Neue Sachlichkeit

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sandman

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„Hier hatte ich meinen einzigen One-Night-Stand“, sagt sie, während der Aufzug sie nach oben bringt. Alex sagt auch etwas und betrachtet dabei ihre Haare, die mildblond auf das feine Muster ihres schwarzen Mantels fallen. Über ihnen im Display erscheint eine rotbalkige Fünf. Pathetisch langsam öffnen sich die Türen aus gebürstetem Edelstahl. Ein verwaistes Flurlabyrinth empfängt sie mit seiner abgestandenen Stille. Die meisten Hotelgäste sind noch unterwegs. Vor einer Tür, in einem der langen, teppichdurchfluteten Korridore, steckt sie ihre Keycard in den Schlitz. Das Zimmer ist aufgeräumt und sauber. Auf dem Wandbildschirm knistert ein Kaminfeuer. Im Bad glänzt weißädriger Marmor. Sie steckt das Kabel ans iPhone und hängt ihren Mantel auf, der, so viel weiß er bereits, sonst in einer Berliner Altbauwohnung hängt oder in einem Büro, unweit vom Brandenburger Tor. Als er die Wasserflasche aus der Minibar öffnet, zischt und spritzt es auf seine Hose. Gelächter.

Sie reden jetzt wieder über sich selbst, wie vorhin im Restaurant. Er hatte sich dort einen halben Liter Primitivo bestellt, sie einen grünen Tee. Ihre ruhigen, unaufgeregten Sätze sind manchmal von Anglizismen durchflochten. So spricht man wohl, denkt er, wenn man in Amerika als Au-pair gearbeitet hat. An die Fensterbank gelehnt schaut er auf den Innenhof, den rissigen Asphalt und den einsamen Rollwagen, auf dem sich schwarze Müllsäcke stapeln. Ist sie arrogant? Nein, aber sie hat so eine - Metropolattitüde, ein sich Überlegenwähnen. Vielleicht bildet er sich das auch nur ein. Auf jeden Fall mag sie ihr Glitzer-Berlin.

Grit wechselt vom Stuhl auf die rechte Bettseite. Er stellt sein Glas ab und legt sich auf die freie Seite neben ihr. Sie dreht sich zu ihm rüber. Den Kopf auf ihre Hand gestützt blickt sie ihn an. Lächelnd hält er ihren Blick. Ihr cremeweißer Pullover ist etwas hochgerutscht. Weil ihn die Messinglampe am Kopfende blendet, dreht er ihren Schirm auf das Mahagonifurnier, berührt ihre Hand.

Als er später ans Bettende gelehnt auf die Fernbedienung tippt, weicht das Kaminfeuer einem Sportmoderator, der gerade den nächsten Spielbericht ankündigt. Alex betrachtet die Grashalme am Bildrand, wähnt sich so souverän wie der Schiedsrichter vor der ihn anbrandenden Spielertraube, hört ihren Gesang unter der Dusche.

Am nächsten Abend wartet er auf ihren Anruf aus Berlin. Im ICE nach Hamburg hatte er reserviert und sein Einzelplatz war ihm dann auch die erhoffte sichere Insel gewesen, um ungestört seinen Gedanken nachzuhängen. Aus seiner Tasche im Flur ragt das Bahnmagazin. Die blonde Frau auf dem Cover sieht ein bisschen wie Grit aus. Sie wollte um acht anrufen. Gleich zehn vor acht. In einer Stunde würde Lydia nach Hause kommen. Ahnungslos. Die Balkontür öffnend spürt er die Abendsonne auf seinem Gesicht. Ein frischer Kondensstreifen hat den Himmel zerkratzt. Aus dickwandigem Terracotta ragt windzittriger Lavendel über das Balkongeländer. Dahinter die vertrauten Häuserdächer, blassrot, halbverschattet. Lydia wird nichts bemerken. Misstrauische Gedankenspiele sind ihr fremd. Er untersagt sich, unruhig durchs Zimmer zu gehen. Wegen einer bedeutungslosen Hotelnacht, weit weg und bereits verblasst. Fernab ertönt eine Polizeisirene, kommt näher, fällt ins Grundrauschen zurück. Flüchtig mustert er das Zimmer. Der weiße Bücherschrank, ein Geschenk von Lydias Eltern, obendrauf der Silberpokal, den sie beim Tangoturnier gewonnen hat. Unterm Dachfenster der schwarzledernere Zweisitzer, oft sonnengewärmt, immer noch gut aussehend. Davor, opalgrün, ein fast zu großer Kurzflorteppich, mächtig ruhend, in sich selbst versunken. Vom bunten Läufer aus betrachtet auf dem er gerade steht, wie ein fremder Kontinent. Ihm ist, als hätte die Wohlgeortnetheit des Zimmers sich mit ihm verbündet, volle Loyalität versichert, gegen die Berliner Nacht. Auf der Stuhllehne am Esstisch liegt Lydias Bluse, die mit den Eichhörnchen drauf. Ihre klugen Augen starren ihn an, als wüssten sie Bescheid. Drei vor acht. Unten in der Straße stimmen sie ein Lied an, einmal, zweimal, dazwischen junges Lachen. Vorhin im Zug schien ihm alles bedeutsam, leuchtende Wiesenflecken unter sonnendurchbrochenem Gewölk, das südseeklare Blau der Geschwindigkeitsanzeige neben der Tür, selbst das Tattoo auf dem Unterarm der DB-Mitarbeiterin, lakritzschwarze Lettern von chinesischer Geschnitztheit, barg ein Geheimnis. Auf dem Tisch erspäht er das vertrocknete Rosenblatt in der leeren Vase. Wie pathetisch. Er hätte gar nicht zu dem Meeting in Berlin gemusst. Und seine Behauptung, der Chef erwarte, dass man abends noch gemeinsam herumzieht, war eine Lüge. Kehrmann trinkt nichts und war gleich nach dem Meeting im Hotelgym verschwunden. Im Grunde war es nur dieser eine Mausklick auf Grits Profil, abends, vor vier Wochen, als er allein war. Alles danach hatte sich von selbst ergeben. Eigendynamisch. Der Wein gestern hatte ihn unvernünftig gemacht. Sie hatte ihn in in die Falle gelockt. Und wenn schon. Allenfalls hatte er ein Fehltritt begangen, mehr nicht. Trotz der Brüchigkeit seiner Verteidigung versucht er, sich vor sich selbst überzeugt zu geben. Neulich, als sie bei Karin und Tom zum Essen waren, hatten sie noch über Journalisten gesprochen und er hatte deren Oberflächlichkeit moniert. Alles was Politiker, Schauspieler, Promis sich erlauben, würden sie durchgehen lassen. Lügen, Betrügereien, selbst Gewalt. Jeder Kotzbrocken würde früher oder später von ihnen rehabilitiert werden. Typisch, diese Abende, ein paar Gläser Wein und sich dann zum Gesellschaftskritiker aufschwingen, unter gegenseitigen Beipflichtungen schonungslos abrechnen, vereint das spätsamstagliche O tempora, o mores deklamieren, vom seichten moralischen Hügel, gefühlt mindestens Zugspitze. Hinterher sagen, dass es wieder ein schöner Abend war. Man müsste - sein Smartphone leuchtet auf, Grits Nummer. Ob der Zug voll war, fragt sie ihn mit ruhiger Stimme, wie weit er es vom Bahnhof nach Hause hat und ob es in Hamburg auch so warm ist. „Der Zug war ziemlich leer, ich hätte nicht reservieren müssen“, hört er sich etwas zu euphorisch antworten. Sie erzählt vom Unfall vorhin, am Hohenzollernplatz, kurz bevor sie die Kreuzung überfuhr. Er stellt sich ihren Blick aus dem Auto vor, kühl über zertrümmerte Autos und Karosserieteile im Scherbenmeer schweifend. Dann reden sie vom vorigen Abend. Sie lacht, als er ihr Komplimente macht. Ihm gefallen die Details, an die sie sich erinnert. Er ist ganz im Gestern, meint, den Duft ihres Pullovers wahrzunehmen, sieht das azurblaue Hotellogo unter dem Nachthimmel. Sie muss leise sprechen wegen ihrer Mitbewohnerin. Was sie sagt, klingt auch halb geflüstert gut, fast noch besser. Ihm ist klar, dass er ihr eine Aura verleiht, die sie nicht wirklich besitzt, aber das ist egal. Die Welt ist sowieso nur Rohmaterial. „Ich habe erst mal keine Zeit, Ende des Monats kann ich ein Wochenende freischaufeln“, sagt sie, nachdem ihre gemeinsame Reprise des Hotelabends beendet ist.

Als Lydia aufschließt, sitzt er am Notebook und schreibt am Meeting-Protokoll, das er im Zug begonnen hatte. Unter Schlüsselklirren dringt ihr halblautes Hallo aus dem Flur. Er sagt auch Hallo und erhebt sich. Nach kurzer Umarmung fragt sie ihn in ihrer Tasche kramend, wie es in Berlin war und schlägt vor, dass sie beide mal dorthin fahren. Nickend meint er, man könnte vielleicht auf ein Konzert gehen, ihre Mutter besuchen oder einfach nur die eingebildeten Berliner mit Hamburger Arroganz übertrumpfen. „Mein Notebook ist noch im Auto“, sagt sie und er weiß nicht, ob sie ihm zugehört hat. „Wird schon keiner klauen. Ich dusche später. Erst mal brauche ich ein Glas Wein.“
Nachdem er ihr die Weinflasche und ein Glas geholt hat, setzt er einen Topf mit Pastawasser auf und geht dann selbst duschen. Lydia, als sie das Rauschen im Bad vernimmt, setzt sich an sein Notebook, öffnet den Browser und beginnt zu tippen.

Als er aus dem Bad kommt, steht sie in der Küche und würfelt Speck für die Carbonaraspaghetti. Ihm fällt ein, dass er noch die Umsatzzahl ins Protokoll einfügen muss, die er vorhin aus der Firmenwebseite kopiert hat. Die Tastenkombination drückend blickt er aufs Notebookdisplay.

Hello Romeo,
auch ich denke noch an gestern. Das gute an Wasserbetten ist, dass sie nicht quietschen.


Sekundenlang betrachtet er das Gelesene. Ihm wird etwas heiß. Er schließt das Notebook und öffnet es gleich wieder, um die Sätze erneut zu lesen und dann zu löschen. Abermals und diesmal abwesend starrt er auf die Vase mit dem Rosenblatt. Sie muss an seinem Notebook gewesen sein, während er eben im Bad war. Er streicht sich durchs Haar, öffnet den Browser und lässt sich die Liste zuletzt aufgerufener Webseiten anzeigen. Ganz oben steht die Webmailadresse ihres Providers. Also hat sie ihre Nachricht an jemanden gemailt. Warum ist sie in die Zwischenablage? Darüber nachsinnend überkommt ihn ein unangenehmes Gefühl der Lächerlichkeit und wie verhöhnend prangt sich ihm kurz Sherlock Holmes in braunem Karotweed ins Bewusstsein, schirmbemützt mit hochgeklappten Ohrenschützern. Ihm fällt ein, wie oft Lydia ihn immer in fast phobischer Sorge fragt, ob ein Satz von ihr richtig geschrieben, ein Komma richtig gesetzt wurde und dann jedes Mal alles richtig ist. Erneut in die Adressliste schauend findet er die Dudenseite Rechtschreibprüfung online und meint, damit die Antwort gefunden zu haben. Auch diesen kurzen Text hat sie, ihrem Ritual folgend, via Copy & Paste auf der Dudenseite überprüft, bevor sie ihre Email abschickte.

„Kannst du den Tisch decken?“ Ihre Frage reißt ihn aus seinen Gedanken. Er greift nach den Sets und Servietten, holt das Besteck und betritt, sein Weinglas in der Hand, den Balkon. Sie also auch. Von nebenan tönt leise Musik zu ihm herüber. Die Lieblingsoper des Nachbarn. Così fan tutte - jeder tut es.
 

Shallow

Mitglied
Hallo @sandman,

schöne Geschichte über einen Seitensprung. Teilweise wirklich sehr gut erzählt, für meinen Geschmack manchmal etwas zu viele Adjektive, wie:

ihre Haare, die mildblond auf das feine Muster ihres schwarzen Mantels fallen.

Mildblond hat einen gewissen Kitschfaktor. Aus meiner Sicht auch etwas pathetisch:

Im Bad glänzt weißädriger Marmor

Dann etwas unstimmig:

Er untersagt sich, unruhig durchs Zimmer zu gehen. Wegen einer bedeutungslosen Hotelnacht, weit weg und bereits verblasst.

Ich weiß, was du sagen willst, aber so stimmt es m.E. erzählerisch nicht ganz, wenn er aufgeregt hin und her läuft wegen einer bedeutungslosen Hotelnacht.

Am meisten hat mich aber gestört, dass sie eine Liebesnachricht über seinen Laptop an ihren Lover schickt. Das kaufe ich nicht. Das würde niemand machen.

Das Ende ist lasch:

Sie also auch. Von nebenan tönt leise Musik zu ihm herüber. Die Lieblingsoper des Nachbarn. Così fan tutte - jeder tut es.

Trotzdem hat mir die Geschichte gefallen, teilweise mit sehr schönen Formulierungen und gut erzählt. Soweit mein subjektiver Eindruck, gern gelesen,

schönen Gruß

Shallow
 

petrasmiles

Mitglied
Liebe(r) sandman,

ja, an der von Shallow angemerkten Stelle ruppelt es gewaltig - ich denke mal, das war die 'politisch korrekte' Variante, wie er davon erfahren könnte, ohne gleich ein A* zu sein - das muss etwas 'Zufälliges' sein. Die Nachricht selbst finde ich ein bisschen geschmacklos, zumindest 'nicht sehr erwachsen'.

Ich finde aber den Plot so ungewöhnlich, dass es mich nicht wirklich stört, denn es geht ja um die Atmosphäre - Deine Geschichte setzt jede Menge Gedanken in Gang, je nach moralischem Kompass und Beurteilung der Qualität dieser Ehe. Ist es ok, oder nicht? Sind sie sich beide so ähnlich, dass sie quasi zeitgleich 'auf andere Gedanken' kommen? Kann man von Seitensprung sprechen, wenn es eine Wiederholung geben soll, oder etabliert sich da etwas? Werden sie es auf Dauer verheimlichen können und wollen? Ist das der Anfang vom Ende?
All diese Fragen stehen im Raum, und das ist schon jede Menge!

Gerne gelesen!

Liebe Grüße
Petra
 

Sandra Z.

Mitglied
Hallo Sandman,
ich habe deine Geschichte sehr gerne gelesen. Dieser Schreibstil passt perfekt zum Titel und zum Inhalt. Den Anmerkungen von Shallow würde ich mich anschließen, aber ansonsten sehr gelungen!
Darf ich fragen, ob Du ein Mann bist oder eine Frau?
Viele Grüße, Sandra
 

sandman

Mitglied

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo sandman,

die Geschichte ist gut, richtig aus dem Leben, am besten ist der Schluss: Sie essen und tun so, als ob nichts wäre, mit diesem weißen Elefanten im Raum.

ABER:

Die vielen Adjektive stören gewaltig. Oft sind sie unnötig:

abgestandenen Stille
Eine Stille ist abgestanden? Was soll das sein?

weißädriger Marmor
Jeder Marmor hat den für ihn typische Adern.

Lydias Bluse, die mit den Eichhörnchen drauf. Ihre klugen Augen starren ihn an,
Seine klugen Augen starren ihn an.

sonnendurchbrochenem Gewölk, das südseeklare Blau der Geschwindigkeitsanzeige neben der Tür,
Hier auch ein bisschen sehr dick aufgetragen ... südseeklare Blau!

lakritzschwarze Lettern
Schwarz hätte gereicht

Auf dem Tisch erspäht er das vertrocknete Rosenblatt in der leeren Vase.
In einer Vase steht im Sicherheit nicht ein vertrocknetes Rosenblatt allein. Meinst du einen Strauß?

Abermals und diesmal abwesend starrt er auf die Vase mit dem Rosenblatt. Sie muss an seinem Notebook gewesen sein,
Falscher Bezug. Die Vase war nicht am Notebook, sondern Lydia.

Warum ist sie in die Zwischenablage?
in der Zwischenablage

Das gute an Wasserbetten ist, dass sie nicht quietschen.
Lydia hat im Duden nachgesehen, ob alles richtig geschrieben ist? Dann hätte sie aber das Gute schreiben müssen.


Vielleicht überarbeitest du den Text noch einmal, dann wäre er besser!

Gruß DS
 
Hallo sandman,

ich finde die Geschichte super. Ein Fremdgeher entdeckt den Seitensprung seiner Frau, eher zufällig. Ja, alle tun es ... und ausnahmsweise stören mich die vielen Adjektive nicht.

Lydia hat im Duden nachgesehen, :) ob alles richtig geschrieben ist? Dann hätte sie aber das Gute schreiben müssen.
Das fiel mir allerdings auch direkt auf.
:)

Schöne Grüße
SilberneDelfine

Am meisten hat mich aber gestört, dass sie eine Liebesnachricht über seinen Laptop an ihren Lover schickt. Das kaufe ich nicht. Das würde niemand machen.
Da bin ich mir nicht sicher. Ich habe schon Krasseres aus dem wahren Leben gehört.

Schöne Grüße
SilberneDelfine
 
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