Nächtliche Begegnung

Bilbo

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Nächtliche Begegnung


?Lasst uns nun endlich eine Rast einlegen, Herr Richmond!?, rief Bruno etwa zehn Schritte hinter dem Ritter. Der Ritter rollte gequält mit den Augen ? war es doch bereits das dritte Mal, dass sein Knappe eine Rast forderte, seit sie in den Wald hineingeritten waren. Aber eigentlich war es ja gar nicht sein Knappe, sondern der seines Vaters, damit beauftragt, ihn, Richmond, zu beschützen und zu bewachen. Zu beschützen vor den Wegelagerern, bösen Geistern und Lindwürmern in den Wäldern; zu bewachen, damit er nicht auf die Idee kam, die geplante Hochzeit ins Wasser fallen zu lassen und statt dessen etwa im Norden ein Leben als Abenteurer zu führen.
?Wenn Ihr nicht endlich anhaltet, werden wir noch vollkommen erschöpft nach Schloss Grubenberg gelangen?, maulte Bruno erneut. Als er sah, dass Richmond keinerlei Anstalten machte stehenzubleiben, fügte er lächelnd hinzu:
?Ich glaube nicht, dass es Eurem Vater gefallen würde, wenn er von einem derart ungeschickten Verhalten so kurz vor Eurer Vermählung erführe...?
Richmond stieß einen leisen Fluch aus. Dann ließ er sein Pferd anhalten und stieg ab.
Bruno hatte wieder einmal seinen Willen durchgesetzt. Niemals würde Richmond es schaffen, sich wirklich von seinem Vater zu lösen. Wie oft hatte er sich in den zwei Tagen, die seit ihrer Abreise von Richmonds Heimat Burg Braunfels vergangen waren, über diesen blinden Gehorsam geärgert, den er seinem Vater gegenüber an den Tag legte. Sein Vater war es schließlich gewesen, der Richmonds bevorstehende Heirat in die Wege geleitet hatte. Dass Richmond selbst von der zwar reichen, aber eitlen und selbstgefälligen Rosalia absolut nichts hielt, hatte seinen Vater dabei nicht im geringsten gekümmert.
Richmond ließ den Blick umherschweifen. Das Rotgold der Abenddämmerung begann sich allmählich in ein tiefes Schwarz zu verwandeln, das alle Bäume ringsum verschluckte.
?Mach uns ein Feuer, Bruno, und dann sieh, ob du nicht irgendwo in der Nähe etwas zu essen findest, ein paar Beeren vielleicht, oder Pilze!? wies Richmond den Knappen an. Dieser nickte, zufrieden über die Rast, stieg ebenfalls von seinem Gaul und begann in seinen Taschen nach den Feuersteinen zu suchen.

Sie hockte inzwischen schon mehr als eine Stunde im feuchten Moos, verdeckt nur durch einige Farnwedel. Zuerst hatte sie den Einbruch der Nacht abgewartet, und nun schienen dieser Ritter und sein Knappe auf der Lichtung, nur wenige Meter von ihr entfernt, ihr Lager aufschlagen zu wollen. Sie konnte nur hoffen, dass die beiden bald einschliefen und ihr Feuer erlöschen ließen.
Sie war eine Schwester Alvarias, der Göttin der Nacht. Aber sie war noch mehr ? sie war nun fast ein Jahr lang die Oberste der Schwestern gewesen und hatte die Bezeichnung Alvamata geführt. Doch morgen würde der erste Neumond des neuen Jahres sein, der Zeitpunkt der Machtübergabe.
Etwas wehmütig blickte sie auf den Ring an ihrer linken Hand. Es war der ?Ring der Nacht?, den angeblich die Göttin persönlich aus ihren eigenen Fingernägeln geformt hatte. Obgleich der Ring selbst pechschwarz war, strahlte er ein phosphoreszierendes Licht aus. Das Licht der Göttin, dachte die Alvamata. Dieses Licht übertrug sich auf die Trägerin des Ringes, die es dann an ihre Mitschwestern weitergab. Kraft des göttlichen Lichtes vermochten die Schwestern Alvarias selbst in tiefster Nacht zu sehen, als wäre es helllichter Tag. Allerdings ? der Preis, den sie dafür zahlen mussten, war hoch: Sie waren gezwungen, in tiefster Abgeschiedenheit hier im Wald zu leben, in einem System unterirdischer Gänge und Wohnungen. Nie durften sie sich von einem normalen Tagmenschen sehen lassen.
Und dann gab es da noch das Opfer, das zum Zeichen der Machtübergabe diente. Morgen war es soweit. Noch in dieser Nacht würde die Alvamata in eines der umliegenden Dörfer gehen und einem beliebigen Sterblichen den Ring der Nacht anlegen. Dieser besaß die magische Eigenschaft, im Licht unsichtbar zu werden. Und da der Neumond unmittelbar bevorstand, würde er auch in der Nacht für keinen Menschen sichtbar sein. Dann würden die Schwestern Alvarias ausgesandt werden, um den Ring zu finden. Und dann...
Die Alvamata blickte auf, als sie es vor sich im Gebüsch rascheln hörte. Ihre Augen weiteten sich vor Schreck. Mit unbeholfenen Schritten kam der Knappe des Ritters auf ihr Versteck zu. Zur Flucht war es zu spät.
Die Alvamata bereitete sich auf ihren Angriff vor.

Richmond hockte sich auf den noch kalten Boden am Feuer. Inzwischen waren die Bäume vollends von der Dunkelheit verschluckt worden. Etwa zwanzig Meter in den Wald hinein sah er Bruno als Silhouette in dem Lichtschein der Wachskerze, die der Knappe für derartige Aufgaben stets bei sich trug.
Richmond freute sich auf eine Portion leckerer Waldbeeren oder auch nur eine Handvoll Wurzeln. Es würde seine letzte Nacht in Freiheit sein. Die Ehe, die er am morgigen Nachmittag eingehen sollte, sah Richmond als Gefangenschaft an. Er hatte keine Lust auf die gesellschaftlichen Zwänge, denen er als Gemahl von Rosalia ausgesetzt sein würde. Vielmehr bewunderte er die Drachentöter und fahrenden Ritter der Nordlande, die ein Leben im Einklang mit der Natur führten... Aber so ein Leben hatte sein Vater, der nun ein alter Mann war, nie für Richmond vorgesehen und durch die Verlobung mit Rosalia beizeiten zu verhindern gewusst.
Er konnte nur hoffen ? und er hatte stets ein schlechtes Gewissen dafür ?, dass Rosalia früh genug sterben würde, um ihm doch noch ein solches Leben zu ermöglichen, und sei es auch nur für ein paar Jahre. Das allerdings war kaum zu erwarten.
Als Richmond den Blick wieder in den Wald schweifen ließ, sah er, dass der schmale Lichtschein der Kerze, und mit ihm Bruno, verschwunden war. Er hörte jedoch einen überraschten Aufschrei des Knappen, dann ein Rascheln, danach herrschte wieder Stille, abgesehen von einem Waldkauz, der irgendwo tiefer im Wald rief.
?Was ist los, Bruno?? rief Richmond. ?Bist du gestürzt??
Niemand antwortete ihm. Plötzlich fühlte Richmond, wie ihn ein mulmiges Gefühl beschlich. Er beschloss, allen Warnungen Brunos zum Trotz, doch noch nach Schloss Grubenberg weiterzureiten. Es konnte höchstens noch eine Stunde zu Pferd entfernt liegen.
?Bruno, was ist los mit dir?? rief er nochmals, schon eindringlicher. Als auch diesmal die Antwort ausblieb, verlor Richmond die Geduld. Er stand auf und zündete sich seine Pechfackel an. Er würde Bruno suchen müssen.

Starr musterte die Alvamata den Mann, der vor ihr am Boden lag. Sie hatte sich gezwungen gesehen, den Knappen zu töten, als er sie entdeckt hatte. Der Kampf war nur kurz gewesen, denn nachdem der Knappe seine Kerze fallen gelassen hatte, war es ein leichtes gewesen, ihm die Hand vor den Mund zu halten und ihn zu überwältigen. Sie hatte ihn zu Boden geworfen, sich rittlings auf ihn gesetzt und ihn dann mit ihren Händen erwürgt.
Die Alvamata war noch nie eine zarte Frau gewesen, und sie wusste sich durchaus zu wehren.
Sie war stolz, dass es ihr gelungen war, ihr Geheimnis zu wahren. Niemand durfte je erfahren, dass die Gemeinschaft der Schwestern Alvarias hier im Wald existierte. Sie allein entschieden, wen sie als neues Mitglied zu sich holten. Andernfalls wäre man bald auch hinter das Geheimnis des Rings gekommen und die Tagmenschen hätten versucht, ihn mit allen Mitteln zu erlangen. Das durfte nie geschehen!
Sie zuckte zusammen, als sie erneut Schritte in ihrer Nähe gewahrte. Der Ritter! Er kam mit einer Fackel, um seinen Knappen zu suchen! Noch einen Tod wollte sie keinesfalls zu verantworten haben. Vielleicht blieb ihr diesmal noch genug Zeit, um sich zurückzuziehen, um dann auf einem Umweg ins Dorf zu schleichen! Die Alvamata stand auf und ging vorsichtig ein paar Schritte rückwärts. Als sie sich außer Sichtweite des Ritters glaubte, begann sie schneller zu laufen. Sie hatte es geschafft!

Richmond tappte Schritt für Schritt durchs Unterholz auf die Stelle zu, an der er zuletzt seinen Knappen gesehen hatte. Er hörte, dass jemand durch den Wald davonrannte, aber seine Fackel reichte nicht aus, um weit genug zu sehen. ?Bruno! Bruuuuno!? rief er immer wieder. Dann endlich hatte er die Stelle erreicht. Ihm stockte der Atem, als er auf den Boden sah. Kaltes Entsetzen schnürte ihm die Kehle zu. Offenbar hatte auch Bruno jemand die Kehle zugeschnürt, seinem blaugefärbten Gesicht nach zu urteilen. Richmond musste sich beim Anblick der Leiche übergeben.
Als er sich nach einigen Minuten wieder gefasst hatte, machte er sich daran, dem Toten die Augen zu schließen. Er war nicht wirklich traurig über Brunos Tod, doch diese letzte Ehre musste ihm erwiesen werden.
Der Ritter wusste nicht, was dem Knappen genau zugestoßen war, und er hoffte auch, es nie zu erfahren. Das einzige, was er jetzt wollte, war, diesen unheimlichen Ort zu verlassen. Wenigstens ein solch grausamer Anblick würde ihm in dem Leben, dass er morgen antreten würde, erspart bleiben. Zugegebenermaßen nur ein schwacher Trost, wenn er dafür mit Rosalia verheiratet sein müsste.
Während Richmond Brunos Lider nach unten drückte, entdeckte er etwas in der Hand des Knappen. Er nahm es an sich und betrachtete es im Licht der Fackel, bevor er zum Feuer zurückging.

Die Alvamata war noch nicht weit gelaufen, als ihr auffiel, dass die Dunkelheit des Waldes zuzunehmen schien. Zuerst ignorierte sie diese Tatsache, doch als die Schwärze immer dichter wurde, blieb sie atemlos stehen. Wieso wurde es dunkler um sie herum? Wie konnte das sein? Der Ring erlaubte ihr doch, bei Nacht wie bei Tage zu sehen!
Der Ring! Eine dunkle Ahnung stieg in ihr auf. Sie wagte kaum auf ihre Hand zu schauen. Ihr Herz raste in der Brust, und das nicht mehr nur vom anstrengenden Laufen. Der Finger ihrer rechten Hand war vollkommen nackt. Dort war kein schwarzer Ring mehr. Sie musste ihn beim Kampf mit dem Knappen verloren haben!
Sie sank zu Boden, während ihr Tränen in die Augen stiegen. In dieser Nacht hatte sie einem der Dorfbewohner den Ring heimlich anlegen sollen. In der nächsten Nacht, dem ersten Neumond des Jahres, würden alle Schwestern Alvarias sich auf die Suche nach dem Ring machen ? und wenn sie ihn gefunden hätten, dann wehe seinem Träger! Er würde auf dem Altar in ihren Höhlen der Göttin geopfert werden, wenn die Sonne aufging. Das war das alljährliche Ritual der Machtübergabe. Diejenige Schwester, die den Ring gefunden hatte, würde ein Jahr lang die neue Alvamata sein.
So war es jedenfalls immer gewesen. Nie war der Ring verloren gegangen. Was würden die anderen Schwestern dazu sagen? Die Almavata war am Boden zerstört, denn sie wusste, dass das ihren Ausstoß aus der Gemeinschaft Alvarias bedeuten musste. Ohne Ring keine neue Alvamata, ohne Alvamata keine Nachtsicht, ohne Nachtsicht keine Schwestern Alvarias.
Die Schwester entschloss sich zu warten. Sie hatte nicht die Kraft, um zu den anderen zurückzukehren, ganz abgesehen davon, dass sie den Weg im Dunkeln nun wohl kaum gefunden hätte. Doch wenn die Zeit der Machtübergabe ereignislos verstrich, dann würde man sie bald suchen und finden.
Sie blieb schluchzend auf dem Boden hocken, bis die ersten Lichtstrahlen sie berührten. Dann kroch sie unter einen kleinen Busch und schlief schluchzend ein.

Mitternacht war schon verstrichen, als Richmond am Schloss ankam. Sämtliche Bewohner schienen jedoch noch ? oder schon? ? auf den Beinen zu sein, um die letzten Hochzeitsvorbereitungen zu treffen. Richmond wurde schnell zu seiner zukünftigen Braut geführt.
?Oh, wie froh bin ich, dass ihr endlich da seid!? sagte Rosalia mit schriller Stimme zu ihm, als sie in ihrer Kammer zusammensaßen. Ein Gefühl, dass nicht auf Gegenseitigkeit beruht, dachte Richmond nur, wusste aber nicht, was er erwidern sollte.
Doch das war auch gar nicht nötig, denn eh er sich?s versah, hatte Rosalia die Kerze vor ihnen ausgeblasen und begonnen, Richmond mit Küssen einzudecken. Er konnte es nicht fassen. Da kannten sie sich gerade einmal zwei Minuten und schon versuchte dieses Weib, ihn zu umgarnen, was das Zeug hielt. Er musste sie irgendwie davon abbringen. Richmond kramte in seiner Hosentasche herum, so gut es eben mit Rosalia auf seinem Schoß ging und brachte zum Vorschein, wonach er suchte.
?Hier, Rosalia, für dich!? Mit angeekeltem Gesichtsausdruck nahm er ihre Hand in die seine und legte ihr den seltsamen schwarzen Ring an, den er bei Bruno gefunden hatte. Ein Ring aus der Hand eines Toten ? das war genau das Richtige für Rosalia, dachte er schadenfroh!
Rosalia hielt in ihren Liebkosungen inne, als sie den Ring an ihrem Finger spürte. ?Der... der ist... für mich?? fragte sie entgeistert.
?Für wen den sonst, mein Schatz?? flüsterte Richmond mit nicht überhörbarem Spott, machte sich aus Rosalias Umarmung frei und schlüpfte zur Tür hinaus. Er hörte nicht mehr, wie Rosalia ihm hinterherrief, sie könne plötzlich viel besser im Dunkeln sehen.
Richmond wollte nur noch in sein Bett. Sein Leben von nun an würde ein einziger Albtraum sein ? ein Albtraum mit Namen Rosalia!

Als sie erwachte, lag sie im Bett ihrer Höhle, umgeben von drei ihrer Mitschwestern. ?Was ist passiert?? fragte sie in die Runde.
Die Antwort kam wie aus einem Mund: ?Du hast die Machtübergabe verschlafen. Die Zeit als Alvamata muss wohl sehr anstrengend gewesen sein.? Die Antwort rief allgemeines Gelächter hervor.
?Aber... der Ring?? Sie verstand nicht, wie man hier so fröhlich sein konnte, nach dem, was geschehen war.
?Ja, den hast du gestern Nacht abgegeben?, sagte eine der Schwestern. ?Aber dass du ausgerechnet die Tochter des Grafen als Opfer auswählen musstest, war nicht gerade nett von dir. Wusstest du nicht, dass diese Rosalia frisch verheiratet war??
?Verdient hat sie?s immerhin!? kicherte eine andere Schwester. Die ehemalige Alvamata kicherte ebenfalls, erst leise, dann immer lauter. Sie konnte einfach nicht mehr aufhören zu lachen.
Sie lachte, dass selbst die Göttin der Nacht persönlich es hören musste, so glücklich war sie.
Und auch der Ritter, der gerade draußen auf dem Waldweg vorüberritt und das ferne Gelächter hörte, war glücklich. Er stimmte lauthals in das Lachen mit ein, während er nach Norden ritt, hinein in ein Leben voller Abenteuer.
 
Re- Nächtliche Begegnung

Hallo Bilbo,

gefällt mir nicht schlecht, wirklich.
Angenehm zu lesen, spannend auch.

Zwei kleine Einschränkungen:
1) Die Moral von der Geschicht:
Der Held muß hier NICHT für seine Interessen
eintreten, um sie durchzusetzen, statt dessen
kommen Zufall und höhere Mächte ihm zur Hilfe.
Die zickige Dame wird recht hart gestraft, der
pädagogische Totalversager (der Vater) kommt
ungeschoren davon.
2) Ein klein wenig zu früh erahnte ich das Ende.
(Allerdings wüßte ich jetzt auch wieder nicht
wie man das besser hätte lösen können.)

Nix für ungut, alles Gute: Buk Tom
 

Daijin

Mitglied
Das Ende ist ganz amüsant, auch wenn es auf mich ein wenig "hart" wirkt. Ich meine, als Leser weis man nur, daß diese Rosalia halt etwas nervt...

Warauf Du auf jeden Fall achten solltest, sind Wortwiederholungen. Der Name Richmond taucht viel zu häufig in der Geschichte auf. Auch könntest Du ein bißchen an Deinem Stil arbeiten, versuchen der Geschichte etwas mehr Athmosphäre zu verleihen.
 



 
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