Neue Bahnen (Sonett)

moellerkies

Mitglied
Neue Bahnen


Der Alten Vorbild hat uns stets befeuert;
die Fackel, die sie uns vorangetragen,
beleuchtet unsern Weg, wenn wir es wagen:
das Kunststück, dass sich Kunst aus Kunst erneuert.

So hört man's oft, und doch ist es gelogen:
Zu lange schon stand uns das Alte Pate.
Statt Kunst erschaffen wir nur Plagiate;
ums Schöpferische werden wir betrogen.

So nett Gedichte unsrer Alten klingen,
sie nachzuahmen fördert kein Gelingen;
das sei an dieser Stelle klar beteuert.

Darum befreie dich, zerschlag die Formen
und lache hohn den hergebrachten Normen:
Ich find Sonette unheimlich bescheuert!


Martin Möllerkies (17.05.2013)
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Es ist das gleiche Thema wir in dem Gedicht "Sonette find ich sowas von beschissen" von Robert Gernhardt.

http://www.fulgura.de/sonett/karussel/253.htm

Er gehört jetzt auch schon zu den "Alten".
Interessant die Passage zu den Plagiaten.

Das vorliegende Sonett ist keins, denn es bereitet den Stoff neu auf, ist eine Parodie auf Gernhardts Gedicht, falls Du es schon gekannt hast.

Das Gedicht nimmt die erwähnte Zeile auf und hebt sie zugleich: "Ich find Sonette unheimlich bescheuert!"ir

Der wesentliche Unterschied: Bei Gernhardt ist es Abfall, bei Dir ist es eine Idee, die sich nicht einordnet, also auf eine auf geistigem Niveau verdrehte Idee.

Das Gedicht ist selbstbezüglich, denn es ist ein Sonett.

Es hat etwas von Magrittes "Das ist keine Pfeife".

"Ich finde Sonette bescheuert, und doch ist es ein Sonett, was ich schreibe."

Wir schreiben um und um. Wir verwenden alte Themen, alte Formen, das neue entsteht trotz Alledem.
Und wird zu Altem, wie es Gernhardt ging.
 

moellerkies

Mitglied
Danke für den Kommentar.

Gernhardts Sonett kannte ich natürlich; mein Sonett ist als Reverenz an Gernhardt gedacht und als Versuch des Kunststücks, "dass sich Kunst aus Kunst erneuert".
 

Walther

Mitglied
moin moellerkies,

herzl. willkommen in der lupe. ich finde dein gedicht technisch gelungen und inhaltlich wie sprachlich blaß.

wer das sonett auf die schippe nehmen will (oder das heutige dichten derselben), dem sei mehr originalität und sprachlicher witz angeraten. das genau ist es, was gernhardts sehr gelungenes sonett über das sonetten so auszeichnet.

dein versuch verbleibt im bemühten und ein gutes beispiel dessen, was es karikieren will. schade!

lg w.
 

moellerkies

Mitglied
Moin Walther,

vielen Dank für den Willkommensgruß und für die Kritik.

Es ging mir allerdings nicht darum, das Sonett auf die Schippe zu nehmen. Ich wollte ein Gedicht schreiben, das seine eigene Aussage konterkariert: die Ablehnung der Nachahmung der Alten, die Warnung vor dem Plagiat, die Verhöhnung von Form und Norm und die Schmähung des Sonetts. Und das, meine ich, ist mir eingermaßen gelungen.

Viele Grüße
M.
 

Walther

Mitglied
lb kollege,

"einigermaßen" beschreibt den zustand gut. aber nicht mehr. und darum ginge es im kern, wenn man sich schon rein formal eine derartige mühe gibt.

lg w.
 

HerbertH

Mitglied
Lieber Martin,

erstmal die Bemerkung, dass Walther mir meinen ersten Sonettversuch viel heftiger - und zu recht! - kritisiert hat. Hat mich aber nicht abschrecken können, sondern es hat mich vorangebracht.

Das wünsche ich Dir auch.

Mein erster Eindruck war: Aha, da ist die Form ja gut getroffen, gemischt mit "Aber die Wortwahl ...". Dann der Zwischengedanke "Vielleicht ist ja hier das Konstruktionsprinzip mit These, Antithese und Sentenz gut umgesetzt." Und schließlich: "Hups, was ist denn da am Schluss?"

Selbstbezüglichkeit ist sicher ein guter Gedanke, der schon oft umgesetzt wurde. Ich sag nur "Gödel, Escher, Bach". Aber statt nun Sonette "einfach" zu verdammen, ist für mich ein anderer Umgang mit dem Problem "Alter Wein in alten Schläuchen" wichtig:
Entweder "Neuen Wein in alten Schläuchen", also Neue Inhalte und Sprache in die alten Formen zu bringen, oder "Alter Wein in neuen Schläuchen", also mit teils schon vergessener Sprache in den neuen Formen zu arbeiten. In beiden Fällen profitiert das Gedicht von dem jeweiligen Kontrast. Denn immer "Neuen Wein in neue Schläuche" zu giessen, ist auch nicht zwingender.

Viel Spass weiterhin in der Leselupe und liebe Grüße

Herbert
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Der Schluss hat einen ironischen Charakter, der mir sehr offensichtlich erscheint. Er entlässt uns mit einem Augenzwinkern.

"Ich schreibe ein Sonett, trotz aller Widrigkeiten".

Gernhardts Sonett ist schärfer und verwendet Slang-Sprache.
Hierauf wird im vorliegenden Sonett verzichtet.
Statt Gernots Holzhammer wird ein fein ziseliertes Gebäude errichtet, das sich auf die Schippe nimmt.
Insofern ist es eine Antithese zu Gernhardts Sonett, dass ähnliches, aber auf entgegengesetzte Weise und unter teilweiser Verwendung von Vulgärsprache tut.


Das ganze Sonett heißt: Sonette sind nicht bescheuert.

Ein sprachliches Missverständnis, das ich oft beobachte, ist, dass das Stilmittel der Untertreibung nicht mehr verstanden wird.
"Einigermaßen gelungen" bedeutet eine vorsichtige Selbsteinschätzung für "gelungen".

Interessant ist die spezielle Verwendung der Reime, die im ursprünglichen "klassischen" Sonett wahrscheinlich nicht möglich gewesen wäre.


Man sollte noch bemerken, dass Gernhardts Holzhammer den "Ich"-Charakter des Sonetts beschreibt - die erfunden ist, denke ich, nicht Gernhardt selbst.
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
PS: Ein Gegensatz zu Gernhardts Sonett ist ebenfalls die Verwendung von "uns".
(Die ich übrigens gut finde, weil sie einen zusätzlichen Konflikt bietet. Wer ist "uns"? Schleißt es den Leser ein?
 



 
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