NECOBA

Klaus K.

Mitglied
NECOBA

Ich hatte es mir schlimmer vorgestellt. Die Wanderung war bis jetzt sehr angenehm gewesen, mir war aber auch niemand begegnet. Der Weg durch den Hain war zu Ende und führte jetzt an ein Flußufer. Dort war ein Steg, und da lag ein offenes Ruderboot, in welchem ein Mann stand.
"Da sind Sie ja! Steigen Sie ein, ich bringe Sie hinüber, die Überfahrt ist umsonst!"
Ich folgte dem Aufruf, setzte mich und er ruderte sofort los. Das gegenüberliegende Ufer war nicht weit entfernt, ich wunderte mich nur über die eigenartige tiefschwarze Farbe des Wassers.
"Haben Sie viele Kunden?" fragte ich ihn.
"Mal mehr, mal weniger" lautete die knappe Antwort, und er fuhr fort: "So, da wären wir. Steigen Sie aus, gehen Sie den Weg entlang, direkt nach der Biegung oben sind Sie dann bereits da!"

Ich stieg aus. "Auf Wiedersehen!" sagte ich als Verabschiedung.
Er lachte nur kurz auf, entgegnete aber nichts sondern wendete das Boot und ruderte sofort zurück. Aber was hatte er gemeint mit "Dann sind Sie gleich da"?
Wo sollte ich sein?
Ich wußte es nicht und konnte mich auch an nichts erinnern, jeder diesbezügliche Versuch meinerseits ging ins Leere. Ich registrierte nur, daß ich mich auf einer Wanderung befand, die jetzt an ein Ziel gelangt war. Ein riesiges Gebäude, kastenförmig, ein Eingangsportal über dem in großen Lettern "NECOBA" angebracht worden war. Was war das?
"So, treten Sie näher, Sie werden bereits erwartet!"
Der mich ansprechende Mann trat aus dem dunklen Bereich des Eingangs hervor. Ein vollkommen dunkel gekleideter Mann mit Vollbart, ich schätzte ihn auf ungefähr fünfzig Jahre.
"Wo bin ich hier?" fragte ich, noch zögernd und stehenbleibend.
"Dort, wo alle hinkommen. Wollten Sie nicht auch das ewige Leben? Nach dem Tod? Hatten Sie das nicht auch geglaubt, hatten Sie es nicht auch erhofft?"
Richtig! Und jetzt glaubte ich mich zu erinnern, aber die von ihm begonnene Unterhaltung sperrte meinen Blick in die Vergangenheit rigoros ab.
"Das Paradies?" fragte ich zögerlich.
"Ein guter Witz, wirklich! Mummenschanz, Bauernfängerei, Verblendung, Versprechen ohne Garantie. Die absolute Lüge schlechthin, seit zweitausend Jahren. Effizient eingesetzt für alle Schandtaten und Verbrechen, Mord und Totschlag. Das Paradies!
Wer darüber nachdenkt, der weiß, daß diese Prophezeihung nichts anderes als Täuschung ist. Und dabei ist dann die jeweilige zugrundeliegende Religion völlig egal. Das Paradies ist das Zuckerbrot für die Dummen. Es gibt es nicht."
"Aber das ewige Leben? Was ist damit?" fragte ich jetzt, völlig verwirrt.
"Haben Sie eigentlich jemals darüber nachgedacht, ob das wirklich erstrebenswert ist? Nein, befürchte ich. Eine Chimäre, verkleidet in den Mantel der Hoffnung, tatsächlich jedoch das Grauen überhaupt. Ewiges Leben? Wissen Sie eigentlich, was das heißt? Nie zur Ruhe zu kommen, nie ein Ende zu finden, dauernd weiterleben zu müssen? Nein, das ist doch die höchste vorstellbare Strafe überhaupt.
Wenn man allein die dramatischen Lebensverläufe aller, die an diesen falschen Strohhalm glauben, anschaut - überall nur entsetzliche Ereignisse, keiner ist ohne Probleme, und nie ohne Schuld mit seinem Leben durchgekommen. Keiner! Und das wollen Sie ewig so weitermachen, jetzt wissend, daß es das Paradies dazu überhaupt nicht gibt? Wie verblendet muß man eigentlich sein, um auch nur einen Gedanken an diesen Horror zu verschwenden?"

"Sie machen mir Angst! Und was ist mit einem Leben nach dem Tod, jetzt völlig unabhängig vom Paradies?"
"Sie zielen ab auf die sogenannten "Nahtoderfahrungen"? Sie sterben also und treffen dann danach auf die Sie bereits erwartenden Verwandten, meistens Eltern, Großeltern, bereits verstorbene Geschwister. Und dann dürfen Sie aber nochmals zurück, erleben dabei beeindruckende Dinge. Alles wunderbar, und Sie haben danach auch überhaupt keine Angst vor Ihrem Tod mehr. Aber Sie haben zu kurz gedacht. Wenn jemand diese Nahtoderfahrung also erlebt, dann muß er sich doch fragen, wie es sich mit seiner soeben wiedergetroffenen Verwandtschaft verhält. Denn diese Menschen haben ihrerseits doch auch ihre Vorgängergeneration treffen können, und so geht es weiter in der Zeit zurück. Der gesamte Familienstammbaum würde aktiv teilnehmen können, ein Durcheinander ohnegleichen. Bis zu den allerersten Menschen und darüber hinaus, der Logik folgend. Das ist absoluter Unsinn, wie man leicht erkennt, wenn man denn will.

Was da physiologisch mit den Betroffenen nach dem temporären Tod eingetreten ist, ist eine ebenfalls temporäre Schutzfunktion Ihres Gehirns, bevor Ihre Organe nicht mehr ausreichend versorgt werden. Bilder, sozusagen. Es werden Erinnerungen, Wunschbilder produziert. Positive Bilder."
"Woher wollen Sie das wissen, woher?" fragte ich, jetzt stark erregt.
"Ihr Erinnerungsvermögen funktioniert noch nicht wieder, offensichtlich haben Sie Ähnliches wie soeben geschildert aber nicht erlebt. Das wird Ihnen aber dann Beweis sein, daß alles, was ich Ihnen bislang gesagt habe, stimmt."
"Dann?" fragte ich, völlig verwirrt.
"Ja, dann. Und jetzt gehen wir hinein, folgen Sie mir!"

Ich war wie paralysiert und ging hinter ihm in das Halbdunkel des Gebäudes. Rechts und links des mir unendlich lang erscheinenden weiten Ganges waren Glasscheiben. Extrem starke Glasscheiben, und dahinter war Sand. Ganz normaler Sand, vereinzelt heller, mal auch etwas dunkler. Sand, wie man ihn an jedem normalen Strand vorfindet. Sonst nichts. Nichts außer Sand.
"Was ist das hier? Was soll soviel Sand hinter Glas?"
"Wissen Sie wo Sie sind?" fragte mich jetzt mein Begleiter.
"In irgendeinem Haus namens NECOBA - und was macht man hier?"
"Hören Sie nichts? Halten Sie doch mal Ihr Ohr an eine der Scheiben!"
Ich blieb stehen und folgte dem Hinweis. Da! Stimmen, ganz leise! Und Stöhnen, und war da nicht auch Wehklagen dabei?
"Was ist das? Der Sand spricht doch nicht! Was ist das?"
"Es ist nicht der Sand. Es sind die einzelnen Körner."
"Wie soll ich das verstehen? Die einzelnen Körner?"
"Sie haben vorhin nur nach den möglichen postiven Folgen nach dem Tod gefragt. Dem Paradies, dem Leben nach dem Tod, den Nahtoderfahrungen, nicht wahr? Die Gegenseite haben Sie komplett ausgeblendet. Genau wie die Tatsache, daß Sie selbst seit einiger Zeit nicht mehr unter den Lebenden weilen, was Ihnen aber nicht bewußt war. Sie hatten das verdrängt und daher vergessen. Hier haben Sie die komplette bislang verstorbene Menschheit vor Augen. Es sind ungefähr zehn Milliarden Sandkörner, also exakt soviel Menschen, wie bisher seit Anbeginn gelebt, betrogen, gelogen und alle nur denkbaren Schandtaten begangen haben. Die haben jetzt ihr ewiges Leben. Als Sandkorn. Und Sie? Sie befinden sich jetzt auch auf dieser einzigen und real existierenden Gegenseite.
Sie wollen wissen, was NECOBA bedeutet? NEver COme BAck."
 
Zuletzt bearbeitet:



 
Oben Unten