Es ist 3 Uhr. Oder vielleicht auch 4 Uhr. Am Morgen des 1. Januar 2012. Silvesternacht also. Ich weiß nicht, wo meine Freundinnen, mit denen ich hergekommen bin, abgeblieben sind. "Haben wir uns gestritten? Oder nur zufällig verloren?" Keine Ahnung. Wie ich hier hergekommen bin und wo ich vor einer Stunde noch war, will mir auch nicht mehr einfallen. Jetzt laufe ich jedenfalls allein die Königsstraße hinauf. Ich bin eigentlich gern allein. Niemand, mit dem man angestrengten Smalltalk betreiben muss, wenn peinliche Gesprächspausen aufkommen, niemand, der mich zwingt, meine Gedanken in sozial akzeptierte Bahnen zu lenken. Der einzige Nachteil daran, allein durch die Stadt zu irren, besteht darin, wie ein Freak auszusehen. Keine Ahnung, wer die Konvention eingeführt hat, das man alles, was man in der Öffentlichkeit tut, mit anderen Menschen machen muss. Wahrscheinlich die Amerikaner. Jetzt bin ich jedenfalls die verrückte, besoffene Braut, die allein durch die Königsstraße torkelt und den Jungs mit ihrer Bierflasche ein besoffenes "Prost!" andeutet. Der Höhepunkt der Böllerei ist bereits überschritten, aber der Rauch hängt immer noch wie Nebel in der Luft. Meine Finger schmerzen von der Kälte. Aber der Alkohol, der durch meinen Körper zirkuliert, lässt mich den Schmerz eher als unbeteiligten Beobachter wahrnehmen. Ab und zu ist ein lauter Knall von verspäteten Böllern zu hören. Wie im Krieg. Ich hätte nichts gegen Krieg. Das wäre wenigstens mal was anderes als dieses ewige Nichts. Ein Junge aus einer Gruppe Möchtegern-Halbstarker grölt mir irgendwas Vulgäres hinterher. Wahrscheinlich verweichlichter BWL-Student, der nach ein paar Bier mit seinen Kumpels gerne mal King Louie spielt. "Oft wäre es besser, ein Junge zu sein", denke ich. "Dann könnte ich ihm jetzt seine Handballvereinsfresse polieren". Die entgegenkommenden Menschen erscheinen mir auf einmal feindselig gesinnt. Jetzt erreiche ich den Schlossplatz. Hier ist es angenehm leer und weit. Das Schloss und der alte Brunnen sind in warmes, gelbes Licht getaucht. "Früher wussten die Leute noch, wie man baut!" denke ich plötzlich mit übertriebener Heftigkeit. "Warum sind alle Gebäude, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden sind, so grotesk hässlich? Ich weiß; 'form follows function'."Und funktionieren muss man heutzutage natürlich",denke ich mit einem Anflug von Selbstmitleid. Ich lege mich flach auf die Wiese und blicke in den Himmel. "Sonne, Mond und Sterne. Mir doch egal. Weil im Grunde mag ich die Erde", denke ich. Ich versuche, einen Lichtpunkt, der von einer Straßenlaterne geworfen wird, anzuvisieren. Es geht nicht. Er wandert sofort in die obere, linke Hälfte meines Gesichtsfelds. Auf einmal bin ich sentimental. "Ich schwöre!" rufe ich, "ich schwöre, dass von jetzt an...". Aber weiter komme ich nicht. Ich kotze in den Brunnen. Jetzt hab ich vergessen, was ich schwören wollte. Wahrscheinlich irgendeine pathetische Kacke. Ich nehme die nächste Bahn und fahre beschämt und mit Kotze an der Jacke, nach Hause.