Nicht Mensch nicht Tier: 3. Weiterhin unhaltbar

Eine Reihe von Tagen habe ich nichts geschrieben. Das ist mir nur anfangs leicht gefallen, und jetzt ist es nicht mehr möglich, das spüre ich deutlich.
Nicht, dass sich irgendetwas Außergewöhnliches ereignet hätte. Es war auch heute nur wieder einer von diesen Abenden, an denen wir nach dem Essen noch einige Zeit im Kasino zusammensitzen. Einzelne Bemerkungen über den Unterricht, die Dozenten, die Klausuren – das steigt nur auf wie Blasen an die Oberfläche eines Tümpels. Der Tag sinkt auf den schlammigen Grund zu den anderen vergeblich gelebten Tagen. Der Wasserspiegel – der Abend – ist trübe. Sie machen faule Witze. Manchmal ist es hier schwer, nicht arrogant zu sein.
Heinz saß einige Tische weiter allein bei einem Bier. Ich redete vor allem mit Paetzold. Wenn ich selbst nicht sprach und ihm scheinbar gerade intensiv zuhörte, fiel mein Blick ab und zu wie zufällig auf ihn. Sobald ich mich dabei von ihm ertappt fühlte, zog ich meinen Blick zurück und antwortete Paetzold rasch etwas auf seine letzte Bemerkung. Heinz schien mich nicht oft auf diese Weise überführen zu können, denn er sah starr geradeaus und vermied es meistens, zu mir herüberzublicken. Überführen? Ja, ich bleibe bei diesem Wort, denn ich glaube, ich stand die ganze Zeit im Zentrum seiner Aufmerksamkeit. Woraus ich das geschlossen habe? Daraus dass er seinerseits etwas zu viel Vorsicht aufwandte, wenn er mich gelegentlich kontrollierte. Er lugte geradezu herüber. Wir beäugten uns also. Wieder einmal.
Dann kam der Umschwung. Heise nahm an unserem Tisch Platz. Er führt immer gute Laune mit sich in seinem Gepäck, das kaum aus Sorgen und Lasten zu bestehen scheint. Er ist nicht nur hübsch, er ist auch tatsächlich und nicht nur vorgeblich witzig – und er hat sogar Geschmack. Ich sehe ihn gern an, ich höre ihm gern zu, doch er beunruhigt mich nicht. Woran mag das liegen? Die Erklärung ist sehr einfach: Nie würde er sich meinetwegen beunruhigen.
Die Stimmung wurde ungezwungener. Heise saß zwischen mir und Heinz. Mein Blickfeld war eingeengt, und aus diesem Schutz heraus konnte ich jetzt leichter beobachten. Ich sah, wie auch Heinz sich belebte, unbefangener wurde. Dann versuchte er sogar, unserem Gespräch zu folgen. Er beugte sich ein wenig vor. Endlich hatte er genug von dieser Abendunterhaltung und brach abrupt auf. Dabei stieß er recht heftig mit dem Kopf gegen die über dem Tisch hängende Lampe. Er rieb sich den Schädel, während er zum Ausgang ging. Ich sah ihn unverwandt an. Als er an uns vorbeiging, wollte er nur noch einmal kurz herübersehen und dabei begriff er, dass ich sein Missgeschick mitangesehen hatte.
„O weh, o weh“, jammerte er und rieb sich erneut und jetzt komisch übertreibend die geprellte Stelle, „den Kopf brauch ich doch noch.“ Er lachte mich jetzt an und hatte auf einmal große, lustige Augen. Sie sind hellblau, ich stellte es erst bei dieser Gelegenheit fest. Abgesehen von den Augen kam er mir doch wieder schüchtern vor. Ich brachte es auch diesmal nicht über mich, auf ihn einzugehen und etwas zu antworten. Ich lächelte nur, immerhin.

Da habe ich etwas mitangesehen – nur fehlt mir der Anfang der Geschichte ebenso wie ihre denkbare Fortsetzung.
Es war heute am Vormittag, am Ende der großen Pause. Die meisten von uns waren schon in den Hörsaal zurückgekommen, und auch ich saß bereits wieder an meinem Platz, vorne in der zweiten Reihe. Viele standen noch herum, redeten miteinander oder ödeten sich an. Ich wünschte mich wieder einmal fort und sah zum Fenster hinaus, auf die immergleichen Büsche. Besonders lag mir daran, Weber nicht ansehen zu müssen. Er tat sich in einer Dreiergruppe wichtig, sie standen vor mir auf dem Podium.
Auf einmal kann ich Webers Stimme nicht mehr überhören. Er ruft laut - und es schallt über unsere Köpfe hinweg – und zeigt mit dem Finger nach hinten, irgendwo ans andere Ende des Saals.
„Was ist denn das da drüben“, schreit er, „das sind wohl unzüchtige oder unsittliche Anträge – sehe ich das richtig, ihr zwei?!“
Wie die meisten Köpfe dreht sich auch meiner in die Richtung der zu vermutenden Sensation. Es gibt nichts oder nicht mehr viel zu sehen. Heinz hat einen jungen Mann neben sich, von dem ich nicht einmal den Namen weiß. Sie müssen sehr nah beieinander gestanden haben. Gerade sind sie dabei, eilig etwas Abstand voneinander zu gewinnen, wobei sie den Eindruck von Hast demonstrativ zu vermeiden suchen. Heinz schaut jedoch anschließend verlegen drein. Und er schweigt jetzt, er, der Weber bei Tisch sonst selten eine Antwort schuldig bleibt. Er scheint zu grübeln.
Unmittelbar darauf kam der Dozent herein. Alle, die noch standen, begaben sich auf ihre Plätze, und das Verwaltungszwangsverfahren schlug uns für weitere neunzig Minuten in seinen Bann.
Der andere ist recht ansehnlich, ein schlanker, dunkler Typ, süddeutsch aussehend.

Man sieht die beiden nicht mehr zusammen. Es geht mich im Übrigen auch nichts an. Mögen sie tun, was ihnen angenehm ist.
Infolge des kleinen Zwischenfalls bin ich selbst vielleicht noch vorsichtiger geworden. Diesmal ist es keine Haltung, die ich mit Absicht einnehme. Wenn es tatsächlich so ist, ärgert es mich sogar ein wenig. Ich bin doch nicht wirklich abhängig vom Meinen und Reden der vielen anderen? Natürlich nicht! Zuerst habe ich mir meine vermehrte Zurückhaltung nicht eingestehen wollen. Vermeide ich es wirklich neuerdings, zu ihm hinüberzusehen und mich auf diese Weise mit ihm zu verständigen? Ja, ich vermeide es …
Ich bin mir selbst dadurch auf die Schliche gekommen, dass ich mir, plötzlicher Eingebung folgend, die Frage vorgelegt habe, welche Schlüsse ich denn aus diesem Vorfall, der Andeutung Webers also, ziehen soll, und zwar nicht in Bezug auf mein Handeln – ich handele ja ohnehin nicht, nein, nur für meine Einschätzung seiner Person und seiner Motive. Und ich wollte es nicht, nämlich Schlüsse ziehen. Mir schien, ich stünde am oberen Rand eines sehr abschüssigen Geländes. Kurz, ich habe mich geweigert, darüber nachzudenken, was es bedeuten kann, wenn ein junger Ehemann einem anderen jungen Mann Avancen macht oder sich von ihm machen lässt. Ich weigere mich auch jetzt.
Und gleichzeitig lese ich weiter im Kinsey-Report? Ja, so ist es. Gerade in der Statistik verschwindet der beunruhigende Einzelfall, er ist nur noch Bestandteil einer allumfassenden Normalität. Nichts könnte beruhigender sein. Ich werde mir doch diese Lektüre nicht versagen wollen.
Es fiel mir also zum Beispiel heute ausgesprochen leicht, jede Konzentration auf Heinz zu vermeiden. Doch so einfach komme ich nicht davon. Er hat sehr bald registriert, dass ich ihm jetzt wie mit Wissen und Willen ausweiche. Mag sein, dass ihm das nicht passt oder er noch immer neugierig ist. Immer dann, wenn mein Blick ihn heute zufällig und ungewollt streifte, gewahrte ich jedenfalls, dass er genau darauf gewartet hatte. Ich ließ mich aber nicht weiter davon beeindrucken und wandte mich jeweils sofort ab. Mag er denken, was er will. Nein, auch falsch – es ist mir keineswegs gleichgültig, wie er meine Reserve jetzt einschätzt. Alles an dieser Geschichte ist verkehrt, ich weiß es schon längst.
Am Nachmittag hat er mich dann doch überlistet. Es war beim Kaffeetrinken. Er hatte seinen üblichen Platz verlassen, um nicht allein an einem Tisch sitzen zu müssen, nehme ich an. Weber und die anderen waren noch nicht da. Als einer von ihnen verspätet eintraf und ihn fragte, warum er den Platz gewechselt habe, sagte er scherzhaft, in der für ihn typischen Mischung aus gespielter und echter Naivität: „Ich hab jetzt einen andern Freund.“ Ich schmunzelte innerlich und nahm rasch einen Schluck aus der Kaffeetasse. Als ich sie absetzte und dann den Kopf wieder hob, blickte ich kurz vorsichtig hinüber. Und da sah ich, wie er mich beobachtete, wie er offensichtlich prüfte, ob und wie jene scherzhafte Bemerkung auf mich gewirkt hatte. Ich schlug die Augen nur kurz auf. Es genügte ihm schon.

Komme mir selbst in dieser ganzen Geschichte kläglich vor, einfach nur kläglich. Auch noch Selbstmitleid, der Herr? Ekelhaft.
Man wird mir zugute halten müssen – ich halte es mir also selbst zugute -, dass ich nicht einmal weiß, wie ich mich Heinz gegenüber zu verhalten hätte, wenn ich vernünftig sein wollte. Zwar gehe ich davon aus, dass er gegenüber anderen Männern erotisch reaktionsfähig ist, ich rechne auch damit, dass ein Cleverer bei ihm manches erreichen könnte, dass eine, wahrscheinlich nur passagere, harmonische sexuelle Beziehung zwischen ihm und einem anderen Mann im Bereich des Möglichen liegt – andererseits hätte ich zu berücksichtigen, wenn ich vernünftig sein wollte, dass er verheiratet und allem Anschein nach allgemein in kleinbürgerlichem Denken befangen ist. Ich müsste also damit rechnen, dass Heinz in eine schwere Krise gestürzt werden könnte, wenn man sich seine mehr oder weniger unbewussten Neigungen geschickt zunutze machte. Sind sie denn tatsächlich unbewusst? Gerade daran zweifele ich neuerdings. Doch besitze ich nicht genügend Erfahrung, nicht genügend Wissen über ihn, um eine Entscheidung zugunsten dieser oder jener Haltung treffen zu können. Ich bin mir ja nicht einmal sicher, ob das Bild, das ich mir von ihm mache, einigermaßen realistisch ist.
So bleibt alles beim Alten. Mein Verhalten basiert nicht auf einer vernünftigen Entscheidung, es wird von subjektiven Zwängen bestimmt. Ich will gar nicht versuchen, meine Fehlhaltung zu rationalisieren. Es sind narzisstische Ängste vor dem einfachsten realen Kontakt und eine durch dieses trostlose Milieu hier verstärkte Neigung zu ihm hin, die bewirken, dass ich geradezu süchtig geworden bin, Heinz zu beobachten, doch nichts tun kann, ihm auch nur einen Millimeter näher zu kommen.
Und er ist immer befremdeter über diese merkwürdige Mischung von Anzeichen des Interesses und der Lähmung. Er ist unsicher geworden, wie er sich mir gegenüber verhalten soll. Mal versucht er, meine strenge, nur nicht recht glaubwürdige Reserviertheit zu imitieren und mich nicht mehr zu beachten. Dann fängt er wieder an, mich insgeheim zu beobachten. Schließlich ist er froh, wenn sich eine Gelegenheit ergibt, doch noch einen Versuch zu machen, mit mir endlich ins Reine zu kommen.

Mir ist noch ein Gedanke gekommen: Wie soll ich mir seine Welt in Darmstadt vorstellen? Warum nicht einfach recht harmonisch? Ich kann doch nicht davon ausgehen, seine Frau sei durchaus unsympathisch und verständnislos und seiner unwert, sein Verhältnis zu seinen Eltern stark gestört und er selbst mit Arbeit und Kollegen tief unzufrieden … Muss ich nicht aus seinem ganzen ausgeglichenen Wesen und seiner geringen Aggressivität auf die harmonisch-friedvolle Welt kleiner Leute schließen? Und dürfte ich dann in diese geordnete, gesicherte Welt einbrechen? Die Frage stellen, heißt, sie verneinen.

Zunehmender nächtlicher Rabatz. Man tobt sich aus. Einerseits spielen sie die Freigelassenen, andererseits haben sie Heimweh und Angst vor Klausuren. Stelle ich all das in Rechnung, so liegt hinter uns eine beinahe normale Nacht. Zwischen vier und fünf näherte sich die letzte Gruppe fröhlicher Rheinländer unter lautem Absingen von Wanderliedern und anderen Volksweisen dem Hochhaus. Ich hörte sie schon, als sie noch einen halben Kilometer entfernt waren. Im Hause nahmen diese armen Schweine dann den Lift, hielten auf jeder Etage und sangen jeweils dröhnend eine Strophe von „Der Steiger kömmt“.
Beim Frühstück sprach man nur darüber. Paetzold und Heise waren mit mir einig – wir waren wütend und unausgeschlafen. Die Schuldigen fehlten im Kasino, sie sollten sich erst in letzter Minute und ohne gefrühstückt zu haben in die beiden Hörsäle schleppen. Auch an den anderen Tischen war die unruhige Nacht das einzige Thema. Ich hörte mit, was die Frankfurter und Heinz dazu sagten. Heinz hat heute Nacht versucht, die Störer aus der Nähe zu vertreiben. Er ist dabei in eine kleine Schlägerei verwickelt worden. Weber war sehr stolz auf ihn, klopfte ihm ausgiebig auf die Schulter und sagte: „Brav, mein Lieber, brav!“
Weber soll dann mit zwei anderen zu Doktor Friedrichsen gegangen sein. Es ist nur nichts Gescheites dabei herausgekommen. Die gesamte Belegschaft wurde verpflichtet, am Nachmittag in den Hörsälen für die kommenden Klausuren zu lernen, statt auf den Zimmern oder wo es uns sonst gefällt. Die Dozenten wollten uns zeitweise kontrollieren. Genau das geschah dann aber nicht. Sie blieben fern und zwangsläufig breitete Unruhe sich immer mehr aus. Über die Zusammengepferchten regierte bald wieder der rheinische Frohsinn.
Einer tat sich dabei besonders hervor, der junge Biermann aus Düsseldorf. Noch nie habe ich mich von einem wirklich gut aussehenden Mann dermaßen abgestoßen gefühlt. Dass er glatt und hübsch ist, wird in seiner Wirkung durch scharfes Reden, aufdringliches Benehmen und große Reizbarkeit beinahe ins Gegenteil verkehrt. Er ist eine bittere Pille mit zuckersüßem Überzug. Schon wiederholt hat er sich um meine Anerkennung bemüht, mich ab und zu angesprochen, meine Meinung hören wollen, doch ich habe immer nur kühl und knapp geantwortet. Ich habe seine Eitelkeit gewittert, und ich scheine mich nicht getäuscht zu haben. Er trägt mir schon nach, dass ich mich nicht von ihm vereinnahmen lasse. Übrigens ist er intelligent und bekommt gute Noten. Ich habe ihn hier gar nicht erwähnen wollen, doch nun muss ich es tun. Er krähte heute Nachmittag wie ein Hahn im Stimmbruch, überschrie alle, feuerte zum Blödsinnmachen an. Lernen war unmöglich.
Heinz ging zu ihm und verlangte, vor Erregung stotternd, Ruhe. Er könne sich auf nichts konzentrieren. Biermann fuchtelte ihm mit seinen Papieren vor dem Gesicht herum und äffte ihn so lange nach, bis Heinz zu lachen anfing. So hatte Biermann ihn förmlich umgedreht und auf seine Seite gezogen. Heinz zog danach grimassierend und blökend durch die Reihen. Mit ihm kann man alles machen. Dieses Lämmchen folgt jedem. Ich sah die Szene voller Unwillen mit an und starrte dann wieder in das Heft vor mir.
Bald danach bastelte Biermann Papierflieger und ließ sie im Sturzflug auf die letzten noch Arbeitenden los. Als einer davon bei mir landete, zerriss ich ihn. Das war kindisch, doch da ich kein Wort sagte, machte mein kalter Zorn sogar Eindruck, glaube ich. Biermann und die anderen ließen mich von nun an in Ruhe. Ich blieb noch einige Minuten und verließ dann den Saal vorzeitig mit allen Büchern und Heften. Heinz verfolgte interessiert meinen Abgang, ich sah es im Vorübergehen. Im Kasino wartete ich die Kaffeezeit ab, und nach ihr fuhr ich entgegen der Anordnung hinauf auf meine Etage.
Zwei Stunden intensiv gelernt und dann wieder hinunter zum Abendbrot. Heinz schaute öfter neugierig herüber. Die Spannung und das Unerklärtsein zwischen uns sind größer als je. Der Ablauf des Tages kam mir auf einmal nebensächlich, am Kern der Geschichte vorbeigehend vor. Am liebsten wäre ich aufgestanden, zu ihm gegangen und hätte bloß gesagt: Du, ich bin schwul und ich mag dich. Du bist sehr, sehr sympathisch. Ich will nichts von dir, du sollst nur endlich wissen, woran du mit mir bist.

Sonntagmorgen. Sunday, Bloody Sunday. Ich bin jetzt in Berlin. Paetzold hat mich gestern wieder mitgenommen. Ich sitze gern bei ihm im Auto. Sein munteres Reden, seine praktische, grundsolide Spießbürgerlichkeit sind so wohltuend.
Ich hoffte, auch in Berlin selbst gelassener als in L. zu sein, die Eindrücke von dort in den Hintergrund drängen zu können. Es gelang mir nur zeitweise. Gestern Abend zunächst anregendes Gespräch mit Rufus in der Rio-Bar. Dann zeigte A. sich erstmals seit einem halben Jahr wieder. Er kam allein, stand herum, jungmännlich schön und charmant verdüstert, wie meistens. Nur weil er beides ist, zieht er mich an. Seine spezielle Art von Attraktivität garantiert mir zugleich, dass ich zurückgewiesen werde. Das hatten wir alles schon mehrfach … Er sah auch diesmal über mich hinweg.
Eine Stunde später hatte er eine ganze Clique um sich. Nun war ich allein, Rufus war schon nach Hause gefahren. A. bekam Oberwasser, denn sein neuer Lover war auch gekommen. Dann kam etwas Unerwartetes in Gang. Der Lover musterte mich freundlich, mehr als einmal. A. war gezwungen, mich doch noch zur Kenntnis zu nehmen. Sie sprachen wohl über mich, es schien da Differenzen zwischen ihnen zu geben, sie zeichneten sich auf ihren jetzt unfrohen Gesichtern ab.
Was versprach ich mir davon, die Blicke des Lovers zu erwidern? Ich hätte mich nicht wirklich für ihn erwärmen können. Plötzlich versuchte mich einer aus A.’s Clique zu provozieren: Ob ich den Anruf aus Hollywood schon bekommen hätte? Ich reagierte nicht, da gab er es erst einmal auf. Später fing er wieder an, mich zu hänseln. Bei einem kleinen Wortwechsel zog ich den Kürzeren – auf diesem Niveau bin ich niemals genügend schlagfertig. Ich ging weg. A. lachte höhnisch, sein Lover schaute mich dabei noch immer freundlich an.
Ich stand noch nicht lange am neuen Platz, da kam der Lover mir allein hinterher und postierte sich neben mir. Ich übersah ihn, das heißt, ich tat so. Bald kam auch A. hinzu und umarmte einen in der Nähe stehenden Bekannten in übertriebener Weise. Der andere wurde verlegen, A. alberte noch mehr mit ihm herum und zog ihn in unsere Nähe. Scheinbar unabsichtlich stieß er dabei im Gedränge den Lover und mich immer wieder an. Klar, dass er nur provozieren wollte - ich ließ die drei stehen. Dann hatten sie, wie ich von weitem sah, eine lange Aussprache. Am Ende ging der Lover verärgert allein fort.

Das Lämmchen sucht weiterhin Anschluss. Es hat sich tatsächlich ein wenig mit diesem Biermann angefreundet. Mit jedem anderen – meinetwegen. Nur nicht mit Biermann.
Hier in L. ist jetzt Kirmes. Ich habe im Vorbeigehen einen Blick darauf geworfen: viele Fahrgeschäfte, zwei Bierzelte. Die Familien der Hüttenarbeiter gehen geschlossen hin. Es gibt Schlangen vor den Toilettenhäuschen.
Gestern beim Abendbrot sah ich, wie Biermann am Tisch gegenüber auftauchte. Er lud Heinz ein, mit ihm auf die Kirmes zu gehen, noch diesen Abend. Heinz sagte gleich zu. Weber machte eine wegwerfende Handbewegung.
Ich weiß nicht, wann sie aufgebrochen sind, dafür habe ich sie zurückkommen hören. Es war halb eins. Mein Fenster war gekippt, und mein Schlaf muss sehr leicht gewesen sein, denn ich war auf einmal hellwach und verließ das Bett auf ein Geräusch hin. Ich glaubte, ein dauerndes Klirren von Ketten zu hören. Es kam vom Parkplatz herauf. Ich machte kein Licht und stellte mich ans Fenster. Die beiden kamen also zu Fuß vom Festplatz zurück und standen gerade unter einer Laterne. Biermann hob eine Absperrkette immer wieder an und ließ sie dann gegen den Laternenpfahl knallen. Dabei hielt er Heinz gestikulierend einen Vortrag. Heinz hörte zu, schien Einzelnes zu wiederholen, wobei er lachte. Jedoch rührte er sich kaum, sondern stand ziemlich steif da, so kam es mir vor. Nach drei, vier Minuten gingen sie weiter und auf das Hochhaus zu. Ich glaubte nachher, den Lift aufwärts fahren zu hören. Er schien zweimal kurz hintereinander anzuhalten. Erleichtert ging ich wieder ins Bett.

Beck hat die Klausuren verteilen lassen, er ist nicht selbst nach L. gekommen. Ungenügend stand unter meiner, wie zu erwarten. Sonst nichts, keine Stellungnahme zu meinen Vorwürfen. Das ist es wohl schon gewesen. Irgendwann wächst über allem Gras. Niemand hat mich hier jetzt noch einmal auf meinen Ein-Mann-Streik angesprochen. Ich war für sie nur kurze Zeit interessant. Ist mir auch lieber so.
Biermann und Heinz wiederholten ihren Kirmesbesuch, schon einen Abend später. Tagsüber hatte Heinz bei Tisch mehrmals vom Festzelt und der Bombenstimmung dort gesprochen. In den Pausen war Biermann meistens um ihn gewesen. Oder eher umgekehrt? Biermann geschäftig, redselig, glänzend vor Freude über die eigene Bedeutsamkeit, Heinz in der Rolle eines Mondes, auf den etwas Abglanz fällt und der den Riesenplaneten zuverlässig umkreist. Dabei ist Biermann sogar etwas kleiner von Wuchs. Doch hält er sich unzweifelhaft straffer. Er kann gekleidet sein, wie er will, er sieht immer tadellos aus, sozusagen festlich. Diese Topgepflegten irritierten mich von jeher. Ich vermute, sie lassen mich meine eigene Nachlässigkeit in der äußeren Erscheinung schmerzlich spüren. Neid? Ja, wahrscheinlich. Heinz ist auch einer von diesen Wurstigen. Mag ich ihn also vor allem deshalb, weil er mir meine eigenen Defizite nicht vor Augen führt? Ich will mein Bewusstsein immer mehr schärfen, bis es mein Selbst wie ein Röntgengerät durchleuchtet und das Skelett meiner Regungen darstellt. Übrigens glaubte ich von Anfang an nicht, dass Biermann sich lange mit nur einem Mond – und noch dazu einem solchen - begnügen würde.
Als ich noch einmal Luft schöpfen wollte, sah ich die beiden aufbrechen, nicht gerade im wörtlichen Sinn Arm in Arm, doch beide leuchtenden Auges, von einem Gemeinschaftsgeist durchdrungen. Ich wandte mich rasch ab und schlug eine andere Richtung ein.
Es muss dann abends irgendetwas geschehen sein. Ich selbst schlief in dieser Nacht durch, ich hörte keinen ins Haus zurückkehren. Am nächsten Tag ging jeder der beiden seiner eigenen Wege. Biermann hielt sich in den Pausen an andere, er zog andere in seinen Kreis. Heinz versuchte nicht, sich ihm zu nähern. Er blieb bei den Frankfurtern, und an ihrem Tisch war keine Rede mehr von der Kirmes. Es war wie eine Umstellung der Großwetterlage. Wenn ich nur wüsste, was dahinter steckt.
Paetzold kam heute auf Heinz zu sprechen. Er fing damit an, ich würde es nie tun. Wir standen in einer Pause draußen vor dem Hörsaal, im Schatten eines großen Baumes. Es ist wieder sommerlich heiß jetzt.
Mich interessiert natürlich, was andere über Heinz denken. Aber vielleicht will ich es doch nicht so genau wissen … Paetzold drückte sich eingangs vorsichtig aus, sagte etwas wie problematischer Charakter. Da nahm ich spontan Partei für ihn, ich fände ihn naiv und gutherzig. Damit konnte ich Paetzold nicht im Mindesten beeindrucken. Es stellte sich vielmehr heraus, dass ihn an Heinz gerade die Eigenschaften abstoßen, die ihn mir sympathisch machen: sein unbeholfenes, eckiges Wesen, seine Burschikosität, dieses gelegentlich grob jungenhaft-palavernde Auftreten und im Kontrast dazu seine übergroße Empfindsamkeit. Dass er einmal im Unterricht, ich glaube bei Schliemann, nicht Recht bekommen oder sich nur zu Unrecht zurückgesetzt gefühlt hatte und daraufhin, zwischen Enttäuschung, Wut und Angst schwankend, in Tränen ausgebrochen war, hatte bei Paetzold den allerungünstigsten Eindruck hinterlassen. Gerade das hatte mich damals sehr gerührt.
Unsere kleine Meinungsverschiedenheit machte mich nachdenklich. Ich sagte mir, ich hätte kein Recht, bei allen Heinz gegenüber Wertschätzung und Zuneigung vorauszusetzen. Sehr gut möglich, dass noch andere wie Paetzold reagieren. Mich selber würde das gleiche Auftreten bei einem beliebigen anderen vielleicht gleichgültig lassen oder ebenfalls unangenehm berühren.
Die Sache ist wohl die, dass ich meine heftige Zuneigung bisher nur rationalisiert habe. Vernünftig erklären kann ich sie nicht. Ich kann nur vermuten, dass seine Erscheinung – seine Physiognomie, sein Charakter, sein Auftreten – mit bestimmten Bedürfnissen meiner Seele korrespondiert. Was nun aber an ihm so anziehend auf mich wirkt, ist mir bisher weitgehend im Dunkeln geblieben. Seine Sanftheit? Das Fehlen von Aggressivität? Sein Bedürfnis nach Harmonie, das ihn immer wieder zur Anpassung, gelegentlich zur Unterordnung, wenn nicht zur Selbstverleugnung verleitet? Oder noch etwas anderes? Wenn ich meinem Gefühl für ihn auf den Grund zu kommen versuche, glaube ich selbst ambivalente Züge an ihm wahrzunehmen – an meinen Gefühlen, nicht an ihrem Objekt. Es gibt in der Tat Phasen, in denen ich ihn plötzlich verabscheue, in der ich von einer einzigen Abwehrreaktion ihm gegenüber beherrscht bin. Allerdings bin ich, sofern er nur in meiner Nähe ist, nie gleichgültig. Immer bringt er heftige Unordnung in meinen seelischen Haushalt.
Ich bin es gewohnt, meine Probleme rational anzugehen. Dass es mir hier nicht gelingt, beunruhigt mich. Vielleicht wäre gerade die Erhellung der innersten Motive für diese Zuneigung gleichbedeutend mit ihrer Liquidation. Ich bin an einem Punkt angelangt, an dem ich die Reflexion aufgebe. Ich gebe zu, dass er mich anzieht und ich nicht weiß warum.

Biermann zeigt sich mir gegenüber immer feindseliger. Heute bogen wir beide von zwei verschiedenen Seiten eilig um eine Ecke des Flurs im Parterre und stießen so zufällig beinahe körperlich zusammen. Ich wich im letzten Augenblick aus und war schon an ihm vorüber. Biermann rief mir spontan und in gehässigem Ton nach: „Na, Berliner, steht die Mauer noch?!“ Es klang eindeutig triumphierend. Da er sonst wenig Herabzusetzendes an mir findet, muss halt der Grenzwall herhalten. Ich drehte mich nicht um und ging weiter.
Mir ist aufgefallen, dass er mich manchmal während des Unterrichts oder in den Pausen scharf ins Auge fasst. Dann wende ich mich ab und mache dazu mein finsterstes Gesicht.

Heinz muss sich sehr über seine Frankfurter Kollegen geärgert haben. Er kam heute Morgen verstimmt, ja geradezu aufsässig zum Frühstück und war kaum zu besänftigen. Sie haben ihr Spiel wohl zu weit getrieben, so dass er bemerkt hat, wie sie Schindluder treiben mit seiner Naivität. Doch selbst jetzt, wo er nicht länger ihr Trottel sein will und sich endlich einmal um Ernst und Selbständigkeit bemüht, wirkt er bloß infantil in seinem Grollen und Schmollen.
Zu mir war er sanft und freundlich wie meistens. Nach langer Zeit kam er wieder einmal in den Leseraum. Es ergab sich, dass wir nebeneinander saßen und einige Worte wechselten. Ich werfe mir jetzt vor, dass ich unverbindlich blieb und nicht auf ihn einging.
Beim Mittagessen war Heinz auch an unserem Tisch ein Gesprächsthema. Paetzold fing damit an: „Der aus Darmstadt? Der wird doch jetzt richtig schwachsinnig.“ Und Heise pflichtete ihm bei: „Ja, er versucht immer, bei allem mitzumachen, aber er schafft es nie so richtig.“
Wenn ich über ihn nachdenke, scheint mir sein Dilemma einfach darin zu bestehen, dass er vollkommen unfähig ist zu jener totalen Anpassung, der immer wieder seine größte Kraftanstrengung gilt. Und je klarer dies allgemein wird, umso geringer sein Ansehen hier. Es ist ja wahr, er ist ein wenig primitiv – wenn man das Wort richtig versteht. Wie bei einem Primitiven zeigt sich jede Regung unverhüllt, und das empfinden heute die meisten als abschreckend. Er möchte vor allem geliebt werden – nur ist er weder glatt noch besonders hübsch, weder geschickt noch charmant. In einer Welt, in der nicht die Qualität des ursprünglichen Charakters zählt, sondern dessen verwertbare Eigenschaften, steht er einigermaßen dumm da. Er fühlt sein Manko, doch ein Rückzug aufs Ich ist ihm nicht möglich. Also sieht er nur einen Ausweg: Wenn schon nicht durch Leistung glänzen, so eben durch vollkommene Anpassung an die anderen. Er will in allem wie sie sein, macht alles mit, unterwirft sich jedem Zwang. Dass die anderen ihn lieben müssten, wenn ihm diese Selbstentäußerung tatsächlich gelänge, ist sein großer Irrtum.
Zu seinem Glück - oder Unglück, da bin ich mir nicht sicher - schafft er die Anpassung nur unvollkommen, seine Grundstruktur fordert und verhindert sie zugleich. Er findet sich nicht wirklich in der Welt der anderen zurecht, er bleibt unter ihnen ein Fremdling. Seine natürliche Gutmütigkeit ist ihm allemal im Weg. Dass er, selbst wenn er möchte, nicht aggressiv werden kann, macht ihn für die anderen zum Tölpel. Er spielt überall mit und wirkt stets unglaubwürdig, da er die Verhältnismäßigkeit seines Verhaltens nicht abschätzen kann. Konkret: Er übertreibt. Er strengt sich allzu offensichtlich an. Seine Spontaneität ist vorgetäuscht, seine Lebhaftigkeit nur der Ausdruck seines unerfüllbaren Wunsches, in einem Größeren aufzugehen.
Zwei Monate sind jetzt um. Wir alle, die wir hier auf so engem Raum zusammenleben, haben in dieser Zeit eine Entwicklung durchgemacht, für uns selbst wie für alle anderen deutlich erkennbar. Unser Charakter ist offenbar geworden. So gesehen könnten wir jetzt abreisen. Was kann schon noch Großes kommen? Nicht mehr viel von Belang, schätze ich.
 
Eine Reihe von Tagen habe ich nichts geschrieben. Das ist mir nur anfangs leicht gefallen, und jetzt ist es nicht mehr möglich, das spüre ich deutlich.
Nicht, dass sich irgendetwas Außergewöhnliches ereignet hätte. Es war auch heute nur wieder einer von diesen Abenden, an denen wir nach dem Essen noch einige Zeit im Kasino zusammensitzen. Einzelne Bemerkungen über den Unterricht, die Dozenten, die Klausuren – das steigt nur auf wie Blasen an die Oberfläche eines Tümpels. Der Tag sinkt auf den schlammigen Grund zu den anderen vergeblich gelebten Tagen. Der Wasserspiegel – der Abend – ist trübe. Sie machen faule Witze. Manchmal ist es hier schwer, nicht arrogant zu sein.
Heinz saß einige Tische weiter allein bei einem Bier. Ich redete vor allem mit Paetzold. Wenn ich selbst nicht sprach und ihm scheinbar gerade intensiv zuhörte, fiel mein Blick ab und zu wie zufällig auf ihn. Sobald ich mich dabei von ihm ertappt fühlte, zog ich meinen Blick zurück und antwortete Paetzold rasch etwas auf seine letzte Bemerkung. Heinz schien mich nicht oft auf diese Weise überführen zu können, denn er sah starr geradeaus und vermied es meistens, zu mir herüberzublicken. Überführen? Ja, ich bleibe bei diesem Wort, denn ich glaube, ich stand die ganze Zeit im Zentrum seiner Aufmerksamkeit. Woraus ich das geschlossen habe? Daraus dass er seinerseits etwas zu viel Vorsicht aufwandte, wenn er mich gelegentlich kontrollierte. Er lugte geradezu herüber. Wir beäugten uns also. Wieder einmal.
Dann kam der Umschwung. Heise nahm an unserem Tisch Platz. Er führt immer gute Laune mit sich in seinem Gepäck, das kaum aus Sorgen und Lasten zu bestehen scheint. Er ist nicht nur hübsch, er ist auch tatsächlich und nicht nur vorgeblich witzig – und er hat sogar Geschmack. Ich sehe ihn gern an, ich höre ihm gern zu, doch er beunruhigt mich nicht. Woran mag das liegen? Die Erklärung ist sehr einfach: Nie würde er sich meinetwegen beunruhigen.
Die Stimmung wurde ungezwungener. Heise saß zwischen mir und Heinz. Mein Blickfeld war eingeengt, und aus diesem Schutz heraus konnte ich jetzt leichter beobachten. Ich sah, wie auch Heinz sich belebte, unbefangener wurde. Dann versuchte er sogar, unserem Gespräch zu folgen. Er beugte sich ein wenig vor. Endlich hatte er genug von dieser Abendunterhaltung und brach abrupt auf. Dabei stieß er recht heftig mit dem Kopf gegen die über dem Tisch hängende Lampe. Er rieb sich den Schädel, während er zum Ausgang ging. Ich sah ihn unverwandt an. Als er an uns vorbeiging, wollte er nur noch einmal kurz herübersehen und dabei begriff er, dass ich sein Missgeschick mitangesehen hatte.
„O weh, o weh“, jammerte er und rieb sich erneut und jetzt komisch übertreibend die geprellte Stelle, „den Kopf brauch ich doch noch.“ Er lachte mich jetzt an und hatte auf einmal große, lustige Augen. Sie sind hellblau, ich stellte es erst bei dieser Gelegenheit fest. Abgesehen von den Augen kam er mir doch wieder schüchtern vor. Ich brachte es auch diesmal nicht über mich, auf ihn einzugehen und etwas zu antworten. Ich lächelte nur, immerhin.

Da habe ich etwas mitangesehen – nur fehlt mir der Anfang der Geschichte ebenso wie ihre denkbare Fortsetzung.
Es war heute am Vormittag, am Ende der großen Pause. Die meisten von uns waren schon in den Hörsaal zurückgekommen, und auch ich saß bereits wieder an meinem Platz, vorne in der zweiten Reihe. Viele standen noch herum, redeten miteinander oder ödeten sich an. Ich wünschte mich wieder einmal fort und sah zum Fenster hinaus, auf die immergleichen Büsche. Besonders lag mir daran, Weber nicht ansehen zu müssen. Er tat sich in einer Dreiergruppe wichtig, sie standen vor mir auf dem Podium.
Auf einmal kann ich Webers Stimme nicht mehr überhören. Er ruft laut - und es schallt über unsere Köpfe hinweg – und zeigt mit dem Finger nach hinten, irgendwo ans andere Ende des Saals.
„Was ist denn das da drüben“, schreit er, „das sind wohl unzüchtige oder unsittliche Anträge – sehe ich das richtig, ihr zwei?!“
Wie die meisten Köpfe dreht sich auch meiner in die Richtung der zu vermutenden Sensation. Es gibt nichts oder nicht mehr viel zu sehen. Heinz hat einen jungen Mann neben sich, von dem ich nicht einmal den Namen weiß. Sie müssen sehr nah beieinander gestanden haben. Gerade sind sie dabei, eilig etwas Abstand voneinander zu gewinnen, wobei sie den Eindruck von Hast demonstrativ zu vermeiden suchen. Heinz schaut jedoch anschließend verlegen drein. Und er schweigt jetzt, er, der Weber bei Tisch sonst selten eine Antwort schuldig bleibt. Er scheint zu grübeln.
Unmittelbar darauf kam der Dozent herein. Alle, die noch standen, begaben sich auf ihre Plätze, und das Verwaltungszwangsverfahren schlug uns für weitere neunzig Minuten in seinen Bann.
Der andere ist recht ansehnlich, ein schlanker, dunkler Typ, süddeutsch aussehend.

Man sieht die beiden nicht mehr zusammen. Es geht mich im Übrigen auch nichts an. Mögen sie tun, was ihnen angenehm ist.
Infolge des kleinen Zwischenfalls bin ich selbst vielleicht noch vorsichtiger geworden. Diesmal ist es keine Haltung, die ich mit Absicht einnehme. Wenn es tatsächlich so ist, ärgert es mich sogar ein wenig. Ich bin doch nicht wirklich abhängig vom Meinen und Reden der vielen anderen? Natürlich nicht! Zuerst habe ich mir meine vermehrte Zurückhaltung nicht eingestehen wollen. Vermeide ich es wirklich neuerdings, zu ihm hinüberzusehen und mich auf diese Weise mit ihm zu verständigen? Ja, ich vermeide es …
Ich bin mir selbst dadurch auf die Schliche gekommen, dass ich mir, plötzlicher Eingebung folgend, die Frage vorgelegt habe, welche Schlüsse ich denn aus diesem Vorfall, der Andeutung Webers also, ziehen soll, und zwar nicht in Bezug auf mein Handeln – ich handele ja ohnehin nicht, nein, nur für meine Einschätzung seiner Person und seiner Motive. Und ich wollte es nicht, nämlich Schlüsse ziehen. Mir schien, ich stünde am oberen Rand eines sehr abschüssigen Geländes. Kurz, ich habe mich geweigert, darüber nachzudenken, was es bedeuten kann, wenn ein junger Ehemann einem anderen jungen Mann Avancen macht oder sich von ihm machen lässt. Ich weigere mich auch jetzt.
Und gleichzeitig lese ich weiter im Kinsey-Report? Ja, so ist es. Gerade in der Statistik verschwindet der beunruhigende Einzelfall, er ist nur noch Bestandteil einer allumfassenden Normalität. Nichts könnte beruhigender sein. Ich werde mir doch diese Lektüre nicht versagen wollen.
Es fiel mir also zum Beispiel heute ausgesprochen leicht, jede Konzentration auf Heinz zu vermeiden. Doch so einfach komme ich nicht davon. Er hat sehr bald registriert, dass ich ihm jetzt wie mit Wissen und Willen ausweiche. Mag sein, dass ihm das nicht passt oder er noch immer neugierig ist. Immer dann, wenn mein Blick ihn heute zufällig und ungewollt streifte, gewahrte ich jedenfalls, dass er genau darauf gewartet hatte. Ich ließ mich aber nicht weiter davon beeindrucken und wandte mich jeweils sofort ab. Mag er denken, was er will. Nein, auch falsch – es ist mir keineswegs gleichgültig, wie er meine Reserve jetzt einschätzt. Alles an dieser Geschichte ist verkehrt, ich weiß es schon längst.
Am Nachmittag hat er mich dann doch überlistet. Es war beim Kaffeetrinken. Er hatte seinen üblichen Platz verlassen, um nicht allein an einem Tisch sitzen zu müssen, nehme ich an. Weber und die anderen waren noch nicht da. Als einer von ihnen verspätet eintraf und ihn fragte, warum er den Platz gewechselt habe, sagte er scherzhaft, in der für ihn typischen Mischung aus gespielter und echter Naivität: „Ich hab jetzt einen andern Freund.“ Ich schmunzelte innerlich und nahm rasch einen Schluck aus der Kaffeetasse. Als ich sie absetzte und dann den Kopf wieder hob, blickte ich kurz vorsichtig hinüber. Und da sah ich, wie er mich beobachtete, wie er offensichtlich prüfte, ob und wie jene scherzhafte Bemerkung auf mich gewirkt hatte. Ich schlug die Augen nur kurz auf. Es genügte ihm schon.

Komme mir selbst in dieser ganzen Geschichte kläglich vor, einfach nur kläglich. Auch noch Selbstmitleid, der Herr? Ekelhaft.
Man wird mir zugute halten müssen – ich halte es mir also selbst zugute -, dass ich nicht einmal weiß, wie ich mich Heinz gegenüber zu verhalten hätte, wenn ich vernünftig sein wollte. Zwar gehe ich davon aus, dass er gegenüber anderen Männern erotisch reaktionsfähig ist, ich rechne auch damit, dass ein Cleverer bei ihm manches erreichen könnte, dass eine, wahrscheinlich nur passagere, harmonische sexuelle Beziehung zwischen ihm und einem anderen Mann im Bereich des Möglichen liegt – andererseits hätte ich zu berücksichtigen, wenn ich vernünftig sein wollte, dass er verheiratet und allem Anschein nach allgemein in kleinbürgerlichem Denken befangen ist. Ich müsste also damit rechnen, dass Heinz in eine schwere Krise gestürzt werden könnte, wenn man sich seine mehr oder weniger unbewussten Neigungen geschickt zunutze machte. Sind sie denn tatsächlich unbewusst? Gerade daran zweifele ich neuerdings. Doch besitze ich nicht genügend Erfahrung, nicht genügend Wissen über ihn, um eine Entscheidung zugunsten dieser oder jener Haltung treffen zu können. Ich bin mir ja nicht einmal sicher, ob das Bild, das ich mir von ihm mache, einigermaßen realistisch ist.
So bleibt alles beim Alten. Mein Verhalten basiert nicht auf einer vernünftigen Entscheidung, es wird von subjektiven Zwängen bestimmt. Ich will gar nicht versuchen, meine Fehlhaltung zu rationalisieren. Es sind narzisstische Ängste vor dem einfachsten realen Kontakt und eine durch dieses trostlose Milieu hier verstärkte Neigung zu ihm hin, die bewirken, dass ich geradezu süchtig geworden bin, Heinz zu beobachten, doch nichts tun kann, ihm auch nur einen Millimeter näher zu kommen.
Und er ist immer befremdeter über diese merkwürdige Mischung von Anzeichen des Interesses und der Lähmung. Er ist unsicher geworden, wie er sich mir gegenüber verhalten soll. Mal versucht er, meine strenge, nur nicht recht glaubwürdige Reserviertheit zu imitieren und mich nicht mehr zu beachten. Dann fängt er wieder an, mich insgeheim zu beobachten. Schließlich ist er froh, wenn sich eine Gelegenheit ergibt, doch noch einen Versuch zu machen, mit mir endlich ins Reine zu kommen.

Mir ist noch ein Gedanke gekommen: Wie soll ich mir seine Welt in Darmstadt vorstellen? Warum nicht einfach recht harmonisch? Ich kann doch nicht davon ausgehen, seine Frau sei durchaus unsympathisch und verständnislos und seiner unwert, sein Verhältnis zu seinen Eltern stark gestört und er selbst mit Arbeit und Kollegen tief unzufrieden … Muss ich nicht aus seinem ganzen ausgeglichenen Wesen und seiner geringen Aggressivität auf die harmonisch-friedvolle Welt kleiner Leute schließen? Und dürfte ich dann in diese geordnete, gesicherte Welt einbrechen? Die Frage stellen, heißt, sie verneinen.

Zunehmender nächtlicher Rabatz. Man tobt sich aus. Einerseits spielen sie die Freigelassenen, andererseits haben sie Heimweh und Angst vor Klausuren. Stelle ich all das in Rechnung, so liegt hinter uns eine beinahe normale Nacht. Zwischen vier und fünf näherte sich die letzte Gruppe fröhlicher Rheinländer unter lautem Absingen von Wanderliedern und anderen Volksweisen dem Hochhaus. Ich hörte sie schon, als sie noch einen halben Kilometer entfernt waren. Im Hause nahmen diese armen Schweine dann den Lift, hielten auf jeder Etage und sangen jeweils dröhnend eine Strophe von Der Steiger kömmt.
Beim Frühstück sprach man nur darüber. Paetzold und Heise waren mit mir einig – wir waren wütend und unausgeschlafen. Die Schuldigen fehlten im Kasino, sie sollten sich erst in letzter Minute und ohne gefrühstückt zu haben in die beiden Hörsäle schleppen. Auch an den anderen Tischen war die unruhige Nacht das einzige Thema. Ich hörte mit, was die Frankfurter und Heinz dazu sagten. Heinz hat heute Nacht versucht, die Störer aus der Nähe zu vertreiben. Er ist dabei in eine kleine Schlägerei verwickelt worden. Weber war sehr stolz auf ihn, klopfte ihm ausgiebig auf die Schulter und sagte: „Brav, mein Lieber, brav!“
Weber soll dann mit zwei anderen zu Doktor Friedrichsen gegangen sein. Es ist nur nichts Gescheites dabei herausgekommen. Die gesamte Belegschaft wurde verpflichtet, am Nachmittag in den Hörsälen für die kommenden Klausuren zu lernen, statt auf den Zimmern oder wo es uns sonst gefällt. Die Dozenten wollten uns zeitweise kontrollieren. Genau das geschah dann aber nicht. Sie blieben fern und zwangsläufig breitete Unruhe sich immer mehr aus. Über die Zusammengepferchten regierte bald wieder der rheinische Frohsinn.
Einer tat sich dabei besonders hervor, der junge Biermann aus Düsseldorf. Noch nie habe ich mich von einem wirklich gut aussehenden Mann dermaßen abgestoßen gefühlt. Dass er glatt und hübsch ist, wird in seiner Wirkung durch scharfes Reden, aufdringliches Benehmen und große Reizbarkeit beinahe ins Gegenteil verkehrt. Er ist eine bittere Pille mit zuckersüßem Überzug. Schon wiederholt hat er sich um meine Anerkennung bemüht, mich ab und zu angesprochen, meine Meinung hören wollen, doch ich habe immer nur kühl und knapp geantwortet. Ich habe seine Eitelkeit gewittert, und ich scheine mich nicht getäuscht zu haben. Er trägt mir schon nach, dass ich mich nicht von ihm vereinnahmen lasse. Übrigens ist er intelligent und bekommt gute Noten. Ich habe ihn hier gar nicht erwähnen wollen, doch nun muss ich es tun. Er krähte heute Nachmittag wie ein Hahn im Stimmbruch, überschrie alle, feuerte zum Blödsinnmachen an. Lernen war unmöglich.
Heinz ging zu ihm und verlangte, vor Erregung stotternd, Ruhe. Er könne sich auf nichts konzentrieren. Biermann fuchtelte ihm mit seinen Papieren vor dem Gesicht herum und äffte ihn so lange nach, bis Heinz zu lachen anfing. So hatte Biermann ihn förmlich umgedreht und auf seine Seite gezogen. Heinz zog danach grimassierend und blökend durch die Reihen. Mit ihm kann man alles machen. Dieses Lämmchen folgt jedem. Ich sah die Szene voller Unwillen mit an und starrte dann wieder in das Heft vor mir.
Bald danach bastelte Biermann Papierflieger und ließ sie im Sturzflug auf die letzten noch Arbeitenden los. Als einer davon bei mir landete, zerriss ich ihn. Das war kindisch, doch da ich kein Wort sagte, machte mein kalter Zorn sogar Eindruck, glaube ich. Biermann und die anderen ließen mich von nun an in Ruhe. Ich blieb noch einige Minuten und verließ dann den Saal vorzeitig mit allen Büchern und Heften. Heinz verfolgte interessiert meinen Abgang, ich sah es im Vorübergehen. Im Kasino wartete ich die Kaffeezeit ab, und nach ihr fuhr ich entgegen der Anordnung hinauf auf meine Etage.
Zwei Stunden intensiv gelernt und dann wieder hinunter zum Abendbrot. Heinz schaute öfter neugierig herüber. Die Spannung und das Unerklärtsein zwischen uns sind größer als je. Der Ablauf des Tages kam mir auf einmal nebensächlich, am Kern der Geschichte vorbeigehend vor. Am liebsten wäre ich aufgestanden, zu ihm gegangen und hätte bloß gesagt: Du, ich bin schwul und ich mag dich. Du bist sehr, sehr sympathisch. Ich will nichts von dir, du sollst nur endlich wissen, woran du mit mir bist.

Sonntagmorgen. Sunday, Bloody Sunday. Ich bin jetzt in Berlin. Paetzold hat mich gestern wieder mitgenommen. Ich sitze gern bei ihm im Auto. Sein munteres Reden, seine praktische, grundsolide Spießbürgerlichkeit sind so wohltuend.
Ich hoffte, auch in Berlin selbst gelassener als in L. zu sein, die Eindrücke von dort in den Hintergrund drängen zu können. Es gelang mir nur zeitweise. Gestern Abend zunächst anregendes Gespräch mit Rufus in der Rio-Bar. Dann zeigte A. sich erstmals seit einem halben Jahr wieder. Er kam allein, stand herum, jungmännlich schön und charmant verdüstert, wie meistens. Nur weil er beides ist, zieht er mich an. Seine spezielle Art von Attraktivität garantiert mir zugleich, dass ich zurückgewiesen werde. Das hatten wir alles schon mehrfach … Er sah auch diesmal über mich hinweg.
Eine Stunde später hatte er eine ganze Clique um sich. Nun war ich allein, Rufus war schon nach Hause gefahren. A. bekam Oberwasser, denn sein neuer Lover war auch gekommen. Dann kam etwas Unerwartetes in Gang. Der Lover musterte mich freundlich, mehr als einmal. A. war gezwungen, mich doch noch zur Kenntnis zu nehmen. Sie sprachen wohl über mich, es schien da Differenzen zwischen ihnen zu geben, sie zeichneten sich auf ihren jetzt unfrohen Gesichtern ab.
Was versprach ich mir davon, die Blicke des Lovers zu erwidern? Ich hätte mich nicht wirklich für ihn erwärmen können. Plötzlich versuchte mich einer aus A.’s Clique zu provozieren: Ob ich den Anruf aus Hollywood schon bekommen hätte? Ich reagierte nicht, da gab er es erst einmal auf. Später fing er wieder an, mich zu hänseln. Bei einem kleinen Wortwechsel zog ich den Kürzeren – auf diesem Niveau bin ich niemals genügend schlagfertig. Ich ging weg. A. lachte höhnisch, sein Lover schaute mich dabei noch immer freundlich an.
Ich stand noch nicht lange am neuen Platz, da kam der Lover mir allein hinterher und postierte sich neben mir. Ich übersah ihn, das heißt, ich tat so. Bald kam auch A. hinzu und umarmte einen in der Nähe stehenden Bekannten in übertriebener Weise. Der andere wurde verlegen, A. alberte noch mehr mit ihm herum und zog ihn in unsere Nähe. Scheinbar unabsichtlich stieß er dabei im Gedränge den Lover und mich immer wieder an. Klar, dass er nur provozieren wollte - ich ließ die drei stehen. Dann hatten sie, wie ich von weitem sah, eine lange Aussprache. Am Ende ging der Lover verärgert allein fort.

Das Lämmchen sucht weiterhin Anschluss. Es hat sich tatsächlich ein wenig mit diesem Biermann angefreundet. Mit jedem anderen – meinetwegen. Nur nicht mit Biermann.
Hier in L. ist jetzt Kirmes. Ich habe im Vorbeigehen einen Blick darauf geworfen: viele Fahrgeschäfte, zwei Bierzelte. Die Familien der Hüttenarbeiter gehen geschlossen hin. Es gibt Schlangen vor den Toilettenhäuschen.
Gestern beim Abendbrot sah ich, wie Biermann am Tisch gegenüber auftauchte. Er lud Heinz ein, mit ihm auf die Kirmes zu gehen, noch diesen Abend. Heinz sagte gleich zu. Weber machte eine wegwerfende Handbewegung.
Ich weiß nicht, wann sie aufgebrochen sind, dafür habe ich sie zurückkommen hören. Es war halb eins. Mein Fenster war gekippt, und mein Schlaf muss sehr leicht gewesen sein, denn ich war auf einmal hellwach und verließ das Bett auf ein Geräusch hin. Ich glaubte, ein dauerndes Klirren von Ketten zu hören. Es kam vom Parkplatz herauf. Ich machte kein Licht und stellte mich ans Fenster. Die beiden kamen also zu Fuß vom Festplatz zurück und standen gerade unter einer Laterne. Biermann hob eine Absperrkette immer wieder an und ließ sie dann gegen den Laternenpfahl knallen. Dabei hielt er Heinz gestikulierend einen Vortrag. Heinz hörte zu, schien Einzelnes zu wiederholen, wobei er lachte. Jedoch rührte er sich kaum, sondern stand ziemlich steif da, so kam es mir vor. Nach drei, vier Minuten gingen sie weiter und auf das Hochhaus zu. Ich glaubte nachher, den Lift aufwärts fahren zu hören. Er schien zweimal kurz hintereinander anzuhalten. Erleichtert ging ich wieder ins Bett.

Beck hat die Klausuren verteilen lassen, er ist nicht selbst nach L. gekommen. Ungenügend stand unter meiner, wie zu erwarten. Sonst nichts, keine Stellungnahme zu meinen Vorwürfen. Das ist es wohl schon gewesen. Irgendwann wächst über allem Gras. Niemand hat mich hier jetzt noch einmal auf meinen Ein-Mann-Streik angesprochen. Ich war für sie nur kurze Zeit interessant. Ist mir auch lieber so.
Biermann und Heinz wiederholten ihren Kirmesbesuch, schon einen Abend später. Tagsüber hatte Heinz bei Tisch mehrmals vom Festzelt und der Bombenstimmung dort gesprochen. In den Pausen war Biermann meistens um ihn gewesen. Oder eher umgekehrt? Biermann geschäftig, redselig, glänzend vor Freude über die eigene Bedeutsamkeit, Heinz in der Rolle eines Mondes, auf den etwas Abglanz fällt und der den Riesenplaneten zuverlässig umkreist. Dabei ist Biermann sogar etwas kleiner von Wuchs. Doch hält er sich unzweifelhaft straffer. Er kann gekleidet sein, wie er will, er sieht immer tadellos aus, sozusagen festlich. Diese Topgepflegten irritierten mich von jeher. Ich vermute, sie lassen mich meine eigene Nachlässigkeit in der äußeren Erscheinung schmerzlich spüren. Neid? Ja, wahrscheinlich. Heinz ist auch einer von diesen Wurstigen. Mag ich ihn also vor allem deshalb, weil er mir meine eigenen Defizite nicht vor Augen führt? Ich will mein Bewusstsein immer mehr schärfen, bis es mein Selbst wie ein Röntgengerät durchleuchtet und das Skelett meiner Regungen darstellt. Übrigens glaubte ich von Anfang an nicht, dass Biermann sich lange mit nur einem Mond – und noch dazu einem solchen - begnügen würde.
Als ich noch einmal Luft schöpfen wollte, sah ich die beiden aufbrechen, nicht gerade im wörtlichen Sinn Arm in Arm, doch beide leuchtenden Auges, von einem Gemeinschaftsgeist durchdrungen. Ich wandte mich rasch ab und schlug eine andere Richtung ein.
Es muss dann abends irgendetwas geschehen sein. Ich selbst schlief in dieser Nacht durch, ich hörte keinen ins Haus zurückkehren. Am nächsten Tag ging jeder der beiden seiner eigenen Wege. Biermann hielt sich in den Pausen an andere, er zog andere in seinen Kreis. Heinz versuchte nicht, sich ihm zu nähern. Er blieb bei den Frankfurtern, und an ihrem Tisch war keine Rede mehr von der Kirmes. Es war wie eine Umstellung der Großwetterlage. Wenn ich nur wüsste, was dahinter steckt.
Paetzold kam heute auf Heinz zu sprechen. Er fing damit an, ich würde es nie tun. Wir standen in einer Pause draußen vor dem Hörsaal, im Schatten eines großen Baumes. Es ist wieder sommerlich heiß jetzt.
Mich interessiert natürlich, was andere über Heinz denken. Aber vielleicht will ich es doch nicht so genau wissen … Paetzold drückte sich eingangs vorsichtig aus, sagte etwas wie problematischer Charakter. Da nahm ich spontan Partei für ihn, ich fände ihn naiv und gutherzig. Damit konnte ich Paetzold nicht im Mindesten beeindrucken. Es stellte sich vielmehr heraus, dass ihn an Heinz gerade die Eigenschaften abstoßen, die ihn mir sympathisch machen: sein unbeholfenes, eckiges Wesen, seine Burschikosität, dieses gelegentlich grob jungenhaft-palavernde Auftreten und im Kontrast dazu seine übergroße Empfindsamkeit. Dass er einmal im Unterricht, ich glaube bei Schliemann, nicht Recht bekommen oder sich nur zu Unrecht zurückgesetzt gefühlt hatte und daraufhin, zwischen Enttäuschung, Wut und Angst schwankend, in Tränen ausgebrochen war, hatte bei Paetzold den allerungünstigsten Eindruck hinterlassen. Gerade das hatte mich damals sehr gerührt.
Unsere kleine Meinungsverschiedenheit machte mich nachdenklich. Ich sagte mir, ich hätte kein Recht, bei allen Heinz gegenüber Wertschätzung und Zuneigung vorauszusetzen. Sehr gut möglich, dass noch andere wie Paetzold reagieren. Mich selber würde das gleiche Auftreten bei einem beliebigen anderen vielleicht gleichgültig lassen oder ebenfalls unangenehm berühren.
Die Sache ist wohl die, dass ich meine heftige Zuneigung bisher nur rationalisiert habe. Vernünftig erklären kann ich sie nicht. Ich kann nur vermuten, dass seine Erscheinung – seine Physiognomie, sein Charakter, sein Auftreten – mit bestimmten Bedürfnissen meiner Seele korrespondiert. Was nun aber an ihm so anziehend auf mich wirkt, ist mir bisher weitgehend im Dunkeln geblieben. Seine Sanftheit? Das Fehlen von Aggressivität? Sein Bedürfnis nach Harmonie, das ihn immer wieder zur Anpassung, gelegentlich zur Unterordnung, wenn nicht zur Selbstverleugnung verleitet? Oder noch etwas anderes? Wenn ich meinem Gefühl für ihn auf den Grund zu kommen versuche, glaube ich selbst ambivalente Züge an ihm wahrzunehmen – an meinen Gefühlen, nicht an ihrem Objekt. Es gibt in der Tat Phasen, in denen ich ihn plötzlich verabscheue, in der ich von einer einzigen Abwehrreaktion ihm gegenüber beherrscht bin. Allerdings bin ich, sofern er nur in meiner Nähe ist, nie gleichgültig. Immer bringt er heftige Unordnung in meinen seelischen Haushalt.
Ich bin es gewohnt, meine Probleme rational anzugehen. Dass es mir hier nicht gelingt, beunruhigt mich. Vielleicht wäre gerade die Erhellung der innersten Motive für diese Zuneigung gleichbedeutend mit ihrer Liquidation. Ich bin an einem Punkt angelangt, an dem ich die Reflexion aufgebe. Ich gebe zu, dass er mich anzieht und ich nicht weiß warum.

Biermann zeigt sich mir gegenüber immer feindseliger. Heute bogen wir beide von zwei verschiedenen Seiten eilig um eine Ecke des Flurs im Parterre und stießen so zufällig beinahe körperlich zusammen. Ich wich im letzten Augenblick aus und war schon an ihm vorüber. Biermann rief mir spontan und in gehässigem Ton nach: „Na, Berliner, steht die Mauer noch?!“ Es klang eindeutig triumphierend. Da er sonst wenig Herabzusetzendes an mir findet, muss halt der Grenzwall herhalten. Ich drehte mich nicht um und ging weiter.
Mir ist aufgefallen, dass er mich manchmal während des Unterrichts oder in den Pausen scharf ins Auge fasst. Dann wende ich mich ab und mache dazu mein finsterstes Gesicht.

Heinz muss sich sehr über seine Frankfurter Kollegen geärgert haben. Er kam heute Morgen verstimmt, ja geradezu aufsässig zum Frühstück und war kaum zu besänftigen. Sie haben ihr Spiel wohl zu weit getrieben, so dass er bemerkt hat, wie sie Schindluder treiben mit seiner Naivität. Doch selbst jetzt, wo er nicht länger ihr Trottel sein will und sich endlich einmal um Ernst und Selbständigkeit bemüht, wirkt er bloß infantil in seinem Grollen und Schmollen.
Zu mir war er sanft und freundlich wie meistens. Nach langer Zeit kam er wieder einmal in den Leseraum. Es ergab sich, dass wir nebeneinander saßen und einige Worte wechselten. Ich werfe mir jetzt vor, dass ich unverbindlich blieb und nicht auf ihn einging.
Beim Mittagessen war Heinz auch an unserem Tisch ein Gesprächsthema. Paetzold fing damit an: „Der aus Darmstadt? Der wird doch jetzt richtig schwachsinnig.“ Und Heise pflichtete ihm bei: „Ja, er versucht immer, bei allem mitzumachen, aber er schafft es nie so richtig.“
Wenn ich über ihn nachdenke, scheint mir sein Dilemma einfach darin zu bestehen, dass er vollkommen unfähig ist zu jener totalen Anpassung, der immer wieder seine größte Kraftanstrengung gilt. Und je klarer dies allgemein wird, umso geringer sein Ansehen hier. Es ist ja wahr, er ist ein wenig primitiv – wenn man das Wort richtig versteht. Wie bei einem Primitiven zeigt sich jede Regung unverhüllt, und das empfinden heute die meisten als abschreckend. Er möchte vor allem geliebt werden – nur ist er weder glatt noch besonders hübsch, weder geschickt noch charmant. In einer Welt, in der nicht die Qualität des ursprünglichen Charakters zählt, sondern dessen verwertbare Eigenschaften, steht er einigermaßen dumm da. Er fühlt sein Manko, doch ein Rückzug aufs Ich ist ihm nicht möglich. Also sieht er nur einen Ausweg: Wenn schon nicht durch Leistung glänzen, so eben durch vollkommene Anpassung an die anderen. Er will in allem wie sie sein, macht alles mit, unterwirft sich jedem Zwang. Dass die anderen ihn lieben müssten, wenn ihm diese Selbstentäußerung tatsächlich gelänge, ist sein großer Irrtum.
Zu seinem Glück - oder Unglück, da bin ich mir nicht sicher - schafft er die Anpassung nur unvollkommen, seine Grundstruktur fordert und verhindert sie zugleich. Er findet sich nicht wirklich in der Welt der anderen zurecht, er bleibt unter ihnen ein Fremdling. Seine natürliche Gutmütigkeit ist ihm allemal im Weg. Dass er, selbst wenn er möchte, nicht aggressiv werden kann, macht ihn für die anderen zum Tölpel. Er spielt überall mit und wirkt stets unglaubwürdig, da er die Verhältnismäßigkeit seines Verhaltens nicht abschätzen kann. Konkret: Er übertreibt. Er strengt sich allzu offensichtlich an. Seine Spontaneität ist vorgetäuscht, seine Lebhaftigkeit nur der Ausdruck seines unerfüllbaren Wunsches, in einem Größeren aufzugehen.
Zwei Monate sind jetzt um. Wir alle, die wir hier auf so engem Raum zusammenleben, haben in dieser Zeit eine Entwicklung durchgemacht, für uns selbst wie für alle anderen deutlich erkennbar. Unser Charakter ist offenbar geworden. So gesehen könnten wir jetzt abreisen. Was kann schon noch Großes kommen? Nicht mehr viel von Belang, schätze ich.
 



 
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