Neue, alte Realität (Teil 1 und 2)

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Papiertiger

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Das jahrzehntelange Stöbern und Einkaufen im Internet hat meine Wahrnehmung völlig verändert. Mir fiel das besonders auf als ich vor einiger Zeit durch die Geschäfte meiner Heimatstadt schlenderte. Kaufhof, oder wie auch immer dieser Laden aktuell firmierte, wirkte plötzlich wie eine Art Virtual-Reality-Erlebnis, so als wäre man in der Simulation eines Online-Kaufhauses, bei dem sich die Waren aus dem Regal nehmen, drehen, anfassen und wieder wegstellen lassen. Wie ungewohnt und aufregend! Faszinierend, was heute alles möglich ist. Da ich mich allerdings auch längst daran gewöhnt hatte, alles mögliche im Netz gratis zu bekommen und ganz bewusst nur noch die Dinge auszusuchen und zu kaufen, die ich wirklich unbedingt haben wollte, waren mir Impulskäufe fremd geworden. Ich verließ die Geschäfte somit ohne etwas gekauft zu haben. Was im echten Leben deutlich erfreulicher ist als im Netz ist der Umgang mit Frauen. In den Chats, die ich besuchte, waren überdurchschnittlich viele feindselige und gestörte Frauen unterwegs. Vom Leben frustriert, durch unrealistische Erwartungen verblendet und von Langeweile, Einsamkeit und nichtssagenden Gesprächen frustriert. Amüsiert dachte ich daran zurück wie oft ich in meiner Stadt bereits wahnsinnig attraktive, junge Frauen in Lack- und Lederminiröcken und High Heels gesehen hatte, in Discos, gegen Mitternacht im Bahnhof auf dem Weg von einer Party zur nächsten. Im Internet gab es solche Szenen natürlich auch überreichlich und zwar als Pornos, gratis oder gegen Geld. Reine Phantasieprodukte und für männliche Wunscherfüllung hergestellt. In der echten Welt war es nicht so plump und primitiv. Es fühlte sich besser an, denn dort waren richtige Menschen ohne Filter und Bildbearbeitung. Dafür, dass ich so manche Merkmale eines Nerds hatte, mochte ich die wirkliche Welt doch bemerkenswert gerne. Ich fühlte mich davon belebter und darin wohler als im digitalen Leben. Ich war mit Science-Fiction aufgewachsen und mochte den Optimismus von Star Trek: The Next Generation, aber mir leuchteten auch die Bedenken ein, die uns öffentlich-rechtliche Medien, Lehrer und Bücher wie 1984 von George Orwell eingetrichtert hatten. Nun also lebten wir in einer Übergangsphase zwischen der alten, analogen Welt und der Zukunft, die entweder Richtung Star Trek oder Mad Max verlief. In dieser Zwischenzeit verschmolzen Internet und echte Welt, mit dem Smartphone war man immer mit der Welt verbunden. Na ja, kürzlich war mein Router kaputt und ich hatte eine Woche keine Verbindung ins Internet zu Hause, aber ja, theoretisch sind wir alle immer online. Das alles hatte Vor- und Nachteile. Von freien Stellen zu erfahren und Bewerbungen abzuschicken war deutlich leichter geworden. Aber war es das wert, wenn ich eh nur Absagen erhielt? Meine Eltern schickten Bewerbungen als Unterlagen auf Papier mit einem Briefträger zu Unternehmen. Sie waren nie arbeitslos, das waren damals nur Menschen, die gar nichts konnten oder nicht arbeiten wollten. Heute ging alles schneller, auch die Absagen. Aber im Grunde war ich dankbar und zufrieden für diese neue Welt, denn als Kumpel unter Tage oder als Helfer auf dem Bau hätte ich nun auch nicht arbeiten wollen. Alles lief ganz okay, bis zu diesem Tag, an dem sich die Welt so drastisch verändern sollte.





Ich war pünktlich zum Vorstellungsgespräch erschienen. Gesucht wurde der Typ Jeff Bezos oder Mark Zuckerberg. Abgeschlossenes Studium Informatik oder Ingenieur mit der Kombination Psychologie oder Marketing. Also jemand, der menschliche Bedürfnisse versteht und Computer und künstliche Intelligenz dazu bringt, dieses Wissen gewinnbringend einzusetzen. Ich wartete nicht lang, schon bald öffnete sich die Tür. Eine junge Frau, vielleicht 22 Jahre alt, betritt den Raum. Mir fallen zuerst ihre weißen Pumps auf, dann ihr hübsches Gesicht und ihr eleganter Hosenanzug. Die schwarzen Haare hat sie streng zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Die Frauen in der Personalvermittlung sind praktisch immer dieser Typ Mensch: Es fühlt sich an wie ein Date, aber es ist klar, dass irgendwo der Haken lauert, sei es in Form einer versteckten Kamera oder die Dame will einen finanziell abzocken. Ich hatte schon viele dieser Gespräche und bin inzwischen klug genug, um mich nicht einlullen zu lassen. Und ja, es ist ganz wichtig nicht zum Frauenverächter zu werden! Es hilft sich vorzustellen, dass jemand aus der eigenen Familie oder dem engen Freundeskreis als Recruiter arbeiten würde. Diese Leute machen nur ihren Job und hübsche Menschen sind dabei eben eindeutig im Vorteil. Einen Kaffee brauchte mir die Dame nicht anbieten, ihr Anblick hatte bereits sämtliche Lebensgeister aktiviert. Immer wieder faszinierend, wie die Anwesenheit eines attraktiven Menschen die Umstehenden beeinflusst und verändert. Ich jedenfalls hat nun richtig gute Laune und wollte mich von meiner besten Seite zeigen als ich in das Büro des Chefs geführt wurde.





Nach dem üblichen Vorgeplänkel, kamen wir schnell zur Sache. „Wir haben ihre Daten von Facebook, Amazon und Google ausgewertet“, sagte der kultiviert und sympathisch wirkende Mann mittleren Alters.


„Ja, darf man das denn?“, fragte ich und ergänzte „Und geht das denn so einfach?“. Wir brachen gleichzeitig in einen Lachanfall aus.


„Mir gefällt ihr Humor“, sagte der Unternehmer. „Vorhin kamen noch die Daten aus China, von TikTok und ihrem Smartphone“.


Ich hörte gespannt zu, was er mir nun erzählen würde.


„Wir alle leben in Filterblasen. Das ist nicht neu. Jeder Mensch hat schon immer eine selektive Wahrnehmung gehabt. Was wir offenbar für immer verloren haben, sind die Fähigkeit und die Bereitschaft mit unterschiedlichen Meinungen umzugehen. Die einen wollen den Klimawandel nicht wahrhaben und lieber in einer Bundesrepublik der 1950er-Jahre leben und sind damit glücklich. Nun, dann soll es so sein, wir erfüllen ihnen diesen Wunsch“. Und so lernte ich Projekt Las Vegas kennen.





Ich setze meine Vegas-Kontaktlinsen ein, steckte meine Ohrhörer in die Hörmuscheln und schluckte meine Pille mit einem halb vollen Glas Wasser herunter. Im Projekt Las Vegas hatten wir die Menschen in verschiedene Gruppen aufgeteilt, im Wesentlichen in zwei: Die Unbelehrbaren und die Vernunftbegabten. Erstere durften ihre Vorliebe für überdimensionierte Autos, riesige Fleischportionen und Reisen ausleben, bei denen es nie darum ging, andere Kulturen kennenzulernen und etwas demütiger, reifer und klüger zu werden, sondern nur darum möglichst billig und viel saufen und fressen zu können und schnell schön braun zu werden – ein Statussymbol des Prekariats. Ausgeklügelte Augmented Reality erfüllte diesen Menschen ihre Phantasien. Die wurden überall nur gelobt, erhielten Zustimmung für ihre Meinungen und lebten in einer ganz einfachen, sehr überschaubaren Welt. Wie im echten Las Vegas bekamen die Spielsüchtigen also gratis Alkohol serviert, angenehme Gerüche und sanften Licht geboten und das preiswerteste Buffet des ganzen Landes. Hauptsache sie wähnten sich in Sicherheit, musste sich keine Sorgen machen und konnten ungehemmt Geld ausgeben. Und der Rest der Welt konnte währenddessen das Leben erwachsener Menschen führen ohne von Suff, Sucht und Prolls abgelenkt zu werden. Brot und Spiele für die, ein ungestörtes Leben für uns. Sie merkten dabei gar nicht, dass ihr Burger auf Erbsenbasis hergestellt und sie gar nicht im Billigflieger in die Türkei flogen, sondern mit einem Wasserstoff-Bus nach Duisburg in einen Aquapark gondelten. Sie waren glücklich, weil sie es nicht besser wussten und nicht über den Tellerrand blicken mussten. Und wie im echten Las Vegas waren es viele ältere Menschen und solche mit geringerer Bildung. Leute, die dringend einen guten Freund gebrauchen könnten, zum Reden und um sie davon abzuhalten, ihr Leben immer noch weiter zu verschlechtern. Aber anders als in den USA bekommt im Projekt Las Vegas jeder eine Chance. So erhalten die Wackelkandidaten gezielt Unterstützung durch Gratisausgaben von Zeitungen mit ausgewogener Berichterstattung. Viele dieser Leute finden es nämlich selbstverständlich, dass sie für ihre eigene Arbeit bezahlt werden, aber Medien haben gefälligst kostenlos zu sein. Also sparen sie am falschen Ende, lassen sich von selbsternannten Experten belehren, was ungefähr so tragisch ist wie die armen Opfer, die auf den Enkeltrick hereinfallen oder auf andere Trickbetrüger. Mit dem Unterschied, dass letzterer oft dement sind, während die anderen einfach nur kindisch und störrisch sind.





Ich gehörte zur anderen Gruppe von Projekt Las Vegas, zu den Vernunftbegabten. Wir hatten unsere Reife und Tauglichkeit für die echte Welt, mit ihren Widersprüchen und komplexen Antworten auf schwierige Fragen, bewiesen. Um uns dabei zu schützen und zu unterstützen durften wir allen Spam der Welt ausschalten. Schwachsinnige Werbung fand nicht statt. Hübsche Frauen, die überhaupt nicht zu uns passten, nahmen wir gar nicht erst wahr. Das ersparte Liebeskummer, Frust und Ablenkung. Der heutige Tag verlief äußerst produktiv. Ich konnte mich ganz auf meine Arbeit konzentrieren. Wie ärgerlich ist es, wenn man ständig aus den Gedanken herausgerissen wird. Wie erfüllend und hilfreich ist es dagegen ganz in einen Flow-Zustand einzutauchen, ganz im Hier und Jetzt zu sein, völlig in einer Sache aufgehen, die Zeit vergessen. Wenn nicht ständig irgendwas blinkt, aufpoppt, summt, dröhnt, nervt und stört. Schon früher konnte man in gewissem Maße erkennen, ob ein Mediennutzer wirklich sein Verhalten kritisch reflektierte und begriffen hatte, was so wichtig ist: Zeit ist ungleich kostbarer als Geld! Und alles, was auf unsere Sinne einströmt, beeinflusst uns. Wenn ich also statt einer festen Gebühr lieber mit der Berieselung durch Werbeanzeigen bezahle, dann verliere ich sowohl kostbare Lebenszeit und werde noch dazu mit Gedanken bombardiert, die sich ins Unbewusste eingraben. Dann kaufe ich eben doch irgendwann das Produkt mit den 1.000 Kalorien und fühle mich schlecht, wenn ich nicht dieses, neue Smartphone habe. Was für eine Energieverschwendung über so einen Unfug auch nur nachzudenken! So dachte ich, grinste und flanierte durch die komplett werbefreie Innenstadt. Es gab kaum noch Geschäfte. Eine Buchhandlung, ein Kaufhaus, keinerlei Fast-Food-Ketten, nur noch sinnvolle und tatsächlich interessante Geschäfte. Was für ein schöner, aber auch langer Tag. Ich gähnte, glücklich, zufrieden und mit einem wohligen Gefühl von Frieden und Harmonie.





Eine abrupte Bremsung weckt mich auf. Ich bin in der Straßenbahn, auf dem Weg nach Hause. Erfrischt von der kleinen Ruhepause schaue ich mich um. Mein Blick fällt auf die Sitzreihe gegenüber. Ein Sonnenstrahl fällt auf eine Frau, die ein altmodisches Hardcoverbuch liest, Qualityland 2 von Marc-Uwe Kling. Sie trägt eine Brille, blaue Jeans und Stiefel von Doc Martens. Ich kann den Blick nicht von ihr abwenden. Sie ist so schön. Diese Welt.





Ende?





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hein

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Hallo Papiertiger,

du solltest etwas mehr mit Absätzen arbeiten. Diese Textblöcke laden nicht gerade zum lesen ein.

LG
hein
 

Papiertiger

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Hallo Hein,

vielen Dank für den Hinweis. Ich habe Absätze an den Stellen gesetzt, die mir sinnvoll vorkamen. Ich achte beim nächsten Text darauf, ob weitere Absätze sinnvoll sind.

Beste Grüße

Papiertiger
 

juliawa

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Hallo Papiertiger,

ich finde deinen Beitrag sehr interessant und würde mich freuen, wenn es noch eine Fortsetzung gäbe !
Ich würde aber die beiden Ausdrücke "Proll" und "die Vernunftbegabten" ändern. Du solltest vielleicht den Unterschied zwischen den beiden Gruppen etwas subtiler zeichnen, weil es sonst irgendwie ein bisschen belehrend rüberkommt. Also ich würde die beiden Gruppen nicht so wertend beschreiben.

Viele Grüße,
juliawa
 

Papiertiger

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Liebe Juliawa,

vielen Dank für Deine Rückmeldung! Das sind wirklich hilfreiche Hinweise mit dem zu belehrenden Ton. Ich möchte als nächstes gerne einen anderen Text schreiben. Wenn ich an der "Realität"-Story weiterschreibe, schwebt mir aktuell vor, damit weiterzumachen, aus der Perspektive eines dieser vermeintlich eindimensionalen und doofen Menschen zu berichten.

Schöne Grüße

Papiertiger
 



 
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