Nachts am Taxenstand

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Hagen

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Nachts am Taxenstand

Der Taxenplatz an der Bahnhofstraße stellte sich dar wie ein kitschiges Foto, unter Myriaden von Sternen, auf dampfendem Asphalt, angefüllt mit den still wie festgerammt stehenden, grellen Lichtkegeln aus den Laternen. Diese Lichtkegel zeichneten auch sanft die Gesichtskonturen meiner halb schlafenden Kollegin nach. Ich stellte den Rückspiel etwas nach und ließ ihr Gesicht in die Mitte wandern. Die Anspannung des Tages tropfte sichtbar von ihr ab. Auch sie wartete auf den letzten Zug, in der Hoffnung noch einige Menschen nach Hause bringen zu können. Der Fahrgast ist nur der Vorwand, auf den ’Geldknopf‘ des Taxameters zu drücken, und wenn der Fahrgast ausgestiegen ist heißt es: Aus dem Taxi, aus dem Sinn!, - in Abwandlung des Dirnenspruchs: Aus dem Bette, aus dem Sinn!
Die Bremsgeräusche des letzten Zugs gehörten zu der Szene, wenig später begann die Rolltreppe zu surren. Ein einzelner Mann mit wichtigem Gesicht und Aktentasche unter dem Arm wurde in die Höhe getragen, setzte sich in Bewegung, querte die Straße und verschwand zwischen den Häusern. Das surrende Geräusch der Rolltreppe erstarb, der Zug fuhr wieder an. Hinter mir erwachte der Motor von Julchens Taxi zum Leben. Die Scheinwerfer flammten auf. Wir winkten einander zu, als sie an mir vorbei fuhr. Das Taxenschild auf ihrem Dach erlosch, der Wagen glitt um die Kurve.
Stille zum Anfassen.
Aus dem Speakeasy kam einer, torkelte über die Straße und blieb an der Treppe zur Bahnhofspassage stehen, schwankend wie eine Trauerweide im Herbststurm. Die Rolltreppe lief nur aufwärts; - er musste jedoch abwärts, aber über die normale Treppe, und das schien in seinem Zustand eine nahezu unüberwindliche Herausforderung zu sein.
Die Szene hatte etwas Dramatisches: Gebeutelt vom Unbill des Lebens wird dem Mann eine schwere Entscheidung abverlangt: Abwärts gehen und eventuell verunglücken, oder warten bis sich die Promille in der Blutbahn verflüchtigt haben werden. Aber dann könnte es womöglich zu spät sein; - zu spät für was? Für die Formel zum friedlichen Zusammenleben aller Menschen, dem Ende aller Kriege, oder die Antwort auf die Frage was es alles soll?
Zahlreiche derartige Künstlerfilme hatte ich Mitte der Sechziger gesehen, nur das hier war künstlerisch reduziert auf das Wesentliche, in perfekter, kalter Ausleuchtung, ohne schrille, dramatische Musik. Nebel müssten eigentlich noch aus der Bahnhofspassage dringen und den Entscheidungsträger langsam von Fuß bis Kopf umwabern...
Ein Mann stieg bei mir ein und wollte zur Bronx. Ich brachte ihn hin. Eine der wenigen Fahrten, die absolut wortlos verliefen.
 

Hagen

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Hallo Michele,
danke für die vielen Sterne.

Nun denn, in diesem Sinne, wir sehen uns in der ScheinBAR!
Zudem lesen wir uns weiterhin!
... und bleibt schön fröhlich, gesund und munter, weiterhin positiv motiviert, negativ getestet und stets heiteren Gemütes!
Herzlichst
Yours Hagen

Bedenke: Stimme niemals ein Klavier in nassem Zustand!
 



 
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