Nächtlich trieb das Unwesen

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Beinahe hätte Harald Hütter sie erwürgt.
Seit Jahren muss sie jeden Abend, ohne dass er es zu Beginn bemerkte, zu ihm unter die Bettdecke gekrochen sein. Erwischt hat er sie dabei nie.
Als er am Ende seiner Arbeitszeit in Ruhestand gingt, artete dieser durch ihre Machenschaften in Unruhestand aus.
Im Laufe der Nacht – zumeist gegen drei Uhr – verwickelte sie ihn über seine innere Stimme in schier endlose Gespräche. Endlich solle er sich für ein besseres Leben in Freiheit entscheiden, Belastungen loslassen, genießen. Wann er denn endlich damit beginnen wolle.
Immerhin sei er doch jetzt in der letzten Phase seines Erdendaseins.
Eigentlich war Harald ein Schweiger. Zuhören konnte er gut. Doch bei ihrer Vielrederei, war an Schlaf nur noch zu denken. Längst war Grübeln die Beschäftigung, der er im Bett ungern, aber ständig nachging.
Nicht einmal gehört hat er sie, die Geräuschlose. Aber gefühlt. Sehr deutlich sogar. Ansonsten überließ sie sich ganz und gar seiner ausufernden Angst, die sie mühelos mit Drohungen und Sehnsüchten aller Art befeuerte.
Dabei löste sie weder Gänsehaut noch Panikattacken aus. Sie schlich sich in seine Gedanken, die sich dann gegenseitig jagten. Und am Ende der Jagd wünschte er sich in letzter Zeit immer häufiger, nicht weiterleben zu müssen.
Nun gut, Harald ist zweiundsiebzig und hat wirklich den größten Teil seines Lebens gelebt. Von Nacht zu Nacht sehnt er sich mehr nach endgültiger Ruhe. Bei Tage besuchte er immer häufiger Friedhöfe, zählte, wie oft er sein Geburtsjahr auf Grabsteinen fand. Es wurde von Mal zu Mal häufiger.
Unter Bäumen mit tief hängenden Zweigen will er begraben sein. Solche Bäume bieten Schutz.
In den Nächten nach den Friedhofsbesuchen verhalf seine unsichtbare Bettgenossin ihm zu nützlichen Ideen, nach deren Auftauchen er beruhigt einschlafen konnte, da er glaubte, durch sie eine brauchbare Lösung für das Überleben am kommenden Tag gefunden zu haben. Er versuchte zu meditieren. Suchte einen Therapeuten auf. Seine Angst blieb und steigerte sich wieder.
Alle Ideen erwiesen sich in den folgenden Nächten als Teil seiner vielen Illusionen von sich und seinem Wunschleben. Gern wäre er ein bekannter Schriftsteller geworden, der über Angst schrieb und schlagfertig geflügelte Worte erfand. Vorgestern war ihm mit der Hilfe seiner unsichtbaren Bettgenossin der Spruch eingefallen, Liebe sei eine Macht, doch wer auf ihre Macht setze, der liebe nicht.

Karen, seine Frau, gibt vor ihn zu lieben. „Wirklich!“ versichert sie ihm immer wieder.
Er ist froh, dass sie jeden Abend bei ihm im Bett liegt, ihn umarmt und ihm immer wieder versichert, wie sehr sie ihn trotz seiner wachsenden Angst und Unruhe möge. Wirklich. Und dann schläft sie ein und schnarcht ihre Melodie, die wie die ersten heiser gesungenen Töne eines Kinderschlafliedes klingen
Eigentlich ist Karen selbst sehr ängstliche. Aber ihre Angst lässt sie wenigstens schlafen. Meistens jedenfalls.
Vor Spinnen fürchtet sie sich, vor Kühen und besonders vor Menschen, die ihr etwas vorspielen, das sie allzu gern glauben möchte. Menschen, die vorgeben, sie zu mögen, wie sie ist, verfolgen sie bis in ihre Träume, um sie doch wieder zu enttäuschen. Am Morgen danach erzählt sie Harald voller Entrüstung von deren gemeinen Falschheiten.
Obwohl sie schon fast vierzig Jahre verheiratet sind, träumt Harald noch von Karen, auch nachdem sich jene unsichtbare Zweitfrau zu ihm ins Bett schlich. Und er träumte durchaus liebevoll von ihr, nicht zuletzt, weil sie in seinen Träumen immer um Jahre jünger wirkt.
Als er sie heiratete, war sie zwölf Jahre jünger als er. Und bei Tag kommt es ihm vor, als seien sie inzwischen längst gleich alt.
Und jene drängt sich zwischen sie. Unaufhaltsam. Beherrscht ihn und hält ihn nicht nur in ihrer Gedanken- sondern auch in seiner Wunsch-Welt gefangen.
Gestern Nacht war es unerträglich. Harald konnte sich nicht gegen ihre Gedanken wehren.
… und wenn Karen vor dir stirbt, ließ jene ihn sich fragen.
Unsinn, die ist doch kerngesund. Viel gesünder als ich.
Wie wäre es mit einem Unfall? Sie will doch unbedingt immer mit dem Fahrrad
fahren. Auch bei Dunkelheit und schlechtem Wetter.
Hier auf den engen Landstraßen mit den vielen unübersichtlichen Kurven.
Ein nächtlicher Unfall wäre doch leicht herbei zu führen. Sie sei keine liebende Frau.
Liebe will sie nur haben.
Harald, du brauchst deine Freiheit.

Er wird sie umbringen. Freiwillig räumt die ihren nächtlichen Platz nicht.
Früher ging er immer vor Karen ins Bett. Seitdem jene ihn plagt, wartet er stets häufiger, bis er so müde ist, dass er glaubt, umgehend und ungestört einschlafen zu können.
Karen schläft jedes Mal schon.
Gestern Abend ging sie lange vor ihm ins Schlafzimmer.
Harald behauptete gähnend, er sei einfach noch nicht müde und setzte sich noch einmal vor den Fernsehapparat, um sich einen Krimi anzusehen. Zwei Nutten wurden Mordopfer einer Bande von Menschenhändlern. Sie erdrosselten die beiden, weil die Damen sich einig waren, die Bande auffliegen zu lassen.
Harald nickte auf der Couch ein, verschlief das Ende des Krimis, wachte erst bei der Spätausgabe der Tagesschau auf.
Vor dem Wetterbericht verlas der Sprecher mit professioneller Betroffenheitsmiene die Meldung über einen Frauenmörder, der als Grund für seine Tat anhaltende Schlaflosigkeit und Stimmen angab, die ihn zum Töten angestiftet hätten.
Zögernd ging Harald ins Bad, duschte kalt, um noch einmal wach zu werden. Es half nicht.
Als er sich zu Karen legte, drehte sie sich zu ihm und nahm ihn in den Arm.
Er schlief zunächst ein. Dann kam es über ihn. Er wollte sie zurückstoßen, packte sie und drückte ihr den Hals zu.
Sie wehrte sich, röchelte. Harald stellte sich vor, wie sie ihn in der Dunkelheit aus Panikaugen anstarrte. Seinen Würgegriff lockerte er nicht. Er konnte es nicht.
Endlich bewegte sie sich nicht mehr. Harald ließ los und wartete ab.
Schließlich machte er die Schlafzimmerlampe an.
Karen lag auf dem Rücken neben ihm, atmete ruhig und schnarchte leise ihre Kindermelodie…
 



 
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