im Wagen.“
„Also werden wir ihn mit bloßen Händen angehen!“, knurrte ich, „wir versuchen ihn am besten umzuschmeißen, und dann versuchst Du, an seinen Wagen zu kommen.“
„Gut“, sagte Ulrike, „aber schau' ihm nicht in die Augen!“
Der Leichenwagen hielt dicht vor uns, die Fahrertür öffnete sich und der Vampir stieg langsam und würdevoll aus.
Zwei weiße Zähne schienen in dem fahlen Mondlicht zu leuchten, ebenso wie die tiefen, unergründlichen Augen in dem wachsbleichen Gesicht.
„Mein Gott, schau ihn nicht an!“
Ulrikes Stimme war laut und angstvoll, aber sie drang wie durch Watte zu mir.
Warum sollte ich ihn nicht anschauen?
Es war faszinierend zu sehen, wie zwei bleiche Hände den Umhang glatt strichen und dann über der Brust zusammenrafften, sein Blick mich traf mich!
„Um Himmelswillen!“
Ulrikes Schritte auf dem Schotter entfernten sich, Blech klapperte irgendwo … - Ulrike, ich liebe dich, und ich werde nicht zulassen, dass er dich beißt! – Ich werde es tun, anschließend, nachdem ich drüben sein werde, bei den Untoten!
Ich liebe dich, Ulrike, und wir werden bei den Untoten noch mehr geeint sein, als wir es jetzt schon sind!
Wir beiden.
Wir werden einen gemeinsamen Sarkophag haben und nachts zusammen auf Jagd gehen – fern von allem Unbill dieser Welt, denn wir beiden gehören zusammen – auf Ewig!
Nur Untote leben Ewig und wir beide werden Ewig zusammen sein!
Du wirst sehen, dass das unsere Bestimmung ist!
Von irgendwo her vernahm ich einen dumpf knirschenden Schlag, aber ein dämonischer Fatalismus warf seinen pechschwarzen Mantel über mich, ich sah nur noch unergründlich tief glühende Augen, einen Mund mit zwei spitzen Zähnen und blutleeren Lippen in einem fahlen, wächsernen Gesicht, und der Mund öffnete sich, und die Zähne, die beiden spitzen Zähne schoben sich weiter heraus während sie sich meinem Hals weiter näherten.
Die beiden fahlen Hände, die eben noch den Umhang zusammengerafft hatten, lösten sich von dem schweren, schwarzen Stoff, schwebten auf mich zu und legten sich auf meine Schultern, kraftvoll drückten die Daumen gegen meine Schlüsselbeine.
Ulrike, warte einen Moment, ich werde gleich soweit sein!
Warum haben wir uns bloß gewehrt?
Die Daumen auf meinen Schultern sind angenehm kühl, aber meine Liebe zu dir ist heiß wie niemals zuvor!
Der Atem aus dem Munde des Vampirs duftet nach Moder, Alter und Zerfall, Du wirst es auch mögen, wenn ich Dir gleich gegenübertreten werde – mit dem Geruch der Ewigkeit – der ewigen Gemeinsamkeit …
Irgendetwas stieß in meine Kniekehlen, ließ mich zusammensinken und mein Blick verlor für einen Moment die Augen des Vampirs.
Die Vampirdaumen verließen mich und nichts hinderte mich, meine Augen zu schließen und die Fäuste zu ballen.
Wunderbare Ulrike, gib mir einen winzigen Moment um mich zu regenerieren – ich werde dich nicht beißen, Dich nicht zur Untoten machen …
Aus der Richtung des Vampirs drang ein dumpfer Schlag zu mir, gefolgt von einem gurgelnden Schrei, dem Rascheln schweren Stoffes und dem Aufprall eines Körpers auf dem Boden.
Wunderbare Ulrike, warte einen Moment, ich helfe dir, nur noch einen winzigen Moment!
Gestank drang in meine Nase, der Gestank von Moder und Zerfall, und als ich die Augen langsam und vorsichtig öffnete, sah ich Qualm von der Brust des Vampirs aufsteigen, stinkenden, grünlichen Qualm.
Der Vampir lag am Boden und schrie gurgelnd, Ulrike kniete neben ihm und hielt ihm irgendetwas auf die Brust. Was sie hielt war in dem aufquellenden Qualm verborgen.
„Endlich!“ Ulrikes Stimme klang flehentlich, „ich brauche das Abschleppseil! Beeil dich, und sieh' ihm nicht wieder in die Augen!“
Alles in mir war schwer, als ich mich mühsam hochquälte. Statt Blut schien Quecksilber in meinen Adern zu fließen, und mein Herz ließ mich jeden Schlag schmerzhaft spüren.
„Mach' schnell, ich kann ihn nicht mehr lange halten!“
Ulrikes Stimme drang wie aus weiter Ferne zu mir, als ich mühsam aufstand und zum Auto taumelte.
Das hintere Fenster auf der Beifahrerseite war eingeschlagen, eine Mülltonne, hastig aus der Halterung gerissen, lag in einem Scherbenhaufen darunter.
Ich griff durch das scherbenumkränzte Loch im Auto weit nach vorne und erreichte mit den Fingerspitzen mühsam die Entriegelung der Beifahrertür. Etwas floss warm und klebrig aus der Achselhöhle in meinem Hemd nach unten. Blut, kein Quecksilber.
Die Tür schnappte auf, ich warf mich über die Sitze zog die Schlüssel ab, lief nach hinten und schloss die Hecktür auf.
Die Schreie des Vampirs wurden hektischer, pfeifend, fast zischend, als er das frische Blut roch.
Die Heckklappe schwang hoch, ich griff den ersten Bücherkarton und wuchtete ihn heraus; - warum musste das verdammte Seil auch immer ganz unten sein? - und packte den nächsten Karton.
Womit hielt Ulrike den Vampir bloß am Boden?
Wieso konnte sie den Blicken des Vampirs so lange standhalten?
Einen Moment nur, einen winzigen Moment wollte ich nach ihr sehen, und mein Blick traf wieder in die unergründliche Tiefe in den Augen des Vampirs.
Wunderbare Ulrike, ich liebe dich!
Gleich wirst Du verstehen, warum ich das Abschleppseil nicht holen werde; - aus Liebe zu dir werde ich mich beißen lassen; - und ich werde dich anschließend auch herüberholen – in das Reich der Untoten!
Du wirst verstehen, dass ich im Namen unserer Liebe kurz gegen Deine momentanen Interessen handeln muss …
„Um Himmelswillen, schau ihn nicht an!“
Ulrike sprang ruckartig auf, wie eine gespannte Feder schnellte sie aus der knieenden Position zum Auto während der Vampir langsam wieder auf seine Füße kam.
Das Drehkreuz für die Radmuttern fiel scheppernd zu Boden.
Die letzten Fahnen grünlichen Qualmes lösten sich von dem Vampir, als er seinen Umhang gerade strich und mit fast schwebenden Schritten auf mich zu kam.
Mit einem gewaltigen Sprung, dem kraftvollen, geschmeidigen Satz einer Tigerin gleich, war Ulrike plötzlich wieder hinter dem Vampir, riss ihn zu Boden; - und dann waren die unergründlichen Augen plötzlich verschwunden.
„Das Drehkreuz! Schnell!“
Ich brauchte einige Atemzüge, um mich wieder in der Realität zurecht zu finden, aber dann griff ich das Drehkreuz und drückte es wieder in die verbrannte Stelle auf der Brust des Vampirs.
Augenblicklich stiegen wieder stinkende, grüne Dämpfe auf und gurgelnde Schreie bohrten sich schmerzhaft in mein Bewusstsein.
Ich hielt den Vampir mit aller Kraft nieder und langsam wanderte mein Blick erneut zu den Augen, aber da war nur die von Ulrike so verabscheute, verspiegelte Sonnenbrille.
Ich schüttelte die letzten Reste Fatalismus von mir und drückte den Vampir mit dem Drehkreuz weiter zu Boden.
Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis Ulrike keuchend mit dem Abschleppseil wiederkam. Wir fesselten den schreienden, qualmenden Vampir gemeinsam an die Halterung einer Mülltonne und banden ihm das Drehkreuz auf die Brust.
„So“, sagte Ulrike schließlich, die Schreie des Vampirs mühsam ignorierend, „das Drehkreuz für die Radmuttern ist auch ein Kreuz; - und Kreuze können Vampire nicht ab! Bis Tagesanbruch wird's halten, und dann zerfallen Vampire erfahrungsgemäß zu Staub. – Ich liebe dich.“
„Trotzdem?“
„Trotzdem! - Normalerweise kann kein Sterblicher einem Vampir widerstehen, und Du wolltest mich beißen, um mit mir zusammen zu sein. Normalerweise kümmern sich Vampire einen feuchten Kehricht um ihre Partner; - und nun steh' nicht rum, sondern hilf mir, die Kartons einzuladen!“
Wie im Trance reichte ich der Wunderbaren Ulrike die Bücherkartons an, während sich mein Kopf langsam wieder mit klaren Gedanken füllte und die gurgelnden Schreie des Vampirs leiser wurden.
„So“, sagte Ulrike schließlich und knallte die Hecklappe zu, „fahren wir? Es war ausgemacht, dass ich nach der nächsten Pause fahre!“
Ich nickte müde, stieg ein und schnallte mich sogar an.
„Also dann“, Ulrike ließ sich in den Fahrersitz fallen, startete den Motor und fuhr schwungvoll auf die Autobahn.
Ich lehnte mich an die Kopfstütze und machte meinen Kopf leer, während das Betonband unter uns durchfloss.
Die Wunderbare Ulrike trat das Gaspedal voll durch.
Der Mond stand wieder voll und rund am Himmel, die Nebel verzogen sich gänzlich und auf der Gegenfahrbahn tauchten vereinzelt Autos auf.
„Schau' mal, da vorne! Ein gutes Omen?“
Ulrike deutete nach vorne.
Morgenrot lag auf den Feldern vor uns und die Sonne hatte begonnen, sich über den Horizont zu schieben.
„Meinem Gefühl nach“, sagte Ulrike, „müssen wir den Tango Diesel bald wieder erreicht haben. Möglicherweise ist da noch was zu machen, weil er ja noch frisch gebissen ist. Geht's dir denn wieder gut?“
„Klar geht's mir wieder gut.“
Ich begann Zigaretten zu drehen.
„Was meinst Du, wie kann man dem Tango Diesel helfen, nachdem er von einem Vampir gebissen worden ist, und folglich auch zum Vampir wurde?“
„Er hat doch gesagt, er hätte Bibeln geladen“, sagte Ulrike nachdenklich, „und wie man weiß, sind Vampire gegen Bibeln allergisch, ebenso wie gegen Kreuze. Wenn man den Tango Diesel jetzt zum Schutz gegen das Tageslicht in ein Kreuz aus Bibeln legt, könnte das eventuell helfen.“
„Ist das schon mal praktiziert worden?“, fragte ich, zündete eine der Zigaretten an und schob sie Ulrike zwischen die Lippen.
„Dank' dir“, Ulrike gab eine Rauchwolke von sich, „meines Wissens ist das noch nicht versucht worden, aber einmal ist immer das erste Mal. – Schau mal, da vorne! Kann das der Tango Diesel sein?“
Weit vor uns, in einer Kurve war ein grüner Sattelschlepper aufgetaucht. Er stand etwas neben dem Seitenstreifen der Autobahn, war mit den rechten Rädern ins Gras eingesunken, und es sah aus, als hätte er sich müde an einen Baum gelehnt.
„Hoffentlich kommen wir nicht zu spät“, sagte Ulrike tonlos als sie unser Auto kurz vor dem Fünfachser zum Stehen brachte
Der winzige Luftzug, der entstand, als ich die Fahrertür aufriss, genügte, um die beiden Hände am Lenkrad in Staub aufzulösen.
Mit leisem Klingeln fiel ein Trauring zu Boden, rollte ein Stück auf dem ausgetretenen Bodenbelag und kam neben der Mittelkonsole zur Ruhe.
Gleichzeitig sanken eine schwarze Weste und ein rotkariertes Hemd darin langsam in sich zusammen.
Ein aschgrauer Schädel, der eben noch mit dem Blick nach vorne über dem Hemdkragen gesessen hatte, fiel lautlos in sich zusammen und folgte dem Hemd auf den Sitz.
Die verwaschenen, blauen Jeans wurden plötzlich ganz flach, und der Cowboystiefel, der eben noch auf dem Gaspedal geruht hatte, fiel mit einem seufzenden Laut um. Feiner, grauer Staub rieselte aus dem Stiefel und mischte sich mit dem Staub, der leise aus dem flachen Hosenbein der Jeans rieselte.
Ich wandte mich ab, eine würgende Übelkeit stieg in mir hoch.
„Mein Gott“, flüsterte Ulrike hinter mir, „wir sind zu spät gekommen! Er war so ein netter Kerl, und ich hätte ihm so gegönnt, dass er sein Haus fertig gekriegt hätte.“
Ich nickte stumm, nahm vorsichtig den Trauring aus dem grauen Staub am Boden und zog eine seiner QSL-Karten aus der Ablage neben dem Schaltknüppel.
„Den Ring werden wir seiner Frau schicken“, sagte ich traurig, „und wir werden ihr schreiben, wie es wirklich war. Ich glaube, das ist der Unterschied zwischen einer meiner Stories und dem wirklichen Leben.“
„Ja“, der Wunderbaren Ulrikes Stimme klang traurig, „die Realität hat selten ein Happy-End. Komm, fahren wir nach Hause.“
 



 
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