Neumarkt

Textanja

Mitglied
Samstag, 14 Uhr, Neckarstadt-West. Seitdem das ZDF eine Dokumentation über dieses Mannheimer Stadtviertel ausgestrahlt hatte, war es überregional bekannt: als multikulturelles Arbeiterviertel, sozialer Brennpunkt und hochkriminelles Pflaster. Nach Einbruch der Dunkelheit sah man kaum noch Frauen auf den Straßen.

Um diese Uhrzeit jedoch schon: Da war die junge Frau, die einen weißen Kinderwagen mit dem viel zu großen Kind darin Richtung Spielplatz schob. Die Postbotin mit der Pudelmütze und dem Fahrrad, die gerade sämtliche Klingeln am Haus neben dem Penny-Markt durchprobierte, bis ihr jemand öffnen würde. Die zahnlose Frau unbestimmbaren Alters, die vom Supermarkt über die Straßenbahnschienen zum offenen Bücherregal ging und dort in eines der Fächer schaute. In ihrer großen Plastiktüte: gerade gesammeltes Leergut aus den Mülleimern an der Straßenbahnhaltestelle. Die Linie 2 fuhr von hier nach Feudenheim, einem der gutbürgerlichen Mannheimer Viertel im grünen Osten der Stadt.

Die rund um den Neumarkt stehenden, noch nicht restaurierten Jugendstilhäuser wirkten an diesem grau verhangenen, kalten Märzmittag fast schon bunt. Besondere Farbtupfer: die mit Sonnenblumen bedruckten Plastiktischdecken auf den Tischen vor der spanischen Taverne „Portugal“. Die gelben und rosafarbenen Tibetfähnchen, die an Schnüren rund um den Neumarkt-Kiosk flatterten. Daneben der rotschwarzgelbe Lieferwagen mit dem Schriftzug „Ferkelbraterei“. Die grellen Plakate für die Ü60-Disco mit DJ Werner, die nicht nur am offenen Bücherregal, sondern auch an der Litfasssäule und an der Straßenbahnhaltestelle klebten.



Der Bärtige und der Mann mit Zopf standen am Motorroller, zwischen der Taverne Portugal und ihr, der Beobachterin mit Notizblock, etwa 10 Meter entfernt, und unterhielten sichWorüber, das konnte sie nicht hören. Der Blonde mit Zopf, der Jüngere der beiden Männer, bekleidet mit Jogginghose und Lederjacke, hob nun die Hand und ging Richtung Penny. Der Bärtige zog sein Smartphone aus der Tasche, tippte, schaute sich um, und ging ebenfalls. Nach wenigen Momenten war er wieder da, sie konnte ihn nun genauer betrachten, um die 50, Wollmütze, Daunenweste, er holte eine schwarze Bierdose mit dem Aufdruck 5,0 aus der Tasche, öffnete sie, nahm einen tiefen Schluck und stellte die Dose auf die Bank vor ihm. Seine Jeans durchlöchert, ein Auge zugeschwollen. Mit dem anderen Auge blickte er kurz hinüber zu ihr, der schreibenden Frau auf der Bank. Er schien zu warten, schaute sich um. Nun kam der Zopfträger wieder aus dem Penny-Markt, bog jedoch an der Taverne rechts ab, der Bärtige schaute ihm hinterher und nahm noch einen Schluck aus der Dose.

Eine kleine, untersetzte Frau mit weißem Hund undefinierbarer Rasse näherte sich und grüßte den Bärtigen, blieb ihm stehen. Stark geschminkt, die Haare dunkelrot gefärbt, schwarze Leggings, lachend, den Hund an der Leine zerrend. Dass sie, die Beobachterin, nichts von dem Gesprochenen verstand, hatte nicht nur mit der Entfernung zu tun, sondern auch mit dem Mannheimer Dialekt, den sie auch nach Jahren in dieser Stadt nicht immer versteht und schon gar nicht spricht, obwohl sie ihn sehr sympathisch findet. Uhrzeiten, Ortsnamen, einzelne Worte schienen gewechselt zu werden, scheinbar zusammenhanglos.

Der mit Zopf kam nun wieder von drüben aus dem Penny, in den Händen zwei Caffè Latte aus dem Kühlregal, näherte sich dem Bärtigen und der Frau mit dem Hund. Der Hund riss noch mehr an der Leine und sprang freudig bellend am Bezopften hoch – sein Herrchen? Er gab der Frau einen der Becher und zog eine Bierdose und 3 kleine Jägermeisterflaschen aus der Jackentasche, stellte sie auf die Bank zur Bierdose des Bärtigen. Neckarstadt-West, 15 Uhr. Kaffee, Bier und Schnaps. Der Bezopfte, die Frau und der Bärtige wanden sich einander zu, redeten kurz, schauten dann zu ihr – sie hielt den Atem an, ihr Herz schlug schneller, sie wusste: „Die sprechen über mich!“ „Schreiben Sie ein Tagebuch? „Geschichten aus der Neckarstadt-West? Kommen wir darin vor?“ fragte der einäugige Bärtige. Sie, die Beobachterin, sehr angespannt, lachte unsicher und meinte, „Ja, dachte ich mir, dass ich hier ein bisschen auffalle. Ich schreibe einfach nur so.“ Die drei schauten sich an, der Bärtige, Sprecher der Gruppe, sagte: „Langer Rede kurzer Sinn, am Neumarkt sind nur Alkoholiker.“ Die Frau zuckte mit den Schultern und lächelte entschuldigend. Sie, die Beobachterin, atmete tief durch, die Spannung ließ ein wenig nach, und sie schrieb weiter. Jetzt gehen? Nein, sie fühlte sich immer noch selbst beobachtet und traute sich nicht, aufzustehen.

Der Zopfträger, der Bärtige und die Frau tranken nun den Jägermeister aus den kleinen Flaschen. „3 Uhr und erst vier Dosen Bier heute,“ freute sich der Mützenträger. Der Bezopfte und die Frau stellten ihre Jägermeisterflaschen auf die Bank zurück. „Kommt ihr heute noch mal?“ „Mal sehen!“ Die beiden zogen den Hund Richtung Lutherstraße. Der Bärtige schlenderte sehr langsam Richtung Straßenbahnhaltestelle und blieb dort stehen, wartete.

Ein Mann ohne Zähne, im Trainingsanzug, ging mit einer großen Plastiktüte an ihr, der Beobachterin, vorbei. Nahm die halbleere Flasche Apfelschorle, die auf der Bank neben ihr stand, schüttete die restliche Flüssigkeit auf den Boden, steckte die Flasche in die Tüte und ging hinüber zum Penny-Markt. Neckarstadt-West, 15.10 Uhr.
 



 
Oben Unten