Nicht Mensch nicht Tier: 5. Erst Bergfest, dann Totenstille

Man kann auf eine Weise ignoriert werden, die das enge Band zwischen dem Ignorierenden und einem selbst nur noch deutlicher werden lässt. Ich gebe mir ja alle Mühe, Heinz wirklich zu übersehen – doch dabei ist vermutlich allerlei von meinem Gesicht abzulesen: Ermüdung, Resignation, Schmerz und ein Rest Hoffnung, ja, Hoffnung auch. Ich betrachte mich bei dieser Gelegenheit niemals im Spiegel, doch glaube ich, die Beherrschung, um die ich mich bemühe und die ich angespannt tatsächlich erreiche, sie drückt sich auf meinem Gesicht und in meinen Bewegungen aus. Vielleicht nur für ihn ablesbar.
Er versucht nicht einmal, Gleichgültigkeit vorzutäuschen. Er ist enttäuscht von mir - so wie in jener Nacht hätte ich mich nach seinem Gefühl nie verhalten dürfen. Er grollt und er zeigt es offen. Er wendet sich demonstrativ von mir ab. Gestern Nachmittag beispielsweise saß ich mit der Süddeutschen im Leseraum. Heinz kam herein. Ich blickte nicht auf, ich hatte ihn aus den Augenwinkeln heraus an seinem halb federnden, halb tappenden Gang schon erkannt. Er kam auf mich zu. Zufällig blätterte ich eben im Wirtschaftsteil. Die Börsenkurse sind für mich von keinem größeren Interesse. Ich wollte umblättern und während ich es tat, stand er auf einmal neben mir. Hatte er mich wirklich nicht hinter meiner Zeitung sitzen sehen? Ich ließ das Blatt sinken und begegnete seinem Blick. In ihm waren Überraschung, Aufruhr, Empörung zu lesen. Er drehte sich sofort um. Ging rascher, als er hereingekommen war, zur Tür zurück und verschwand. Also erträgt er es jetzt nicht einmal mehr, in unserer freien Zeit einen Raum mit mir zu teilen, der für alle da ist.
Ich blieb noch lange sitzen, ohne mich auf einen weiteren Artikel konzentrieren zu können. Er kam kein zweites Mal herein.

Heute hat er seine Ablehnung erneut zu Protokoll gegeben, diesmal öffentlich und alles sozusagen in Großbuchstaben. Er wollte in der großen Vormittagspause einen Zehn-Mark-Schein gewechselt haben und sprach vergeblich der Reihe nach alle in seiner Nähe an – nur mich nicht. Es kränkt mich nicht, fast fühle ich mich ausgezeichnet.
Nein, meine Einstellung zu ihm hat sich in keiner Weise geändert. Nur bin ich bin jetzt so deprimiert, so geschwächt, dass ich gewöhnlich nicht mehr viel Kraft und Aufmerksamkeit für ihn übrig habe. Ich schaffe es eben gerade, mich selbst aufrechtzuhalten. Das sublime Kammerspiel oder introvertierte Theater der letzten Monate ist auch aus diesem Grund zu Ende, ich weiß es recht gut. Nur noch kurze Zeit und ich werde mich wahrscheinlich von seinem Eindruck gelöst haben. So weit es ist es aber noch nicht …

Ich habe vergeblich versucht, mein Verhältnis zu dem kleinen Schwaben in Ordnung zu bringen. Er kommt so armselig daher. Ich schäme mich, ihn angegriffen zu haben. Und ich will mir nichts vormachen: Ich hatte auch Heinz im Kopf, als ich in der großen Pause eine halbe Entschuldigung anzubringen versuchte. Doch der Schwabe nahm sie nicht an, unterbrach mich gleich und wandte sich ab. Er will gegen mich erbittert bleiben. Nun, wenn’s ihm denn hilft, die restliche Zeit hier herumzubringen … An seiner Feindschaft liegt mir nichts, sie ist ohne Bedeutung.
Heinz war nicht in der Nähe. Anderenfalls hätte ich den Vorstoß zu diesem Zeitpunkt nicht unternommen.
Es gibt übrigens Anzeichen, dass wir das frühere Spiel wieder aufnehmen könnten. Er blinzelt neuerdings bei den Mahlzeiten herüber. Begegnen wir uns jedoch auf einem Weg, dreht er im Weitergehen Kopf und Oberkörper nach wie vor zur anderen Seite.

An dem Fest lag mir nichts. Ich wollte den Abend nur ungerührt über mich ergehen lassen. Doch froh war ich, dass wir aus diesem Anlass den Nachmittag frei hatten. Die anderen Berliner wollten genau wie ich L. wieder für ein paar Stunden entfliehen. Merkwürdiges Fest, auf das man sich vorbereitet, indem man den Festort bis zur letzten Minute meidet.
„Wir waren noch nie in der Heide. Können wir nicht mal in die Heide fahren?“ – „Ja, das schafft man an einem Nachmittag. Sie blüht vielleicht jetzt noch.“
Wir fuhren also mit drei Autos zum Südrand der Heide. Da waren nur weite Wiesenlandschaften, von Kanälen und Baumreihen durchzogen. Wir bogen wiederholt ab, von Haupt- auf Nebenstraßen, dann auf bessere Feld- und Waldwege, die für den allgemeinen Verkehr nicht gesperrt sind. Die Gegend änderte sich in dem Maß, in dem wir nach Norden vorankamen, wurde trockener, einsamer. Dürftiger Kiefernwald herrschte nun vor. Wir erwarteten, bald doch noch das ursprüngliche Bild der Heide vor uns auftauchen zu sehen. Es schien uns sozusagen in der Luft zu liegen. Stattdessen öffnete sich im Wald eine Lichtung mit Wiesen und Feldern und einer Gruppe von Gebäuden. Auch um sie war es menschenleer. Endlich entdeckten wir eine ältere Frau in einem Garten arbeitend.
„Entschuldigung, ist hier irgendwo Heide? Können Sie uns sagen, wo wir noch echte Heide finden?“
„Nein, hier gibt’s keine Heide“, sagte sie kurz angebunden und durch ihren Tonfall alle denkbaren weiteren Fragen von vornherein abschneidend. Sie bückte sich schon wieder über das Beet.
„Geben wir’s auf.“ Die Fahrer wendeten mitten auf dem sandigen Weg. Dann wollten wir rasch in die nächste größere Stadt und kamen nach C. Sein alter Kern ist berühmt für seine vielen Fachwerkhäuser. Wir waren schon etwas knapp mit der Zeit und kamen nur noch zu einem kurzen Bummel durch einige dieser Gassen. Das Fachwerk ist oft reich verziert und fast immer bunt bemalt. Für mich ergab das einen sehr unruhigen Gesamteindruck, und zum Betrachten von Details reichte es leider nicht mehr.
Unsere Fahrer jagten danach in Dreierkolonne über die große Bundesstraße südwärts. An der Kreuzung mit einer Ost-West-Chaussee wäre es beinahe passiert. Ich saß bei Kraushaar im letzten Wagen und wir entgingen, als wir den anderen beiden hinterher schossen, gerade noch einem Zusammenstoß. In Zukunft will ich nur noch mit Paetzold fahren.
Als wir in L. ankamen, war keine Zeit mehr, noch auf unsere Zimmer zu gehen. In dieser Minute fing das festliche Essen an, es wurden eben die Kalten Platten aufgetragen. Wir sanken gerade rechtzeitig auf unsere Stühle.
Bergfest? Man sollte es Talfest nennen. Ich will nur hoffen, wir haben damit die Sohle erreicht.
Bereits zum Essen gab es Freibier. Sie kauten also und gurgelten nach jedem zweiten Bissen. (Ich kaute und gurgelte auch.) Es wurde schon bald lebhafter, geräuschvoller als bei einem gewöhnlichen Abendessen. Nur wir an unserem Tisch kamen erst mit Verzögerung in die rechte Stimmung, wenn überhaupt. Ich sah ab und zu kurz hinüber, zum Tisch der Frankfurter. Ihre Gesichter glänzten in froher Erwartung, auch das von Heinz. Ich bildete mir ein, sie hielten sich in dieser Phase gerader als sonst und sie aßen manierlicher, sprachen deutlicher. Es gibt nur dieses eine Fest während der ganzen Zeit an der Akademie, man muss sich entsprechend würdig betragen. Nach der Abschlussprüfung fahren alle schnell nach Hause, das Zeugnis in der Tasche.
Als das Essen vorbei war, standen viele von den Tischen auf und gingen und standen abwechselnd herum. Ich blieb mit Heise und Paetzold sitzen. Das fünfköpfige Festkomitee baute jetzt im Durchgang, ganz in unserer Nähe, eine Stuhlreihe auf und placierte sich dort. Dann sagte ein jeder von ihnen sein kurzes, neckisches Grußwort ins Mikrophon, wobei er sich umständlich erhob und mit dem Stuhl geräuschvoll rangierte. Die Zuhörer applaudierten zu Beginn des Manövers wie an seinem Ende, wenn der Redner ihnen mit der Bierflasche zuprostete und einen großen Schluck daraus nahm. Die Komik der ganzen Prozedur bestand im Missverhältnis zwischen dem betriebenen Aufwand und der kurzen, nichtssagenden Rede. Alle scheinen das so empfunden zu haben. Heinz und die Frankfurter schrieen ein um das andere Mal: „Hurra, hurra!“ Es inszenierte sich die Lust an der Selbstveräppelung.
Danach trank man stärker. Ich sah jetzt auch Schnapsflaschen kreisen, aus denen weiter hinten kleine Gläser voll geschenkt und schnell gekippt wurden. Der Geräuschpegel stieg im Nu noch einmal deutlich an, zumal man uns jetzt auch musikalisch beschallte.
Den Hauptteil des Abends habe ich noch mitbekommen, bevor ich gegangen bin. Biermann rezitierte aus der zum großen Teil von ihm selbst verfassten Bierzeitung. Er hatte auf gut ein Dutzend von uns Spottverse geschmiedet, über die zu lachen für die so Ausgezeichneten natürlich selbstverständlich war. Ja, auch ich gehörte zu diesen Prominenten, und ich wundere mich jetzt, dass es mich zunächst erstaunte. Ich gehe ja wie ein Unberührbarer zwischen ihnen herum und glaubte mich bisher vor Auf- und Zudringlichkeiten in Sicherheit. Meine Interesselosigkeit ihnen gegenüber hielt ich für eine schützende Membran, während sie tatsächlich in mindestens einer Richtung durchlässig zu sein scheint. Menschen wie Biermann verzeihen manches nicht, vor allem nicht, wenn einer nicht teilnimmt, nicht an ihren Vergnügungen, nicht an ihren Kümmernissen, nicht an der Teilnahme, die sie sich selbst zuwenden.
Ich musste vier boshafte Zeilen über mich anhören. Sie wurden belacht, wie alles andere auch, nicht mehr, nicht weniger. Ich saß da, äußerlich ungerührt – ich hatte mir rasch einen mäßig interessierten, neutralen Gesichtsausdruck zurechtgemacht – und war im Innern über so viel Hass dann doch erschrocken. Übrigens hat Biermann unzweifelhaft Talent.
Nachher bekamen alle von ihm persönlich ein Exemplar dieser Bierzeitung überreicht. Ich nahm meines an und begann in ihm zu blättern. Biermann ist auch ein begabter Illustrator. Er hat die Wirkung seiner giftigen Poeme mit Zeichnungen voll exakter und aggressiver Beobachtung zu erhöhen verstanden. Jetzt weiß ich, warum er mich in den letzten Wochen immer wieder so scharf gemustert hat. Ich habe ihm unfreiwillig, ahnungslos Modell gestanden und gesessen für eine gehässige Karikatur. Oder habe ich dabei wirklich eine so höhnische Miene zur Schau getragen?
Was hat er denn nun über mich gedichtet? Zu meinem Glück habe ich es so wenig an mich herankommen lassen, dass es sich mir mit seinen Einzelheiten nicht eingeprägt hat. Das Heftchen liegt schon in meinem Papierkorb, ich werde mich nicht nach ihm bücken.
Nicht mehr auslöschen kann ich dagegen die Erinnerung, wie Biermann in seinem Sudelbuch mit Heinz umgesprungen ist. Auch ihm wurde ein Gedicht gewidmet, länger als das auf mich gemünzte. Er ist „der Bärtige aus Darmstadt“. Schon über den Titel wurde viel gelacht: „Genie im Kleinformat“. Heinz lachte laut mit, wie geschmeichelt, ich sah es von meinem Platz aus mit rasch wachsendem Ärger. Genie im Kleinformat – wie scharfsinnig daneben … Es ist ja wahr, dass etwas ganz und gar Ungewöhnliches, in gewissem Sinn auch Genialisches an ihm ist, an seinem Auftreten, seiner Ausstrahlung, nur eben nicht an den Leistungen seines Kopfes. Es gehört in den Bereich der Seele. Übersetzt man es ins Verstandesmäßige, kommt zwangsläufig etwas Unzureichendes und Schiefes heraus. Höchst infam.
Und dann zu seiner Charakterisierung diese acht kleinen Wörter, bloß diese acht Einsilber: „Er ist nicht Mensch, er ist nicht Tier …“ Das nahmen alle beifällig auf, wie die kürzestmögliche Formel für Heinz. Und auch er selbst billigte sie schweigend. Was für ein Wesen ist das denn: nicht Mensch, nicht Tier? Etwas dazwischen, meint Biermann wohl, wie ich ihn kenne. Nicht mehr ganz Tier, aber noch nicht ganz Mensch – also ein Mensch zweiter Klasse, allenfalls. Kein vollwertiger Mensch – am Ende ein Untermensch, wie das früher so schlimm genannt wurde?
Oder bezieht Biermann sich vielleicht auf etwas, das zwischen ihnen vorgefallen ist? Auf etwas Konkretes, das er, Biermann, mit äußerstem Nachdruck zurückweisen muss, indem er es für animalisch erklärt? Fragt sich dann nur, auf welches Tier er anspielen will.
Biermann gab auch Heinz ein Exemplar. Dabei lächelte er – durchbohrend: so will ich das einmal nennen. Heinz nahm die Broschüre wie ein Geschenk an, dessen Wert er zu würdigen versteht. Noch immer geschmeichelt. Da ging ich schnell hinaus.
Die meisten sind noch im Kasino, während ich hier seit einer Dreiviertelstunde schreibe. Wie ruhig es jetzt einmal auf den Etagen ist … Erwähnte ich schon, dass es hier sonst weiterhin mit der Abend- und Nachtruhe nicht weit her ist?

Der Stumpfsinn geht immer weiter. Die vielen Stunden, die man hier ohne Gewinn absitzt! Welche Nieten bei uns als Dozenten auftreten! Da kommen Justizassessoren angereist, die uns auf die nahe Prüfung vorbereiten sollen und dabei selbst bedeutend weniger Wissen aufweisen als die meisten ihrer Zuhörer. Grotesk und peinlich ihre Ahnungslosigkeit, die sich von Stunde zu Stunde deutlicher herausstellt.
Man hätte uns auch jene älteren Herren ersparen sollen, die nicht mehr imstande sind, längere Zeit vor vierzig bis fünfzig Menschen zu sprechen. S., ein scheidender Hauptgeschäftsführer, ist auch so ein Fall, er ist diese Woche dran. Im Grunde eine biedere, sympathische Seele, ein Linksliberaler alter Prägung … Er ist sehr müde und weiß selbst am besten, dass er nicht mehr die Kraft hat, über Stunden Hörer im Bann seines Vortrags zu halten. „Ich habe versucht, Ihnen zu verdeutlichen, dass …“ versichert er von Zeit zu Zeit schüchtern. Er beteuert des Öfteren, dass er „zwar einen Knieschaden, aber keinen Dachschaden“ habe und bittet, sich setzen zu dürfen. Dann kauert er hinter dem Tisch auf dem Podium, leicht zusammengekrümmt, manchmal sehr leise, fast unverständlich werdend. Gelegentlich hat er sogar Wortfindungsstörungen.
Man ist auch um unsere politische Bildung besorgt. Ein Ausflug zur Zonengrenze – so heißt das natürlich hier - ist Bestandteil eines jeden Abschlusslehrgangs. Wir haben ihn schon hinter uns. Doktor Friedrichsen hatte drei Busse geordert, mit denen wir ins Gebirge chauffiert wurden. Einer war ein Veteran und schaffte die Steilstrecke aus der Tiefebene hinauf beinahe nicht mehr. Also passten die beiden anderen ihre Geschwindigkeit seiner an und alle drei schlichen mit Tempo fünfzehn zur Passhöhe hinauf. Endlich kamen wir auf dem Parkplatz vor dem Bergdorf an, das immer angesteuert wird. Von dort sind die Grenzanlagen besonders gut zu überblicken. Alle achtundachtzig stiegen aus. Doktor Friedrichsen instruierte uns über den weiteren Ablauf – und dabei passierte es ihm, dass er sich mal wieder verhaspelte. Die, die den ersten Bus verließen, hörten von ihm, die Rückfahrt sei für siebzehn Uhr geplant, und zerstreuten sich sogleich in der weitläufigen Gegend. Tatsächlich sollte zwei Stunden früher weitergefahren werden. Nun mussten alle die Zeit dort oben totschlagen und das restliche Programm entfiel. Was macht man vier Stunden in H.? Wir bevölkerten die Cafés.

Und jetzt gibt es bei uns eine wirkliche und blutige Katastrophe! Dass ich auch das noch festhalten muss … Zwar bin ich noch immer wie vor den Kopf gestoßen – und doch: Hat es sich nicht vorbereitet und angekündigt, dieses Unheil? Hier lag so viel in der Luft – musste einer geopfert werden? Aber warum dann gerade er?
Ich habe nie ein Wort mit ihm gesprochen. Er war Mitte vierzig, verheiratet, hatte zwei Kinder; kam aus Krefeld. Fast immer kam er mir gut gelaunt vor, unangemessen gut gelaunt, will ich sagen. Er war etwas dicklich und schon recht bequem. Seine Kollegen machten sich darüber lustig, dass er Abend für Abend pünktlich um acht mit einer Flasche Bier immer denselben Sessel vor dem Fernsehapparat im Kasino belegte, alles nur über sich ergehen ließ und stets bis zum Sendeschluss ausharrte. Sein ganzer Heroismus schien in dieser totalen Passivität zu bestehen.
Vorgestern feierte man abends im sechsten Stock einen Geburtstag, geräuschvoll wie immer. Wie ich erst vorhin erfahren sollte, erlaubte sich einer dabei den Scherz, von oben eine leere Bierflasche auf den Wagen des Krefelders zu werfen. Der ärgerte sich still über die Beulen – er war nicht auf der Party gewesen - und brachte gestern Mittag das Auto zur Reparatur. Nachher saß er wieder mit uns im Hörsaal, als draußen auf der Kreuzung zwei Wagen laut krachend zusammenstießen und uns aus unserem Dösen jäh aufschreckten. Ich sah ihn in der bald folgenden Pause mit den meisten anderen hinausgehen, der vermeintlichen Sensation auf der Spur. Dann kamen sie zurück, alle hörbar enttäuscht: nur Blechschaden, kein Blut - doch immerhin: erst sechzehntausend Kilometer drauf.
Vierundzwanzig Stunden später ließ sich der Krefelder von einem Kollegen aus Aachen zur Werkstatt fahren, um den eigenen Wagen abzuholen. Sie nutzten dafür eine Pause und es pressierte natürlich. Sie kamen an die Stelle, an der die Ausfallstraße das Bahngleis kreuzt. Das Signal stand auf „rot“. Der Aachener fuhr trotzdem mit hohem Tempo weiter. Von rechts kam ein Schienenbus, erfasste das Auto und schleifte es dreißig Meter weit mit.
Zu der Zeit saßen die meisten von uns schon wieder im Hörsaal. Kurz darauf hörten wir die Martinshörner von Polizei und Feuerwehr. Dann kam einer herein und rief es uns zu: „Schwerer Unfall! Der Wagen aus Aachen! Wer war noch drin?“
Wir rannten alle aus dem Hörsaal und kurz darauf starteten an die zwanzig Fahrzeuge zur Unfallstelle. Sie war weiträumig abgesperrt. Das Wichtigste erfuhren wir hintenherum, scheibchenweise.
Der Krefelder war gleich tot gewesen. Der Aachener - übrigens ein sanfter und hübscher Mann, schwarzhaarig, mit dunklem Teint – liegt lebensgefährlich verletzt in einem Krankenhaus. Lungenriss, heißt es, und die Nieren sollen auch beteiligt sein.
Noch nie war es im Hochhaus abends so ruhig gewesen wie heute. Sage und schreibe: Totenstille.
 
Man kann auf eine Weise ignoriert werden, die das enge Band zwischen dem Ignorierenden und einem selbst nur noch deutlicher werden lässt. Ich gebe mir ja alle Mühe, Heinz wirklich zu übersehen – doch dabei ist vermutlich allerlei von meinem Gesicht abzulesen: Ermüdung, Resignation, Schmerz und ein Rest Hoffnung, ja, Hoffnung auch. Ich betrachte mich bei dieser Gelegenheit niemals im Spiegel, doch glaube ich, die Beherrschung, um die ich mich bemühe und die ich angespannt tatsächlich erreiche, sie drückt sich auf meinem Gesicht und in meinen Bewegungen aus. Vielleicht nur für ihn ablesbar.
Er versucht nicht einmal, Gleichgültigkeit vorzutäuschen. Er ist enttäuscht von mir - so wie in jener Nacht hätte ich mich nach seinem Gefühl nie verhalten dürfen. Er grollt und er zeigt es offen. Er wendet sich demonstrativ von mir ab. Gestern Nachmittag beispielsweise saß ich mit der Süddeutschen im Leseraum. Heinz kam herein. Ich blickte nicht auf, ich hatte ihn aus den Augenwinkeln heraus an seinem halb federnden, halb tappenden Gang schon erkannt. Er kam auf mich zu. Zufällig blätterte ich eben im Wirtschaftsteil. Die Börsenkurse sind für mich von keinem größeren Interesse. Ich wollte umblättern und während ich es tat, stand er auf einmal neben mir. Hatte er mich wirklich nicht hinter meiner Zeitung sitzen sehen? Ich ließ das Blatt sinken und begegnete seinem Blick. In ihm waren Überraschung, Aufruhr, Empörung zu lesen. Er drehte sich sofort um. Ging rascher, als er hereingekommen war, zur Tür zurück und verschwand. Also erträgt er es jetzt nicht einmal mehr, in unserer freien Zeit einen Raum mit mir zu teilen, der für alle da ist.
Ich blieb noch lange sitzen, ohne mich auf einen weiteren Artikel konzentrieren zu können. Er kam kein zweites Mal herein.

Heute hat er seine Ablehnung erneut zu Protokoll gegeben, diesmal öffentlich und alles sozusagen in Großbuchstaben. Er wollte in der großen Vormittagspause einen Zehn-Mark-Schein gewechselt haben und sprach vergeblich der Reihe nach alle in seiner Nähe an – nur mich nicht. Es kränkt mich nicht, fast fühle ich mich ausgezeichnet.
Nein, meine Einstellung zu ihm hat sich in keiner Weise geändert. Nur bin ich bin jetzt so deprimiert, so geschwächt, dass ich gewöhnlich nicht mehr viel Kraft und Aufmerksamkeit für ihn übrig habe. Ich schaffe es eben gerade, mich selbst aufrechtzuhalten. Das sublime Kammerspiel oder introvertierte Theater der letzten Monate ist auch aus diesem Grund zu Ende, ich weiß es recht gut. Nur noch kurze Zeit und ich werde mich wahrscheinlich von seinem Eindruck gelöst haben. So weit es ist es aber noch nicht …

Ich habe vergeblich versucht, mein Verhältnis zu dem kleinen Schwaben in Ordnung zu bringen. Er kommt so armselig daher. Ich schäme mich, ihn angegriffen zu haben. Und ich will mir nichts vormachen: Ich hatte auch Heinz im Kopf, als ich in der großen Pause eine halbe Entschuldigung anzubringen versuchte. Doch der Schwabe nahm sie nicht an, unterbrach mich gleich und wandte sich ab. Er will gegen mich erbittert bleiben. Nun, wenn’s ihm denn hilft, die restliche Zeit hier herumzubringen … An seiner Feindschaft liegt mir nichts, sie ist ohne Bedeutung.
Heinz war nicht in der Nähe. Anderenfalls hätte ich den Vorstoß zu diesem Zeitpunkt nicht unternommen.
Es gibt übrigens Anzeichen, dass wir das frühere Spiel wieder aufnehmen könnten. Er blinzelt neuerdings bei den Mahlzeiten herüber. Begegnen wir uns jedoch auf einem Weg, dreht er im Weitergehen Kopf und Oberkörper nach wie vor zur anderen Seite.

An dem Fest lag mir nichts. Ich wollte den Abend nur ungerührt über mich ergehen lassen. Doch froh war ich, dass wir aus diesem Anlass den Nachmittag frei hatten. Die anderen Berliner wollten genau wie ich L. wieder für ein paar Stunden entfliehen. Merkwürdiges Fest, auf das man sich vorbereitet, indem man den Festort bis zur letzten Minute meidet.
„Wir waren noch nie in der Heide. Können wir nicht mal in die Heide fahren?“ – „Ja, das schafft man an einem Nachmittag. Sie blüht vielleicht jetzt noch.“
Wir fuhren also mit drei Autos zum Südrand der Heide. Da waren nur weite Wiesenlandschaften, von Kanälen und Baumreihen durchzogen. Wir bogen wiederholt ab, von Haupt- auf Nebenstraßen, dann auf bessere Feld- und Waldwege, die für den allgemeinen Verkehr nicht gesperrt sind. Die Gegend änderte sich in dem Maß, in dem wir nach Norden vorankamen, wurde trockener, einsamer. Dürftiger Kiefernwald herrschte nun vor. Wir erwarteten, bald doch noch das ursprüngliche Bild der Heide vor uns auftauchen zu sehen. Es schien uns sozusagen in der Luft zu liegen. Stattdessen öffnete sich im Wald eine Lichtung mit Wiesen und Feldern und einer Gruppe von Gebäuden. Auch um sie war es menschenleer. Endlich entdeckten wir eine ältere Frau in einem Garten arbeitend.
„Entschuldigung, ist hier irgendwo Heide? Können Sie uns sagen, wo wir noch echte Heide finden?“
„Nein, hier gibt’s keine Heide“, sagte sie kurz angebunden und durch ihren Tonfall alle denkbaren weiteren Fragen von vornherein abschneidend. Sie bückte sich schon wieder über das Beet.
„Geben wir’s auf.“ Die Fahrer wendeten mitten auf dem sandigen Weg. Dann wollten wir rasch in die nächste größere Stadt und kamen nach C. Sein alter Kern ist berühmt für seine vielen Fachwerkhäuser. Wir waren schon etwas knapp mit der Zeit und kamen nur noch zu einem kurzen Bummel durch einige dieser Gassen. Das Fachwerk ist oft reich verziert und fast immer bunt bemalt. Für mich ergab das einen sehr unruhigen Gesamteindruck, und zum Betrachten von Details reichte es leider nicht mehr.
Unsere Fahrer jagten danach in Dreierkolonne über die große Bundesstraße südwärts. An der Kreuzung mit einer Ost-West-Chaussee wäre es beinahe passiert. Ich saß bei Kraushaar im letzten Wagen und wir entgingen, als wir den anderen beiden hinterher schossen, gerade noch einem Zusammenstoß. In Zukunft will ich nur noch mit Paetzold fahren.
Als wir in L. ankamen, war keine Zeit mehr, noch auf unsere Zimmer zu gehen. In dieser Minute fing das festliche Essen an, es wurden eben die Kalten Platten aufgetragen. Wir sanken gerade rechtzeitig auf unsere Stühle.
Bergfest? Man sollte es Talfest nennen. Ich will nur hoffen, wir haben damit die Sohle erreicht.
Bereits zum Essen gab es Freibier. Sie kauten also und gurgelten nach jedem zweiten Bissen. (Ich kaute und gurgelte auch.) Es wurde schon bald lebhafter, geräuschvoller als bei einem gewöhnlichen Abendessen. Nur wir an unserem Tisch kamen erst mit Verzögerung in die rechte Stimmung, wenn überhaupt. Ich sah ab und zu kurz hinüber, zum Tisch der Frankfurter. Ihre Gesichter glänzten in froher Erwartung, auch das von Heinz. Ich bildete mir ein, sie hielten sich in dieser Phase gerader als sonst und sie aßen manierlicher, sprachen deutlicher. Es gibt nur dieses eine Fest während der ganzen Zeit an der Akademie, man muss sich entsprechend würdig betragen. Nach der Abschlussprüfung fahren alle schnell nach Hause, das Zeugnis in der Tasche.
Als das Essen vorbei war, standen viele von den Tischen auf und gingen und standen abwechselnd herum. Ich blieb mit Heise und Paetzold sitzen. Das fünfköpfige Festkomitee baute jetzt im Durchgang, ganz in unserer Nähe, eine Stuhlreihe auf und placierte sich dort. Dann sagte ein jeder von ihnen sein kurzes, neckisches Grußwort ins Mikrophon, wobei er sich umständlich erhob und mit dem Stuhl geräuschvoll rangierte. Die Zuhörer applaudierten zu Beginn des Manövers wie an seinem Ende, wenn der Redner ihnen mit der Bierflasche zuprostete und einen großen Schluck daraus nahm. Die Komik der ganzen Prozedur bestand im Missverhältnis zwischen dem betriebenen Aufwand und der kurzen, nichtssagenden Rede. Alle scheinen das so empfunden zu haben. Heinz und die Frankfurter schrieen ein um das andere Mal: „Hurra, hurra!“ Es inszenierte sich die Lust an der Selbstveräppelung.
Danach trank man stärker. Ich sah jetzt auch Schnapsflaschen kreisen, aus denen weiter hinten kleine Gläser voll geschenkt und schnell gekippt wurden. Der Geräuschpegel stieg im Nu noch einmal deutlich an, zumal man uns jetzt auch musikalisch beschallte.
Den Hauptteil des Abends habe ich noch mitbekommen, bevor ich gegangen bin. Biermann rezitierte aus der zum großen Teil von ihm selbst verfassten Bierzeitung. Er hatte auf gut ein Dutzend von uns Spottverse geschmiedet, über die zu lachen für die so Ausgezeichneten natürlich selbstverständlich war. Ja, auch ich gehörte zu diesen Prominenten, und ich wundere mich jetzt, dass es mich zunächst erstaunte. Ich gehe ja wie ein Unberührbarer zwischen ihnen herum und glaubte mich bisher vor Auf- und Zudringlichkeiten in Sicherheit. Meine Interesselosigkeit ihnen gegenüber hielt ich für eine schützende Membran, während sie tatsächlich in mindestens einer Richtung durchlässig zu sein scheint. Menschen wie Biermann verzeihen manches nicht, vor allem nicht, wenn einer nicht teilnimmt, nicht an ihren Vergnügungen, nicht an ihren Kümmernissen, nicht an der Teilnahme, die sie sich selbst zuwenden.
Ich musste vier boshafte Zeilen über mich anhören. Sie wurden belacht, wie alles andere auch, nicht mehr, nicht weniger. Ich saß da, äußerlich ungerührt – ich hatte mir rasch einen mäßig interessierten, neutralen Gesichtsausdruck zurechtgemacht – und war im Innern über so viel Hass dann doch erschrocken. Übrigens hat Biermann unzweifelhaft Talent.
Nachher bekamen alle von ihm persönlich ein Exemplar dieser Bierzeitung überreicht. Ich nahm meines an und begann in ihm zu blättern. Biermann ist auch ein begabter Illustrator. Er hat die Wirkung seiner giftigen Poeme mit Zeichnungen voll exakter und aggressiver Beobachtung zu erhöhen verstanden. Jetzt weiß ich, warum er mich in den letzten Wochen immer wieder so scharf gemustert hat. Ich habe ihm unfreiwillig, ahnungslos Modell gestanden und gesessen für eine gehässige Karikatur. Oder habe ich dabei wirklich eine so höhnische Miene zur Schau getragen?
Was hat er denn nun über mich gedichtet? Zu meinem Glück habe ich es so wenig an mich herankommen lassen, dass es sich mir mit seinen Einzelheiten nicht eingeprägt hat. Das Heftchen liegt schon in meinem Papierkorb, ich werde mich nicht nach ihm bücken.
Nicht mehr auslöschen kann ich dagegen die Erinnerung, wie Biermann in seinem Sudelbuch mit Heinz umgesprungen ist. Auch ihm wurde ein Gedicht gewidmet, länger als das auf mich gemünzte. Er ist der Bärtige aus Darmstadt. Schon über den Titel wurde viel gelacht: Genie im Kleinformat. Heinz lachte laut mit, wie geschmeichelt, ich sah es von meinem Platz aus mit rasch wachsendem Ärger. Genie im Kleinformat – wie scharfsinnig daneben … Es ist ja wahr, dass etwas ganz und gar Ungewöhnliches, in gewissem Sinn auch Genialisches an ihm ist, an seinem Auftreten, seiner Ausstrahlung, nur eben nicht an den Leistungen seines Kopfes. Es gehört in den Bereich der Seele. Übersetzt man es ins Verstandesmäßige, kommt zwangsläufig etwas Unzureichendes und Schiefes heraus. Höchst infam.
Und dann zu seiner Charakterisierung diese acht kleinen Wörter, bloß diese acht Einsilber: Er ist nicht Mensch, er ist nicht Tier … Das nahmen alle beifällig auf, wie die kürzestmögliche Formel für Heinz. Und auch er selbst billigte sie schweigend. Was für ein Wesen ist das denn: nicht Mensch, nicht Tier? Etwas dazwischen, meint Biermann wohl, wie ich ihn kenne. Nicht mehr ganz Tier, aber noch nicht ganz Mensch – also ein Mensch zweiter Klasse, allenfalls. Kein vollwertiger Mensch – am Ende ein Untermensch, wie das früher so schlimm genannt wurde?
Oder bezieht Biermann sich vielleicht auf etwas, das zwischen ihnen vorgefallen ist? Auf etwas Konkretes, das er, Biermann, mit äußerstem Nachdruck zurückweisen muss, indem er es für animalisch erklärt? Fragt sich dann nur, auf welches Tier er anspielen will.
Biermann gab auch Heinz ein Exemplar. Dabei lächelte er – durchbohrend: so will ich das einmal nennen. Heinz nahm die Broschüre wie ein Geschenk an, dessen Wert er zu würdigen versteht. Noch immer geschmeichelt. Da ging ich schnell hinaus.
Die meisten sind noch im Kasino, während ich hier seit einer Dreiviertelstunde schreibe. Wie ruhig es jetzt einmal auf den Etagen ist … Erwähnte ich schon, dass es hier sonst weiterhin mit der Abend- und Nachtruhe nicht weit her ist?

Der Stumpfsinn geht immer weiter. Die vielen Stunden, die man hier ohne Gewinn absitzt! Welche Nieten bei uns als Dozenten auftreten! Da kommen Justizassessoren angereist, die uns auf die nahe Prüfung vorbereiten sollen und dabei selbst bedeutend weniger Wissen aufweisen als die meisten ihrer Zuhörer. Grotesk und peinlich ihre Ahnungslosigkeit, die sich von Stunde zu Stunde deutlicher herausstellt.
Man hätte uns auch jene älteren Herren ersparen sollen, die nicht mehr imstande sind, längere Zeit vor vierzig bis fünfzig Menschen zu sprechen. S., ein scheidender Hauptgeschäftsführer, ist auch so ein Fall, er ist diese Woche dran. Im Grunde eine biedere, sympathische Seele, ein Linksliberaler alter Prägung … Er ist sehr müde und weiß selbst am besten, dass er nicht mehr die Kraft hat, über Stunden Hörer im Bann seines Vortrags zu halten. „Ich habe versucht, Ihnen zu verdeutlichen, dass …“ versichert er von Zeit zu Zeit schüchtern. Er beteuert des Öfteren, dass er „zwar einen Knieschaden, aber keinen Dachschaden“ habe und bittet, sich setzen zu dürfen. Dann kauert er hinter dem Tisch auf dem Podium, leicht zusammengekrümmt, manchmal sehr leise, fast unverständlich werdend. Gelegentlich hat er sogar Wortfindungsstörungen.
Man ist auch um unsere politische Bildung besorgt. Ein Ausflug zur Zonengrenze – so heißt das natürlich hier - ist Bestandteil eines jeden Abschlusslehrgangs. Wir haben ihn schon hinter uns. Doktor Friedrichsen hatte drei Busse geordert, mit denen wir ins Gebirge chauffiert wurden. Einer war ein Veteran und schaffte die Steilstrecke aus der Tiefebene hinauf beinahe nicht mehr. Also passten die beiden anderen ihre Geschwindigkeit seiner an und alle drei schlichen mit Tempo fünfzehn zur Passhöhe hinauf. Endlich kamen wir auf dem Parkplatz vor dem Bergdorf an, das immer angesteuert wird. Von dort sind die Grenzanlagen besonders gut zu überblicken. Alle achtundachtzig stiegen aus. Doktor Friedrichsen instruierte uns über den weiteren Ablauf – und dabei passierte es ihm, dass er sich mal wieder verhaspelte. Die, die den ersten Bus verließen, hörten von ihm, die Rückfahrt sei für siebzehn Uhr geplant, und zerstreuten sich sogleich in der weitläufigen Gegend. Tatsächlich sollte zwei Stunden früher weitergefahren werden. Nun mussten alle die Zeit dort oben totschlagen und das restliche Programm entfiel. Was macht man vier Stunden in H.? Wir bevölkerten die Cafés.

Und jetzt gibt es bei uns eine wirkliche und blutige Katastrophe! Dass ich auch das noch festhalten muss … Zwar bin ich noch immer wie vor den Kopf gestoßen – und doch: Hat es sich nicht vorbereitet und angekündigt, dieses Unheil? Hier lag so viel in der Luft – musste einer geopfert werden? Aber warum dann gerade er?
Ich habe nie ein Wort mit ihm gesprochen. Er war Mitte vierzig, verheiratet, hatte zwei Kinder; kam aus Krefeld. Fast immer kam er mir gut gelaunt vor, unangemessen gut gelaunt, will ich sagen. Er war etwas dicklich und schon recht bequem. Seine Kollegen machten sich darüber lustig, dass er Abend für Abend pünktlich um acht mit einer Flasche Bier immer denselben Sessel vor dem Fernsehapparat im Kasino belegte, alles nur über sich ergehen ließ und stets bis zum Sendeschluss ausharrte. Sein ganzer Heroismus schien in dieser totalen Passivität zu bestehen.
Vorgestern feierte man abends im sechsten Stock einen Geburtstag, geräuschvoll wie immer. Wie ich erst vorhin erfahren sollte, erlaubte sich einer dabei den Scherz, von oben eine leere Bierflasche auf den Wagen des Krefelders zu werfen. Der ärgerte sich still über die Beulen – er war nicht auf der Party gewesen - und brachte gestern Mittag das Auto zur Reparatur. Nachher saß er wieder mit uns im Hörsaal, als draußen auf der Kreuzung zwei Wagen laut krachend zusammenstießen und uns aus unserem Dösen jäh aufschreckten. Ich sah ihn in der bald folgenden Pause mit den meisten anderen hinausgehen, der vermeintlichen Sensation auf der Spur. Dann kamen sie zurück, alle hörbar enttäuscht: nur Blechschaden, kein Blut - doch immerhin: erst sechzehntausend Kilometer drauf.
Vierundzwanzig Stunden später ließ sich der Krefelder von einem Kollegen aus Aachen zur Werkstatt fahren, um den eigenen Wagen abzuholen. Sie nutzten dafür eine Pause und es pressierte natürlich. Sie kamen an die Stelle, an der die Ausfallstraße das Bahngleis kreuzt. Das Signal stand auf „rot“. Der Aachener fuhr trotzdem mit hohem Tempo weiter. Von rechts kam ein Schienenbus, erfasste das Auto und schleifte es dreißig Meter weit mit.
Zu der Zeit saßen die meisten von uns schon wieder im Hörsaal. Kurz darauf hörten wir die Martinshörner von Polizei und Feuerwehr. Dann kam einer herein und rief es uns zu: „Schwerer Unfall! Der Wagen aus Aachen! Wer war noch drin?“
Wir rannten alle aus dem Hörsaal und kurz darauf starteten an die zwanzig Fahrzeuge zur Unfallstelle. Sie war weiträumig abgesperrt. Das Wichtigste erfuhren wir hintenherum, scheibchenweise.
Der Krefelder war gleich tot gewesen. Der Aachener - übrigens ein sanfter und hübscher Mann, schwarzhaarig, mit dunklem Teint – liegt lebensgefährlich verletzt in einem Krankenhaus. Lungenriss, heißt es, und die Nieren sollen auch beteiligt sein.
Noch nie war es im Hochhaus abends so ruhig gewesen wie heute. Sage und schreibe: Totenstille.
 



 
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