Nicht meine Schuld

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Simmias

Mitglied
Das Schild fiel um – ich war es nicht.
Das Auto weg – ich war es nicht.
Der Kühlschrank leer – ich war es nicht.
Der Regenwald – ich war es nicht.

Der Nachbar weint - nicht meine Schuld.
Der Bus zu spät - nicht meine Schuld.
Die Küche klebt, der Boden bebt,
Der Kanzler lügt - nicht meine Schuld.

Ich war’s doch nicht, das Attentat!
Ich wollt’s doch nicht, den Völkermord.
Ich lese doch, ich zahle doch,
Ich bin’s doch nicht, nicht meine Schuld!

Die Zeitung schreibt - ich war es nicht.
Ein Kind vermisst - ich war es nicht.
Der Wald ist weg, ein Haus steht da,
ein Vogel stirbt - das war ich nicht.

Und Obdachlos! - Nicht meine Schuld.
In Afrika. - Nicht mein Problem.
Der Springer springt, die Dame fällt,
der König sagt, nicht seine Schuld.
 

jon

Mitglied
Teammitglied
Die Schach-Metapher am Ende passt gar nicht: Der König kann im Schach tatsächlich (im Verhältnis zu Springer und Dame vor allem) nicht viel ausrichten.

Auch andere Dinge sind nicht alle glücklich gewählt.Es wäre viiiel aussagekräftiger, wenn du von den "echten ich war es nicht" (Schild, Auto, Küche klebt) konsequent(!) zu den „scheinbaren nicht meine Schuld" gehst. Auch die Verhältnismäßigkeit hinkt: Dass der Normalbürger durch seine Einkaufsgewohnheiten Einfluss auf den Regenwaldverlust hat – ok. Aber welche Schuld hat er an irgendeinem beliebigen Attentat? Welche an "Kind vermisst"?
 

Simmias

Mitglied
Das Schild fiel um – ich war es nicht.
Das Auto weg – ich war es nicht.
Der Kühlschrank leer – ich war es nicht.
Der Regenwald – ich war es nicht.

Der Nachbar weint - nicht meine Schuld.
Der Bus zu spät - nicht meine Schuld.
Die Küche klebt, der Boden bebt,
Der Kanzler lügt - nicht meine Schuld.

Ich war’s doch nicht, das Attentat!
Ich wollt’s doch nicht, den Völkermord.
Ich lese doch, ich zahle doch,
Ich bin’s doch nicht, nicht meine Schuld!

Die Zeitung schreibt - ich war es nicht.
Ein Kind vermisst - ich war es nicht.
Der Wald ist weg, ein Haus steht da,
ein Vogel stirbt - das war ich nicht.

Und Obdachlos! - Nicht meine Schuld.
In Afrika. - Nicht mein Problem.
Der Springer springt, die Dame fällt,
der König sagt, nicht seine Schuld.
 

Simmias

Mitglied
Schach Metapher

Die Schach-Metapher am Ende passt gar nicht: Der König kann im Schach tatsächlich (im Verhältnis zu Springer und Dame vor allem) nicht viel ausrichten.
Der König hat, wie du richtigst sagst, keinerlei Schuld an dem Verlust der Dame. Das sagt er ja auch.

Das lyrische Ich hat allerdings auch an keinem der genannten Vorfälle Schuld. Es gibt keine "scheinbare nicht-meine-Schuld." Er kann bei allem nichts dafür. Regenwald... Ernsthaft?

Trotzdem muss man ja nicht betonen, dass es nicht die eigene Schuld ist, sondern was dagegen tun, z.B. das Schild wieder aufstellen, die Küche sauber machen etc... Was hat der König denn davon, dass er sagt es sei nicht seine Schuld. Er könnte sagen, "ach, verdammt", oder "Jungs, jetzt gehts nochmal richtig los", oder "okay, alle konzentrieren jetzt!" Aber er sagt (wobei er ja auch Recht hat): "Nicht meine Schuld."

Das man betont, dass man nichts dafür kann, zeigt nur das schlechte Gewissen, daran, dass man nichts in ZUkunft ändert.
 
[Voranstehendes war ein unlektorierter Kommentar und ich bitte um Löschung desselben und /oder Ersetzung durch diese Version:}

Hallo Simmias,

ich möchte drei Punkte, die mir als Leser auf fallen, aufgreifen.

1. Diese beiden Strophen gefallen mir:

Ich war’s doch nicht, das Attentat!
Ich wollt’s doch nicht, den Völkermord.
Ich lese doch, ich zahle doch,
Ich bin’s doch nicht, nicht meine Schuld!

Die Zeitung schreibt - ich war es nicht.
Ein Kind vermisst - ich war es nicht.
Der Wald ist weg, ein Haus steht da,
ein Vogel stirbt - das war ich nicht.
Die Struktur des Gedichts ist klimax-gebunden:
Das Kind müsste mit dem Vogel Platz tauschen und der Vogel mit dem Wald. Also genau wie bei Deiner Steigerung hier: "Attentat" - " Völkermord". Probleme des dimensionalen Klimax. ;-)

2. Die Schach-Metapher:

ich finde sie im Prinzip, oder besser vielleicht: aus dem Gedicht heraus genommen, gut.
Wir wissen, dass der König im Schach eine sehr schwache Figur ist und wissen auch, dass er - sozusagen durch seine bloße Existenz "machtet" (@ Jon: passive Dominanz?).
Sie passt aber - ich denke wie Jon - nicht in diesen Text.

Um Dich noch etwas mehr zu verwirren:
Ich war’s doch nicht, das Attentat!
3. Logisch: Nein, "ich" war es nicht, weil das Attentat ein Ereignis ist, das lyr-I-sche Ich dagegen eine Person, also es begeht eine Tat, selbst wenn Atten.
Benefit of doubt: Ja, auch Wesensunterscheidungen -täusche sind lyrischerseits in Ordnung. Sie müsen dann aber auch bewusst eingesetzt sein. Im konkreten Fall hast Du schlicht Ugs verwendet Ugs =Umgangs ist vollkommen in Ordnung aber für diesen Text im Speziellen ungeeignet. Außer - um exemplarich auch mal in diesen Jargon zu fallen - außer also, Du hättest es (die Ugs ;-) ) als Stillmittel, d.h. Effekt-gebunden, (verwandt)*. Was ich bezweifele.
Aber: diese Stilbrüchigkeit wirkt eher bei Gedichten dieser Art:
anyone lived in a pretty how town house
.
In dieser Zeile steckt noch eine 2. aber gewollte Assoziations-Sabotage, und zwar weil "pretty how" grammatisch einen Nebensatz invoziert (wie zum Beispiel: "Pretty how the sun sets rose-fingered.), hier aber - und das ist das Umgangsprachliche, als ironische Demaskierung der gesamten (sub) urbs-Idylle absichtlich benutzt.
Zurück zum Anfang der Zeile: "anyone" substituiert "everyone". "Anyone" (= jeder X-Beliebige) ist aber negativ semantisch negativ konnotiert ,weshalb es übrigens auch in negierenden Aussagen gebraucht wird. In der Ugs ist das aber nicht (mehr) so, weil das Any-Komposita die Some (und Every-) Konstruktionen zunehmend ersetzt haben. indem Cummings im vorliegenden Kontext "every- /some- durch "any-" ersetzt, sabotiert er durch sprachliche Nuancierung die beshriebene Vorstadtidylle. Dies nur als Beispiel für eine nachvollziehbare Verwendung von Umgangssprache.

4. Dieses:
Jon schrieb:
Aber welche Schuld hat er an irgendeinem beliebigen Attentat? Welche an "Kind vermisst"?
Hier denke ich repräsentiert das scheinbare LyrIch die gesamte Gesellschaft, was ebenfalls statthaft wäre, wenn und nur dann das "ich" diese

liebe Grüße
serge




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* die Umgangsprache lsst "offensichtilche" Wörter weg: Sie sind im Kopf des Gegenüber schon assoziativ geweckt und vornaden, will heißen: der eliptische Satz wird automatisch ergänzt. Oft verwendet von beispielweise Ee Cummings (wie hier: "anyone lived in a pretty how town house" Hier passiert - bewusst so - schwammige Depersonalier
 

jon

Mitglied
Teammitglied
… dann habe ich die Intension falsch verstanden. Ich nahm an, du zielst auf die Mitverantwortung ab. Juristische oder „kurz-kausale“ Schuld besteht wohl in keinen Fall, klar. Der König im Schach jedoch kann sozusagen nichts tun, um „das Los“ der anderen Figuren zu ändern, sein einziger "Fehler" ist, da zu sein (und beschützt werden müssen) – LyrIch (als Teil der Gesellschaft) kann allerdings schon etwas tun, um zum Erhalt der Regenwälder beizutragen (das mag je nach Position sehr wenig oder sehr viel sein, aber LyrIch ist nicht nicht handlungsunfähig).
 



 
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