Nächtliche Begegnung

Heinrich VII

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Ein Spaziergang und etwas frische Luft können mir nicht schaden, denke ich. Ich ziehe mir Schuhe und Jacke an und begebe mich vor die Tür.
Es ist schon spät, nach 23 Uhr. In dem kleinen Ort, in dem ich lebe, ist der Bürgersteig längst hoch geklappt. Es ist kalt, ich habe Schal und Handschuhe dabei.
Mein Atem lässt weißen Nebel vor meinem Mund entstehen. Mein Oberlippenbart fängt an zu gefrieren, man kann es mit der Zungenspitze fühlen.
Die Straße, die ich entlang laufe, macht ein Stück weiter unten einen leichten Linksbogen und endet schließlich vor der Hauptstraße. Davor kommt rechts das Hotel, wo um die Zeit unten im Bistro noch Gäste sitzen. Im Vorbeilaufen sehe ich sie bei Kerzenlicht miteinander reden, Wein oder Bier trinken, etwas essen. Ich mag es, nachts, wenn die Welt ruhig ist und ihre Würde zurück hat, spazieren zu gehen und in erleuchtete Häusern zu blicken. Leute darin zu beobachten. In diesem wundersamen Licht, zu dieser stillen Nachtzeit hat das seinen eigenen Reiz. Am Tag würden mir solche Gedanken nicht kommen.

Hier wäre es gut, hier könnten wir runter.“
Du meinst wegen dem Mann, der sich da unten die Beine vertritt?“
Ja, Herr, das wäre was. Ich hätte da eine Idee.“
Und was für eine?“
Der Himmelhund sah seinen Herrn geheimnistuerisch an:
Möchte ich noch nicht verraten.“

Ich erreiche die Kreuzung, drücke den Knopf und warte auf das grüne Männchen. Der Autoverkehr ist um die Zeit nur noch spärlich.
Ich halte mich dennoch an die Regel. Als es grün ist, laufe ich über die Straße und auf der anderen Seite weiter. Ich bin jetzt unterwegs in Richtung Stadtwald. Das Viertel, durch das ich hindurch laufe, ist ganz neu. Schon nach kurzer Wegstrecke sind die bewohnten Häuser hinter mir. Jetzt kommen die Rohbauten. Kräne und Bagger sind als dunkle Silhouetten zu erkennen. Ein Gehweg ist nicht mehr vorhanden, nur noch ein unbefestigter Streifen mit Kiesbelag knirscht unter meinen Füßen. Es ist dunkel. Straßenlampen sind hier noch keine aufgestellt. Ich kenne den Weg aber, bin ihn schon viele Male gelaufen. Man geht in einer langen Rechts-Schleife und hat am Horizont die beleuchtete Stadt als Lichtquelle vor sich.
Über mir klarer Himmel. Millionen blitzblank geputzter Sterne. Erinnert mich an ein Theaterstück, das ich als Kind gesehen habe: Peterchens Mondfahrt. Ich war damals genau so begeistert von der Theater-Kulisse wie jetzt von dem Himmel über mir. Wenn man da hoch sieht, weiß man wie klein man ist: Nur ein Pünktchen im riesigen Universum.

Etwas taucht aus dem Dunkel auf und erschreckt mich: Es ist ein Hund. Nachdem ich einen Moment stehen geblieben bin und mein Herz sich beruhigt hat, laufe ich weiter. Er geht mit, läuft neben mir her, tänzelt auf und ab. Kommt näher und streicht mir um die Beine. Dann duckt er sich und springt wieder auf. Ich muss lachen. Bei dem spärlichen Licht will ich nicht spielen. Bin ja froh, dass ich den Weg finde. Er lässt nicht locker, bellt, will mir anscheinend klar machen, kein Spielverderber zu sein. Schließlich merkt, dass ich partout nicht darauf einsteige und läuft weg. Denkt sich vermutlich, dass mit dieser trüben Tasse nichts anzufangen ist.
Es wird langsam heller, ich nähere mich mehr und mehr wieder dem beleuchteten Teil der Stadt. Komme jetzt am Altenheim vorbei, das links von mir gerade gebaut wird. Als ich nicht mehr weit von der Hauptstraße entfernt bin, sehe ich rechts im Graben einen Mann stehen. Er raucht, ich rufe ihm „Guten Abend“ zu. Er reagiert nicht, steht nur da wie eine Statue. Vielleicht hört er schlecht. Oder er will seine Ruhe haben. Dann sehe ich den Hund neben ihm – den gleichen, der gerade mit mir spielen wollte. Das Tier ist jetzt auch merkwürdig ruhig; sitzt brav neben seinem Herrn, als wäre es ebenfalls eine Statue. Zwei Figuren wie in Bronze gegossen. Nein, sie werden zu Schatten. Sogar mit leuchtenden Elementen. Ich reibe mir die Augen. Als ich wieder hin sehe, stehen da nur ein Mann und sein Hund. Die Dunkelheit und die anschließende Rückkehr ins Licht müssen meinem Gehirn und meinen Augen einen Streich gespielt haben.
Ich gehe weiter, komme vorne zur Hauptstraße, drücke den Knopf, damit das grüne Männchen mir freien Lauf gewährt. Ich überquere die Straße und gehe über den großen Parkplatz vor dem Rathaus. Ich atme tief durch und genieße das. Laufen ist immer noch das Beste, wenn man den ganzen Tag in der Bude gesessen hat.

Mit mir spielen wollte er nicht, dann also etwas anderes.“
Pass aber auf was du tust, Himmelhund!“
Das werde ich Herr – keine Sorge.“

Der Hund ist wieder da! Ich habe mich nochmal umgedreht, warum auch immer, und sehe ihn auf der Hauptstraße umher spazieren. Und das Auto, das von unten kommt und auf ihn zu rast, höre und sehe ich auch. „Mein Gott!“
Um die Zeit halten sich die Fahrer nicht mehr an die Verkehrsregeln. Tempo fünfzig ist da nur noch etwas für alte Weiber und Hosenscheißer. Eine Sekunde stehe ich da und will nicht glauben, was ich sehe. Ohne noch weiter Zeit zu verlieren reiße ich mich raus aus dem Schock und laufe los. Der Hund spaziert immer noch seelenruhig mitten auf der Hauptstraße umher, als wäre er taub und blind.
Das Auto ist inzwischen so nahe, dass ich es vermutlich nicht mehr schaffen werde, ihn rechtzeitig da runter zu holen. Ungeachtet dessen renne ich weiter auf ihn zu, winke mit beiden Armen in Richtung des Autofahrers und hoffe, dass er mich sieht. Das Auto kommt mit unverminderter Geschwindigkeit auf uns zu.
„Ja, siehst du uns denn nicht?", schreie ich.
Ich bin jetzt auch auf der Straße. Bekomme das Halsband des Hundes zu fassen. Der Fahrer sieht uns endlich und geht im letzten Moment vom Gas. Er reißt nach links, weicht auf den gegenüberliegenden Gehweg aus. Zum Glück sind keine weiteren Fußgänger mehr unterwegs. Im Graben verharre ich einen Moment mit zitternden Knien, streichle dem Tier beruhigend über den Rücken, ohne das Halsband los zu lassen. Mein Atem geht stoßweise, das Herz schlägt mir bis zum Hals. Ein beherzter Sprung im letzten Moment, wobei ich den Hund mitgerissen habe, hat uns gerettet. Oder hat der Hund mich mitgerissen? Für einen Moment hat es sich so angefühlt.

Ich sehe die Rücklichter des Autos aufleuchten, es stößt zu uns zurück.
Eine Frau steigt aus: „Ist was passiert?“
„Sind sie besoffen oder blind?“, brülle ich sie an.
Ich deute auf den Hund und sage: „Sie hätten uns fast überfahren!“
„Entschuldigung, das wollte ich nicht. War so in Gedanken wegen. Hab wohl gar nicht gemerkt, wie schnell - “
Händeringend steht sie da und will mir irgendeine Geschichte auftischen.
„Ersparen Sie mir die Einzelheiten, hauen Sie schon ab! Zukünftig Tempo fünfzig und Augen auf!“
Die Frau nickt. „Ist auch wirklich nichts passiert?“
„Gehen Sie, verdammt!“

Ich bringe den Hund dahin, wo der Mann gestanden hat. Er steht immer noch da, wie ein dunkler Schatten, bewegungslos wie eine Statue.
„Ich bringe Ihren Hund zurück, er wäre fast überfahren worden!“
Der Mann antwortet nicht, steht nur da. Der Hund läuft zu ihm hin.
Dann kommt doch noch Bewegung in diesen seltsamen Zeitgenossen. Er dreht sich um und läuft mit ihm davon. Und merkwürdig - es sieht so aus, als würden die beiden gar nicht gehen, sondern schweben, immer mehr nach oben, bis sie plötzlich weg sind. Einen Moment stehe ich da und traue meinen Sinnen nicht. Dann drehe ich mich um und laufe weiter nach Hause.
„Blödsinn – so etwas gibt es doch gar nicht.“

Sind doch gar nicht so schlecht, die Menschen, oder?“
Manche, Himmelhund, manche. Aber ob man sie unterm Strich als gut bezeichnen kann, ist noch nicht raus. Dein Test hat es ja gezeigt.
Die Frau hätte dich fast über den Haufen gefahren, der Mann hat dich unter Aufbietung aller Kräfte gerettet.“

Davon abgesehen war es aber schön, mal wieder da unten zu sein, nicht wahr Herr?“
Stimmt! Die Sache immer von oben zu betrachten, lässt den Blick einseitig werden.“
Wir müssen öfter mal runter, dann siehst du die Menschen bald in ganz anderem Licht.“
Ja, ja, ich weiß Himmelhund, du magst sie. Und ich sollte sie auch mögen, habe sie schließlich, samt ihrer Welt, erschaffen.“
Ja, das hast du, Herr! Und ich will mal sagen: Für meine Begriffe ist dir das Werk gut gelungen.“
Na, das freut mich aber. Weißt du eigentlich, dass mein Sohn Jesus immer noch in Behandlung bei unserem Himmels-Psychiater ist?“
Wegen der Kreuzigung damals auf Golgotha?“
So ist es. Er hat das Trauma noch immer nicht überwunden, obwohl es schon zweitausend Erden-Jahre her ist.
Die Menschen haben ihm Schreckliches angetan.“


Als ich zuhause bin, ziehe ich mich sofort aus, putze mir die Zähne und lege mich ins Bett. Morgen steht Arbeit an. Ich muss ausgeruht sein. Kurz bevor mich der Schlaf wegholt, denke ich noch: Habe heute einen Hund gerettet. Der merkwürdig unbewegliche Kauz von einem Mann, dem er gehört, hat sich aber nicht bei mir bedankt. Hat nur da gestanden und keine Antwort gegeben. Gibt schon merkwürdige Vögel auf dieser Welt. Ob die beiden tatsächlich davon geschwebt sind?
Schwer zu glauben.

Siehst du Himmelhund, dieser Mensch hat nicht einmal gemerkt, dass er seinem Schöpfer begegnet ist.“
Ja, stimmt Herr. Vielleicht kann man diese Spezies noch ein wenig sensibler gestalten, wenn das im Nachhinein geht.“
Willst du damit sagen, dass ich bei der Erschaffung nicht präzise genug war?“
Der Himmelhund schüttelt vehement den Kopf:

Nein Herr, so war das nicht gemeint.“
Nach einer Pause räumt der Herr ein:
So unrecht hast du gar nicht - ich werde darüber nachdenken.“
 
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