Nasrin und Nero (aus Schreibwerkstatt)

Nasrin und Nero
von Willi Corsten

Fred Hansen ist jedes Mal traurig, wenn er Nasrin sieht, die da allein an der Straße steht und auf den Schulbus wartet. Er möchte das kleine türkische Mädchen mitnehmen, doch das darf er nicht, weil es gegen die Vorschriften ist.
An diesem nasskalten Wintertag kommt jedoch alles anders.
Hansen ist mit seinem Omnibus seit früh um fünf unterwegs und fährt nun leer nach Rheintal. Von dort soll er Kinder zur Wedelbacher Grundschule bringen. Die Landstraße in das mittelalterliche Dorf schlängelt sich durch Wiesen und Felder. Zwei Kilometer vor dem Ort zweigt ein holpriger Weg ab und windet sich an einer Pferdekoppel vorbei zu dem alten Haus, in dem Nasrin wohnt. Jeden Morgen geht das Kind diesen Weg und wartet an der Straße auf den Schulbus. Sie darf jedoch erst einsteigen, wenn der Fahrer aus Rheintal zurückkommt. Da ihre Eltern schon zur Arbeit sind, steht sie immer viel zu früh an der Haltestelle.
„Warum darf die Kleine nicht auf der Hinfahrt in den Bus steigen?", fragt Hansen oft. Die Dienststelle erlaubt keine Ausnahme.
Als der Fahrer heute an der Abzweigung vorbeikommt, pfeift er jedoch auf alle Vorschriften, pfeift auch auf die Herren in der Verwaltung, denn heute ist einzig die sechsjährige Nasrin wichtig. Das wehrlose Kind ängstigt sich fast zu Tode. Ein großer, schwarzer Schäferhund ist schuld an ihrer Not. Er bedrängt das Mädchen ungestüm, springt wieder und wieder an dem Kind hoch und wirft es mit seinen tollpatschigen Sprüngen fast um.
Fred Hansen steigt voll in die Bremsen, eilt auf die andere Straßenseite, packt mit hartem Griff das Halsband des Hundes und zerrt ihn von Nasrin fort. Der Hund ist nicht bösartig, das erkennt der Fahrer sogleich. Darum sagt er nun: „Ruhig, du Strolch, ganz ruhig mein Freund. Platz!"
Das Tier gehorcht aufs Wort und rührt sich nicht mehr von der Stelle. Hansen geht nun zu dem Mädchen, nimmt es behutsam in den Arm und wiegt es sanft, bis ihr heftiges Weinen aufhört. „Ist gut, Nasrin, ist ja gut, Mädchen. Der wollte doch nur spielen, der Hund, einfach nur spielen. Schau mal, wie lieb er dort sitzenbleibt. Der beißt nicht, ganz sicher nicht."
Hansen putzt die Tränen fort aus dem kleinen Gesicht, putzt auch Nasrins Näschen und sagt: „Der Schlingel ist gewiss fortgelaufen von daheim und war glücklich wie ein Schneekönig, als er dich gesehen hat."
Ein letztes Beben schüttelt das Mädchen, dann nickt es tapfer, nimmt dankbar die Hand des Fahrers und freut sich, weil es gleich in den Bus steigen darf.
Aufmerksam beobachtet der Hund den Mann und das Kind, bleibt aber folgsam an seinem Platz. Da ruft Hansen: „Komm her, du schwarzer Teufel. Hier kannst du nicht bleiben, sonst rennst du mir noch einen Möbelwagen um."
Mit einem Satz springt das Tier in den Bus, legt sich neben den Fahrersitz und genießt die behagliche Wärme, die aus dem Heizgebläse strömt.
„Mal sehen, was ich nachher mit dir mache", brummt Hansen und fährt ab. Er lächelt zufrieden, als Nasrin scheu die Hand ausstreckt und dem Hund über das glänzende Fell streichelt.
Wenig später sagt der Fahrer: „Hopp, hopp, ihr Sandkastenrocker, einsteigen und hinsetzen, wir haben es brandeilig heute."
Hansen versteht sich gut mit den Kindern und erklärt ihnen mit todernster Mine, wie er an den vierbeinigen Fahrgast gekommen ist. „Nero ist mein neuer Freund. Ich musste ihn vorhin leider verhaften, weil er Nasrin auffressen wollte. Er darf aber nun zum Frühstück den ersten Jungen verspeisen, der Unsinn im Bus macht."
Misstrauisch beobachten die Kinder den großen Hund und rücken enger zusammen. Doch als Hansen dem türkischen Mädchen lustig zuzwinkert, merken sie, dass er nur Spaß gemacht hat. Dann geht die Reise los.
Der Wind hat die Regenwolken verjagt, hinter dem Rhein geht die Sonne auf. Es ist merklich kälter geworden. Hansen nimmt das Gas weg und schaltet zwei Gänge zurück. Die Straße glitzert und ist plötzlich spiegelglatt. Der Fahrer weiß, wie tückisch überfrorene Nässe ist und weiß auch, wo er nun besonders aufpassen muss. Hinter der Steigung ist eine dieser gefährlichen Stellen, dort in der Kurve, wo vorhin der Hund die kleine Nasrin bedrängt hat.
Als Hansen auf der Höhe ankommt, stockt ihm fast der Atem. Wenige Meter vor ihnen ist ein schwerer LKW von der Straße gerutscht, hat ein halbes Dutzend junge Bäume entwurzelt und stürzte dann in den Graben. Die schweren Betonrohre, die er geladen hatte, liegen nun weit verstreut auf dem Weg, den das Mädchen jeden Morgen geht.
Behutsam bringt Hansen den Bus zum Stehen.
Nasrin aber blickt stumm auf das Chaos aus zersplittertem Glas, verbogenem Blech, geborstenen Betonteilen, abgeknickten Bäumen und aufgewirbelter Erde. Dann schaut sie ratlos den Fahrer an und fragt: „Wo stelle ich mich morgen früh nur hin? Der ganze Platz ist doch kaputt und das Schild von der Haltestelle liegt weit hinten im Feld."
Fred Hansen schluckt, will etwas sagen, sagt aber nichts. Nach einer kleinen Ewigkeit tastet er nach dem Hund, streichelt ihm scheu, fast ehrfürchtig über den Kopf und flüstert ihm etwas zu. Es klingt wie Schwarzer Schutzengel.
 

Breimann

Mitglied
Ja, sage ich natürlich gerne,

zu dieser Geschichte, lieber Willi Corsten. Ein "Wunder", wie wir so etwas gerne nennen, weil wir solche "Zufälle", die immer wieder passieren, nicht begreifen können.
Gut erzählt, immer auf des Messers Schneide zum Rührstück, und nicht abgeglitten.
Männer, wie dieser Busfahrer sind die eigentlichen Helden unserer Gesellschaft. Es hätte nicht einmal Nasrin, ain Türkenmädchen sein müssen. Die Geschichte hätte sogar mit einem deutschen Bauernkind funktioniert.
Danke für die Geschichte
eduard
 
Hallo Eduard,
vielen Dank für dein Lob. Es musste das kleine türkische Mädchen sein, denn die Geschichte ist (bis auf den Unfall) nicht erfunden, sondern tatsächlich ein eigenes Erlebnis. Wir sind heute noch gute Freunde, die Nasrin und ich. War sogar zu ihrer Hochzeit eingeladen.
Herzliche Grüße
Willi
 

Breimann

Mitglied
Die besten Geschichten

schreibt das Leben, lieber Willi und manche meiner Geschuchten haben mehr als nur einen "wahren Kern". Aber man merkt eigentümlicher Weise vielen Geschichten an, dass sie etwas Wahres in sich haben.
Liebe Grüße
eduard
 
Du hast Recht,
lieber Eduard, nur wo man mit Herz und Seele dabei ist, kommt etwas vernünftiges heraus. Darum sind wahre Geschichten immer noch die besten.
Ein schönes Wochenende wünscht Dir
Willi
 
L

leonie

Gast
hallo willi

ich kann euch beiden nur zustimmen, auch wenn ich mehr ins märchenhafte schreibe, ist ganz viel von mir und meinen erfahrungen darin sonst würde alles konstruiert und hohl wirken.
ganz liebe grüße leonie
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Ach Willi,

es ist ein Jammer. Wie alle deine Geschichten habe ich auch diese hier mit sehr viel Vergnügen gelesen. Nur das Schreiben dieses Kommentares bereitet mir arges Mißvergnügen. Ich rühre und rühre und finde einfach kein Haar in der Suppe. Und selbst wenn ich eines erwischte, ich müßte es noch mehrmals spalten. Doch dazu ist meine Feder nicht scharf genug.
Bitte schreib doch mal was ganz fürchterlich Schlechtes. :))

Gruß Ralph
 
Stimmt, liebe leonie,
du gehst mehr ins märchenhafte. Das ist sogar noch schwerer, als eigene Erlebnisse zu beschreiben, dennoch fließt dort viel Herzblut mit ein.
Es grüßt dich ganz lieb
Willi
 
L

leonie

Gast
lieber willi

schau dir doch noch mal Schatten über Vandryan an, hab es jetzt umgeändert. leider habe ich die erste version gelöscht, so dass nur noch die zweite da steht, aber du hattest sie dir ja glaube ich ausgedruckt, so dass du beide vergleichen kannst.
ganz liebe grüße leonie
 

Felicitas

Mitglied
wie alt ist das Mädchen

Hallo!
Ich habe die Geschichte verschlungen! Nur eines ist mir aufgefallen: Wie alt ist denn das Mädchen? Es kam mir beim Lesen sonderbar vor, dass ein kleines Kind, das vorher noch vor einem großen Hund gezittert hat, plötzlich den "Erwachsenensatz" sagt: „Wo um alles in der Welt stelle ich mich nur morgen früh hin? Der ganze Platz ist doch kaputt und das Schild von der Haltestelle liegt weit hinten im Feld." Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass ein Kind so etwas sagt... Aber wenn die Geschichte wahr ist... ;-)
LG Felicitas
 
R

Rote Socke

Gast
Lieber Willi,

hatte mich außerordentlich gefreut diese Geschichte von der Schreibwerkstatt bis hieher begleiten zu dürfen. Sie ist gut geworden und ich habe viel profitiert. Danke!

LG
RS
 
Hallo Ralph,
entschuldige, dass ich dir erst heute antworte. Hatte deinen Beitrag doch glatt übersehen, weil ich die Sätze an leonie "blind" hierher kopierte.
Deine satirischen Betrachtungen sind immer wieder ein Vergnügen. Wenn ich einmal mit einem „fürchterlich schlechten Text“ nicht zurande komme, hörst du von mir. OK
Liebe Grüße
Willi
 
Hallo Felicitas,
du bist eine hervorragende Beobachterin. Der ‘Erwachsenensatz‘ passt wirklich nicht zu dem siebenjährigen Mädchen. Die Worte „um alles in der Welt“ wurden erst nachträglich eingefügt. Ein Fehler, wie du treffend bemerkt hast. Wird geändert.
Es grüßt ganz lieb
Willi
 

Felicitas

Mitglied
änderung

Hallo!
Ich bin verblüfft, hätte nicht gedacht, dass mein kleiner Anfänger-Hinweis nun gleich umgesetzt wird ;-) LG Felicitas
 
Hallo Felicitas,
warum so verblüfft? Ich stelle meine Texte doch nur darum in die LL, um sie druckreif zu gestalten. Folglich ist jeder vernünftige Hinweis Gold wert. Und dein Tipp war eben so ein Goldkörnchen, warum sollte ich ihn also nicht dankbar annehmen?
Du bist jedenfalls immer herzlich willkommen in meinen Texten. (kleiner Hinweis: sie stehen meistens zuerst in der Schreibwerkstatt, weil dort richtig gut gearbeitet wird.)
Es grüßt dich lieb
Willi
 
E

ElsaLaska

Gast
hallo willi,

du weisst ja, dass mir diese geschichte besonders am herzen liegt.
zu verbessern hatte ich nichts mehr, drum hab ich mich nicht mehr gemeldet.
nun hat aber felicitas einen wertvollen tipp gegeben, der gar nichts mit anfänger-sein oder nicht-sein zu tun hat. dieser satz ist uns allen gar nicht aufgefallen. toll, felicitas.

ich würde mal sagen, die geschichte ist dank dieser änderung nun wirklich rund und wunderschön.

liebe grüsse an alle hier
elsa
 
Liebe Elsa,
ich finde auch, dass Felicitas Hinweis den letzten Schliff gebracht hat. Dafür bin ich sehr dankbar, vergesse aber auch nicht, wie wertvoll eure Tipps waren. Hat jedenfalls unheimlich Spaß gemacht.
Liebe Grüße an alle
Willi
 
Liebe Elsa,
ich habe die Geschichte gestern auf der Lesung vorgetragen. Super.
Vielen Dank übrigens für deine lb. Grüße, die du über Femi bestellen ließt.

Bis bald
Willi
 
E

ElsaLaska

Gast
lieber willi,

ich hoffe, ihr hattet einen schönen abend!

es ist wirklich schade, dass ich tief im süden wohne und ihr so weit weg seid. wäre auch gerne gekommen.....

liebe grüsse
elsa
 
Liebe Elsa,
vielen Dank für dein Interesse.
Ja, es war eine wunderschöne Lesung, mit wirklich sachkundigen Besuchern. Schade, dass du nicht dabei warst. Vielleicht können wir einmal in deiner Ecke etwas ähnliches organisieren. Mit mir könntest du immer rechnen.
Es grüßt dich ganz lieb
Willi
 



 
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