Nachtschwärmer

Ein tolles Gefühl, sich selbst wahrhaft bestätigen zu können: “Ich habe es geschafft!” Dafür braucht es keinen besonderen Rahmen, kein größeres Publikum. In diesem Fall genügt ein freundliches Gesicht, das einen zur Bestätigung anlächelt, selbst wenn es nur das Bild des eigenen Konterfeis in einem Barspiegel ist, in das man zufrieden schaut; in solch einer Situation möglicherweise mit etwas unscharfen Konturen, aber noch keineswegs alkoholisch verzerrt.

Es ist ein absoluter Glückstreffer, eine Szene gefunden zu haben, die exakt der gestellten Aufgabe eines Motiv-Scout entspricht, das Hauptmotiv für einen geplanten Kinofilm. Normalerweise existiert das hierfür benötigte Motiv nicht mehr, eine Bar im originalen Zustand des New Yorks der Vierzigerjahre. Aber genau in diesem Umfeld gibt es tatsächlich noch die authentische Kulisse als Kopie eines solchen Lokals , das als Vorlage für ein weltbekanntes Kunstwerk gedient haben könnte: Edward Hoppers Nighthawks, auf Deutsch bekannt als Nachtschwärmer. Und diese Geschichte, die auf dem Gemälde dargestellt wird, will ein Kinofilm erzählen: den Hintergrund um das Geheimnis dieser Szene in einer New Yorker Bar. Für Liebhaber amerikanischer Malerei ist der Mythos um dieses Bild wenigstens ebenso spannend wie für Europäer das Geheimnis der Mona Lisa. Dirk Heyne ist der Scout, der sich im Auftrag eines bekannten Regisseurs mit kaum noch zu erwartender Aussicht auf Erfolg auf der Motivsuche befunden hatte. Heyne ist ausgewiesener Kenner dieses New Yorker Milieus. Gleichwohl, diese Location aufgespürt zu haben, ist für ihn ein absoluter Glückstreffer. Und worauf er schon nicht mehr zu hoffen wagte, das alles sieht zu seiner Überraschung bis ins letzte Detail exakt so aus wie in dem Lokal von damals. Er fühlt sich wie ein erfolgreiches Trüffelschwein. Er kann es kaum glauben, aber selbst die hier jetzt anwesenden Personen entsprechen genau denen des Bildes von Edward Hopper.

Dirk Heyne verspürt durch diesen überraschenden Volltreffer einen kräftigen Adrenalinschub, er vibriert förmlich, er ordert einen Bourbon, um seine Nerven zu beruhigen. Das funktioniert. Nach einem weiteren Wild Turkey ist er schon wesentlich entspannter. Er spricht den für einen Barkeeper erstaunlich einsilbigen Mann hinter dem Tresen auf die Szenerie hier an und bittet um Erlaubnis, diese Situation im Lokal fotografieren zu dürfen. Dieser lehnt ab. Die übrigen drei Personen im Gastraum blicken passend dazu skeptisch zu den beiden herüber, sie winken ebenfalls ab. Der Barmann zuckt daraufhin bedauernd die Achseln und schlägt Dirk Heyne vor, ein Foto von außen zu machen, durch die ungewöhnlich großen Scheiben. Das wäre doch wohl die fotografische Draufsicht, um die es ihm ginge, so vermutet der Barkeeper. Dirk Heyne ist enttäuscht. Aber bevor er seinen eben noch so glücklichen Gesichtsausdruck gänzlich verliert, fängt der Bartender zu erzählen an. Eine unglaubliche Geschichte, die der Film-Scout nun zu hören bekommt; Dirk strahlt wieder.

Er erfährt nun, dass an einigen, vorher nicht bekannten Abenden im Jahr, sich diese Szene so abspielt, wie er sie jetzt hier vorfindet. Die Besetzung der Gästen ist immer identisch. Der Barkeeper erzählt weiter, er selbst sei in dieses weltbekannte Motiv quasi indirekt verwickelt. Sein Großvater war seinerzeit die Vorlage für die Figur des Tresenmannes auf dem Bild. Und von diesem weiß er einiges über die dargestellten Personen auf dem später von Hopper geschaffenen Gemälde. Es sind in dieser Szene immer nur noch drei weitere Anwesende im Raum. Das elegant gekleidete Paar direkt vor ihm, sowie ein nicht frontal zu erkennender, einzelner Gast mit einer weißen Tasse neben sich. Alle drei sind in Gedanken versunken, sie wirken in ihrer Haltung wie isoliert. Und um genau diese drei Personen geht es auch in der modernen Version wieder. So erfährt Dirk Heyne, dass ein zu Reichtum gelangter New Yorker diese Bar vor einiger Zeit im Originalstil der Vierziger rekonstruieren ließ. In dieser Retro-Kulisse nimmt dieser Millionär stets die Position des Einzelgängers ein, der scheinbar teilnahmslos vor sich hin sinniert. Tut er aber nicht. Er sucht gedanklich die Nähe zu dem Paar, vor allem zu der Frau. Und nun kommt's. Er glaubt, herausgefunden zu haben, dass diese Frau seine Mutter wäre. Er ist besessen von der Idee, in dieser Nacht von diesem Paar in einem ehebrecherischen Akt gezeugt worden zu sein. Die Hintergrundgeschichte als Motivation für Edward Hopper, dieses berühmte Gemälde zu schaffen, ist nicht bekannt. Ob der Künstler eventuell selbst in diese Geschichte verwickelt ist, weiß man nicht; hierzu kursieren verschiedene Narrative. Die Ausgangslage für den New Yorker Millionär beruht auf Recherchen einer auf Ahnenforschung spezialisierten Agentur, sind für ihn aber ein wichtiger, ein realer Teil seiner Existenz geworden. Und genau diese Szene lässt er sich mehrmals im Jahr von eigens hierfür engagierten Schauspielern darstellen. Dirk Heyne befindet sich immer noch im Glückstaumel, er kann es nicht fassen, genau eine von diesen Nächten getroffen zu haben. Er verlässt die Bar und schießt noch einige Fotos von außen durch die große Scheibe in den Gastraum hinein. Dann verlässt er den Schauplatz.

Am nächsten Morgen findet die Besprechung des Drehplans mit dem Regisseur statt. Als Heyne seine Fotos und die dazugehörige Story vorlegt, gerät der als reserviert und schwierig geltende Filmemacher völlig aus dem Häuschen, er ist schwer begeistert. Der vorher im Raum stehende Begriff, Versager, hängt nicht mehr wie ein mit einem Widerhaken versehener Vorwurf an Dirk. Der deutsche Motivsucher hat ihm eine sensationelle Location für die Schlüsselszene des Film geliefert. Und diesmal muss der Scout das Erfolgserlebnis nicht ausschließlich mit sich alleine feiern. Sein strahlendes Lächeln wird jetzt nicht nur von einem Gesicht in einem Barspiegel reflektiert, die gesamte Crew freut sich mit ihm an diesem Tag.
 

Sammis

Mitglied
Hallo Horst,

für diese Geschichte hast du dir ein sehr cooles Setting ausgesucht. Ich träume schon ewig immer mal wieder davon, Inhaber einer solchen (nein, von genau dieser) Kneipe zu sein, oder doch zumindest Stammkunde. Soweit ich weiß, ist sie weitgehend fiktional. Auch deine Idee, dass dein Porta da genau so reinstolpert, wie sie gemalt wurde, fand ich super und war auf die Auflösung gespannt. Die Pointe überzeugte mich dann jedoch wenig, zudem kam sie viel zu früh, bzw. dachte ich, okay da kommt noch was, aber nö.
Eine Sache wiederholt sich mMn in deinen Texten, die ihnen viel Reiz/Spannung/Aha-Erlebnis nimmt: Du erklärst. Wäre es nicht viel spannender gewesen, die Szene in der Kneipe so zu beschreiben, dass der Leser selbst auf das Bild kommt? Das hätte ich mega spannend gefunden, dann bedurfte es auch keiner besonderen Wendung. So aber ließ sich das (überspitz gesagt) wie ein Wikipedia Eintrag, dem eine kleine, nicht besonders originelle Story aufgepfropft wurde.

Alles wie immer nur meine unbedeutende Meinung.
Eine Frage noch: Du kommentierst nie, oder? So von wegen geben und nehmen.

Beste Grüße,
Sammis
 
Hallo Sammi,
danke für deine Anregungen. Mag sein, dass meine Art zu erzählen an Dokumentieren erinnert; ja, stimmt, ich erkläre gerne. Dass manch eine meiner Geschichten die Lösung nicht bis zum Schluss im Verborgenen lässt, mag sein, aber ich sehe mich selbst nicht unbedingt im Genre Spannung angesiedelt. Die Aufmerksamkeit lenke ich gerne auf das Sujet der Erzählung und dessen Inhalt, der mich mitnimmt, wie in diesem Fall, in dem es zugebenermaßen von außen betrachtet um meine Fantasievorstellungen geht um die herum ich eine Geschichte konstruiere. Das alles mag daran liegen, dass einige meiner Stories ausformulierte Exposés für umfangreichere Erzählungen sind, die ich jedoch nicht mehr schreiben werde. Dass dies auf das wesentliche Eingedampfte für manch einen zu trocken zu lesen ist, damit kann ich umgehen. Ich benutze diese kurzen Niederschriften ansonsten als Fingerübungen. So. Mehr verrate ich nicht - alles weitere überlasse ich der Fantasie des Lesers! Nie kommentieren, das stimmt so nicht, zur Zeit aber eher selten, was nicht so bleiben muss.
Herzliche Grüße.
Horst
 



 
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