Nänie

hermannknehr

Mitglied
Ärmer ist sie geworden,
seelenlos und kalt,
die Sprache, die wir leben.
Wörter gaukeln wie Masken,
blenden, bröckeln, zerfallen.
Wo ist ihr Singen geblieben?
Euterpe schweigt schon so lang,
ihr Haar ist grau geworden,
stumpf, ohne Glanz.
Was haben wir dir getan,
was haben die Dichter getan?
Du meidest unsere Nähe
seit wir das Schöne verloren,
das Vollkommene nicht mehr gesucht.
Haben wir nicht schon immer
die Sprache verwendet zum Spott,
die Wörter verdreht und verzerrt
aus diabolischer Lust?
Und du hast uns Oden gegeben,
prächtige Lieder trotz allem.
Was also hat dich verstört,
dass du die Flöte zerbrachst
und Asche dir streutest ins Haar?
Haben wir dich so verletzt,
als wir die Verse zerstörten,
den Reim ächteten blindlings
und Wortfetzen klebten zu Strophen
ohne Gefühl für Musik?
Ach, Euterpe, verzeih,
vergib uns die geistlosen Sätze,
die Pseudoprovokationen
der selbsternannten Avantgarde.
Hilf uns, Euterpe, hilf mir,
die Sprache wieder zu finden
und Sätze zum Klingen zu bringen.
Wir wollen die orphischen Künste
zu neuem Leben erwecken,
dein Flötenspiel wieder erlernen,
der Schönheit Willen allein.
 

Herr H.

Mitglied
Hallo Hermann,
kaum zu glauben, dass ein so herrliches Poem noch keinen Widerhall gefunden hat. In klassischer Manier verfasst, stören mich einzig die "Pseudoprovokationen", die zur Qualität des Gedichts nicht so recht passen wollen.
Ich empfinde es übrigens ganz ähnlich wie du: Euterpes Flöte ist weitgehend verstummt. Aber Gedichte wie dieses von dir lassen mich hoffen.

LG von
Herrn H.
 

hermannknehr

Mitglied
Hallo Herr H.,
vielen Dank für Deinen Zuspruch, man fühlt sich ja sonst wie ein Rufer im einsamen Wald. Was die "Pseudoprovokationen" betrifft, so bin ich auch nicht ganz glücklich. Aber wie soll ich das denn benennen, was so mancher selbsternannter Avantgardist meint aufs Papier bringen zu müssen?
LG
Hermann
 



 
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