Nicht Mensch nicht Tier: 6. Nur ein dummes Lied

Sehr still verlief auch das Frühstück heute Morgen, dem Morgen nach dem Unglück. Man sprach wenig und leise. Dann schlichen wir alle hinüber in die Vorlesungen. So geht man von einem Grab fort, an dem man sich von einem plötzlich und unerwartet Verstorbenen verabschiedet hat. Es ist da etwas geschehen, das durchaus nicht hätte vorkommen dürfen. Und das Geschehnis empfindet man als einen Vorwurf gegen sich selbst, einen Vorwurf, den man zurückweisen möchte, nur findet man keinen Ansatz, um sich zu entlasten. Wir wissen inzwischen alles über das Unglück, darüber gibt es nichts mehr auszutauschen. Das ist der Zeitpunkt, an dem die peinlichen Gefühle zu überwiegen beginnen.
Der Dozent kam in Begleitung von Doktor Friedrichsen, dem er das Wort zunächst überließ. Der Leiter fand zugleich trockene und ergreifende Worte. Wir standen für eine Minute auf und gedachten des Toten. Damit war den hergebrachten Formen Genüge getan. Wie Doktor Friedrichsen es ausdrückte: Leben und Lehrgang gehen weiter. Wir bereiten uns weiter auf die Prüfung vor und sollen dem schwer Verletzten einen Platz in unserem Hinterkopf einräumen. Von seiner Lebensgefahr war zu unserer Erleichterung nicht mehr die Rede.
Am Nachmittag vollzog sich dann ein allgemeiner Stimmungsumschwung. Die Gespräche belebten sich wie die Gesichter. Wir fanden schon zurück zur Normalität. Es gab wieder andere interessante Themen. Die Teilnahme an dem, was vierundzwanzig Stunden vorher geschehen war, erstarb binnen kurzem. Das war ein sehr auffallender Vorgang, ein sich Wiederbeleben aus bewusstem eigenem Entschluss.
Während ich hier auf meinem Zimmer schreibe, beginnt rundum der Bienenstock wieder in der üblichen Weise zu summen und zu rumoren. Sind wir nicht alle jung? Musik liegt auch schon wieder in der Luft. All das kommt mir vor wie ein absichtliches Vergessen, ein Zurückfallen in den alten, bösen Trott. Sie weigern sich, über das abrupte Ende einer vielleicht sinnlosen Existenz nachzudenken, über seine Ursachen und seine Hintergründe.
Und ich selbst wende mich ja auch ab. Es gab da heute Morgen mitten in der allgemeinen Noch-Trauer oder Schockstarre ein Ereignis, das mich tief berührte und beinahe ein wenig glücklich machte. Ich muss etwas ausholen …
Jetzt, da es zunehmend herbstlich und unfreundlich geworden ist, verbringen die meisten von uns die große Pause zwischen den zwei Vorlesungen morgens nicht mehr draußen bei den immergrünen Büschen. Es hat sich eingebürgert, für eine Viertelstunde ins Kasino hinüberzugehen. Dort findet dann neuerdings auch die Verteilung der Privatpost an die Adressaten statt. Man geht ein wenig herum oder nimmt gleich an seinem gewöhnlichen Tisch Platz. Doch wird die Tischordnung der Mahlzeiten nicht streng beachtet. Wer ein Gespräch sucht, lässt sich auch einmal auf einem fremden Platz nieder.
Heute Morgen saß ich mit Kraushaar und einem Hannoveraner an unserem Tisch zusammen. Die übrigen Berliner fehlten. Mit Kraushaar kann ich gar nicht reden, ich finde ihn nur beschränkt. Umso besser versteht er sich mit dem aus Hannover. Wir saßen keine zwei Minuten, als Heinz hereinkam und sich suchend im Raum umsah. Dann ging er nicht wie sonst zu seinen Frankfurtern, sondern kam auf uns zu. Wir beide sahen uns dabei an, viel länger als es zuletzt üblich war. Er hockte sich mir genau gegenüber hin und blieb da bis zum Ende der Pause sitzen. Er sagte in der ganzen Zeit kein einziges Wort, er saß nur stumm und trauernd da. Das Gespräch der anderen beiden versandete allmählich. Wir gedachten jetzt alle des Toten, vermute ich. Ab und zu sah mich Heinz wieder groß an, und ich las nicht nur Trauer auf seinem jetzt sprechenden Gesicht, sondern noch etwas: Nähe zwischen uns und Einverständnis mit mir.
Er drückte schweigend alles aus. Er war mir wieder nah. Er nahm manches zurück. Er war voller Würde, er war jetzt schön. Als es Zeit war, dass wir wieder hinübergingen, stand er als Letzter auf und seufzte leise.
Wie verschieden er von allen anderen hier ist … Neulich habe ich aufgeschnappt, wie Weber sich einmal über die Herkunft von Nicht Mensch nicht Tier ausließ. Heinz kommt also aus der ländlichen Umgebung von Darmstadt, nicht direkt aus der Stadt. Weber sagte: Du Bauernbub, du Bauerndepp … Und Heinz (der Bergsträßer) gab zurück: Weinbauernbub, Obstbauernbub …
Es waren glückliche Minuten heute Morgen, für mich. Doch jetzt kommt mir ein neuer Gedanke und versäuert mir die Erinnerung: Hätte ich meinen Mund aufmachen und etwas über das Unglück sagen sollen? Hat er das von mir erwartet? Ich stelle fest: Während er mir gegenüber saß, empfand ich nur Übereinstimmung mit ihm und seinen Empfindungen (sie waren ja so deutlich) – aber er, muss er das auch so empfunden haben? Ein Rest Fremdheit bleibt zwischen uns selbst in einer derartigen Grenzsituation. Ich versuche mich mit dem Ort zu rechtfertigen: An einem Tisch sitzend mit zwei mir Gleichgültigen, hätte ich mich ihm gegenüber, der mir hier alles bedeutet, nicht aussprechen können.

Die Akademie ist weiterhin um unsere umfassende Bildung bemüht. Wie alle Lehrgänge vor uns wurde auch unserer jetzt zu den großen Stahlwerken in der Nähe gefahren. Wir sahen, wie in der Kokerei aus Kohle Koks wurde, wir erlebten einen Hochofenabstich, hielten uns längere Zeit in der Rohstahlproduktion auf und wanderten in einer Walzwerkshalle eine mehrere hundert Meter lange Bandstraße entlang.
Man sollte viel öfter Gelegenheit haben, Fabriken von innen zu sehen. Die Werke der Großindustrie sind überwältigend und bedrückend zugleich – überwältigend für die Sinne und bedrückend für den Geist. Die Welt, in der das Millionenheer der Arbeiter Woche um Woche vierzig oder mehr Stunden verbringt, ist uns Verwaltungsmenschen sehr fremd. Ich wusste nichts, gar nichts vom Arbeiter. Nach einem Besuch in diesen Hallen, in der Maschinenwelt vermute ich, dass, wer annähernd den dritten Teil seiner Zeit dort zubringt, notwendigerweise ein anderes Lebensgefühl haben muss als unsereins.
Die in Eisenhütte und Stahlwerk ausgenutzten Elementarkräfte kamen mir schlechthin gigantisch vor. Man sah verhältnismäßig wenige Menschen. Sie hatten nichts Bedrücktes an sich. Der Umgang, der verantwortliche Umgang mit solchen Riesenkräften an Feuer, Wasser, Dampf und Gasen, dieser anschauliche und auf brutale Weise schöpferische Produktionsprozess (wie aus Erz Eisen, aus Eisen Stahl und aus Stahl das jeweils gewünschte Blech wird) – all das scheint mir die dort Tätigen selbstbewusster und „freier“ zu machen als andere Arbeitnehmer, obwohl doch ihre Tätigkeit nicht weniger fremdbestimmt ist.
Vor dem Ende unseres Rundgangs gab es einen Zwischenfall, einen Missklang. Der Ingenieur, der uns führte, ertappte einen von uns, wie er in einer dunklen Ecke sein Wasser abschlug. Er tadelte ihn kurz und mit scharfen Worten und schloss ihn sofort von der weiteren Besichtigung aus. Und der, der mit seinem Pissen den Stolz auf die Industriearbeit und das Gefühl für ihre Würde verletzte, kommt ausgerechnet aus dem Ruhrgebiet …

Wenn mir Heinz vor Augen oder in den Sinn kommt, empfinde ich neuerdings zunehmend starke Schuldgefühle. Warum nur? Er gibt mir doch jetzt immer wieder Zeichen einer viel versöhnlicheren Einstellung … Er ist ohnehin nicht der Mensch, der eine starke Abneigung lange durchhält. Und der schwere, katastrophale Unfall neulich hat bei ihm dann den Durchbruch bewirkt. Schön für mich …
Wir registrieren uns also wieder. Und wir signalisieren uns, dass wir uns registrieren. Das geschieht nicht mehr nur bei den Mahlzeiten, wie früher schon von Tisch zu Tisch – wir vergewissern uns zum Beispiel auch wieder während der Vorlesungen, ob der andere anwesend ist und in welcher Verfassung er sich befindet und wie er auf ein Vorkommnis oder auch nur eine Äußerung, die gefallen ist, reagiert. Dabei sitzen wir im Hörsaal recht weit auseinander.
Es freut ihn sichtlich, wenn ich über einen seiner kindlich harmlosen Späße lache. Er scherzt mit anderen vor meinen Ohren und dann sucht er mein Lächeln. Er sucht es gelegentlich sogar, wie ich sehr wohl bemerkt habe, zu provozieren. Das Schauen und das Lächeln, das sind tatsächlich die einzigen Arten von Kommunikation mit ihm, die bei mir nicht blockiert sind. Dass ich ihn mag, darüber dürfte er sich jetzt endgültig klar geworden sein, so rätselhaft und undurchschaubar ich sonst noch immer für ihn sein mag.

Es war eines von den amüsanteren Berliner Wochenenden – ich verbringe die freien Tage jetzt fast alle wieder in der Stadt. Dort pflegt man die offene Aussprache, dort wenigstens kommt man sich näher … Schon auf der Hinfahrt fange ich gleich hinter Dreilinden an, mich zu entspannen. Ich will mir aber nichts vormachen: Diese Nähe ist keine Herzensnähe. Man ist dort unbeschwerter, da man den anderen gerade so offen und leichtfertig betrachten und beurteilen darf wie sich selbst. Das ist es, was so entlastend wirkt.
Am Freitagabend stieß ich im MC auf Egon, den Chemiestudenten. Wir hatten uns fast ein Jahr nicht mehr gesehen und ich fand ihn sehr verändert. Äußerlich ist er passabler geworden, nicht mehr so dicklich und jetzt erstaunlich unbefangen. Er hat sich etwas verspätet doch noch politisiert. Kaum zu glauben: Egon arbeitet in einer Roten Zelle mit, allerdings einer sehr speziellen. Rufus sagte mir hinterher, zu den wesentlichen revolutionären Neuerungen seiner Gruppe gehöre es, untereinander unablässig weibliche Personal- und andere Pronomina sowie die Anrede „Liebe Freundin“ zu verwenden. Auf mich wirkt es aufgesetzt, wie Egon, der früher so Verklemmte und auf komplizierte Weise Jungenhafte, jetzt mit Worten herumtölt. Seinem physischen Auftreten fehlt sonst jeder feminine Zug. Das ergibt einen seltsamen Kontrast.
Und dann rief mich Gunnar nach langer Zeit wieder einmal an. Er wollte mich am Samstagabend zu Leuten aus der Niebuhrstraße mitnehmen. Ich tat ihm den Gefallen. Wir trafen uns also am Kranzlereck und er bereitete mich unterwegs schonend auf die Verhältnisse vor. Tatsächlich fand ich ein Milieu vor, das mir dem von Egons Roter Zelle genau entgegengesetzt und doch wiederum auf eine vertrackte Weise tief innerlich verwandt zu sein scheint. Die Inhaber der riesigen Wohnung, zwei Männer um die vierzig, boten eine unfreiwillige und ihnen selbst wohl kaum bewusste Parodie auf das gewöhnliche trübe Familienleben. Es fehlten da nur noch die aufsässigen Gören, die wider die etablierten Alten rebellieren.
Die Gäste auf ihrer Geburtstagsparty waren fast alle Tunten um die dreißig, die meisten schon stark verfettet, und ich fand sie beschränkt und in ihren Anschauungen und Gewohnheiten erschreckend bürgerlich. Ein korpulenter, gutmütiger Knabe erkundigte sich gleich hintenherum bei Gunnar, ob ich noch zu haben sei. Später zwang er mich zum Tanzen und er fragte: „Willst du führen?“ Er stank nach Zwiebeln und Knoblauch, das üppige Kalte Buffet schien ihm geschmeckt zu haben. Ich musste auch noch mit dem Geburtstagskind kurz über die Tanzfläche watscheln - es roch penetrant nach Seife. Dann gab es das launische Getue einer alten Lesbierin …
Ich gab Gunnar zu verstehen, dass ich mich langweilte und nicht einmal schuldbewusst sei. Wir gingen recht früh und fuhren in die Rio-Bar. Sie war wieder einmal überfüllt. Wir ließen uns stundenlang treiben und herumstoßen und ich war schon verkatert, als ich um halb sieben nach Hause kam und auch diesmal allein ins Bett ging.

Und doch … Am kommenden Freitag fahre ich schon wieder nach Berlin. Nur dort liegen meine Chancen, ist meine Zukunft. Hier in L. habe ich nichts mehr zu gewinnen. Das führt mir Heinz täglich ungewollt vor Augen, Heinz, meine große Niederlage, vielleicht die letzte außerhalb von Berlin. Er spürt noch immer die Anziehungskraft, die er auf mich ausübt, er versucht noch immer, sich mir zu nähern und mit mir zu sprechen, ernsthaft mit mir zu reden – aber ich werde das nie schaffen: alles einzusetzen und mir jede Rückzugsmöglichkeit abzuschneiden. Furcht und Misstrauen beherrschen mich und ich wage mich nicht aus meinem Schlupfwinkel heraus. Ich speise ihn weiterhin sehr kurz und dabei konventionell lächelnd mit den gängigsten und banalsten Floskeln ab.
Wenn er mir begegnet und wieder einen neuen Anlauf nimmt, nach so vielen gescheiterten, dann ist er rührend und schüchtern. Ich bin auch schüchtern, aber ich rühre nur mich selbst. Und ich bin in Wahrheit nicht wirklich schüchtern, sondern nur gehemmt.
Ich glaube nicht, dass sich zwischen uns noch viel ändern wird. Ich könnte mich damit belügen und mir vortäuschen, meine Niederlage im Kampf gegen mich selbst hätte nicht endgültig sein müssen, wenn uns mehr Zeit zur Verfügung gestanden hätte. Dass auch die räumliche Enge hier an der Akademie schuld sei. Oder die vielen Hundert Kilometer, die zwischen Berlin und Darmstadt liegen. Oder dieser Ring an seiner Rechten …
All das sind nur Umschreibungen. Ich glaube, tatsächlich würde alles fortgerissen werden, wenn wir uns näher kommen könnten. Genau das habe ich von Anfang an gespürt und ich habe es heimlich auch gehofft. Und ich kann es nicht verwirklichen. Es ist nicht anders.
Nur noch drei Wochen bis zur Prüfung und zur Abreise. Er hat schon jetzt seinen Bart abgenommen, auch den Schnurrbart. Nun wirkt er noch sanfter und oft verlegen. Ich sehe vor mir einen weichen, einen kindlichen Mann ohne Falschheit, ohne Bosheit.
Ich werde das nie verwinden.

Sie nannten ihn heute bei Tisch das Charakterschwein Beck. Er hat sich doch tatsächlich noch einmal hierher gewagt, um seinen abschließenden einstündigen Vortrag zu halten. Welche Woge von Hass ihm entgegenschlug, in Form von Blicken, Körperhaltungen und Verfärbungen der Mienen … Mir scheint, je ohnmächtiger sie damals bei der Klausur waren, umso mehr hassen sie ihn jetzt. Und ich … versuchte ihn zu studieren. Ob es ihm innerlich zu schaffen machte, war für mich nicht zu erkennen. Deutlich war nur sein Bemühen, sich auf keinen Fall unterkriegen zu lassen, den Vortrag trotz dieser mächtig anbrandenden Woge von Ablehnung zu Ende zu bringen. Wir hatten es mit einem fanatischen Selbstbehauptungswillen zu tun.
Bin ich da zum ersten Mal einem Prototyp des, wenn man so sagen darf, grenzenlos bornierten Machtmenschen persönlich begegnet? Er ähnelt jenem anderen auffallend, der in diesen Zeiten unbedingt unser nächster Kanzler werden will. Er wirkt anämisch wie jener, ist eisern diszipliniert, fern von jeder Emotion. Mit äußerster Präzision verfolgt er sein einziges Ziel – auf lange Sicht Leiter der Akademie zu werden -, dieses Ziel, dem alles untergeordnet ist. Er ist roboterhaft, auf tausend Widerstände schon programmiert. Er kennt alle Finessen von Strategie und Taktik, er kann ebenso gut stahlhart-autoritär sein wie verlogen-schleimig. Eine seelenlose Maschine, mit Fleisch und Blut nur getarnt, das ist Beck – ich hasse ihn nicht, mir graut nur vor ihm.
Ist einer wie er der Mann der Zukunft? Produzieren ihn der allgegenwärtige Leistungsdruck, die Vergötzung der Funktionalität, der permanente Zwang zur Anpassung?
Ich sah gelegentlich zu Heinz hinüber. Er hielt den Blick dauernd gesenkt, spielte mit seinem Schreibgerät.
In diesen Tagen hat uns Doktor Friedrichsen versteckte, gleichwohl nicht misszuverstehende Andeutungen über einige Gegenstände der Prüfungsklausuren gemacht. Er kam eigens dazu in eine morgendliche Vorlesung und unterbrach sie für vier, fünf Minuten. Wir erfuhren nun auch, dass sich im Vorjahr ein Trio von Prüflingen hinterher daheim beschwert hat: über ihn, Doktor Friedrichsen, über die Dozenten, über Unterkunft, Verpflegung, Lärmbelästigung und die Klausuren … Bei der schriftlichen Prüfung sei massiv gepfuscht worden. Es rumorte damals eine Zeitlang im Verband. Um den Schein zu wahren, schloss man drei Teilnehmer, die es zu arg getrieben hatten, von der mündlichen Prüfung aus. Womit man sich Prozesse einhandelte, die zum Teil noch laufen.
Doktor Friedrichsen suggerierte uns geschickt die Moral hinter der Geschichte: Im eigenen Interesse Maul halten. Pfuschen ist erlaubt, aber es muss unter uns bleiben. – Über die drei Denunzianten herrschte sogleich allgemeine Empörung. Und ich? Mir ist dieser Doktor Friedrichsen immer noch ein wenig angenehmer als sein mutmaßlicher Nachfolger.
Seine Eröffnungen haben den Lerneifer noch einmal beflügelt. Jetzt hocken sie auf ihren Zimmern und machen sich kundig – wahre Spezialisten. Und nimmt man die Geräuschkulisse als Maßstab, so muss die allgemeine Stimmung prächtig sein. Von oben wie von unten und von allen Seiten höre ich es klingen, singen, juchzen, fiedeln, schrammeln und wummern. Das ganze Haus ist jetzt eine einzige Musicbox.
Gestern erschien plötzlich wie ein Schatten der Todesfahrer im Kasino. Er war sehr bleich unter seinem dichten schwarzen Haar und ging an Krücken. Sie hatten ihn eben aus dem Krankenhaus entlassen, und er kam, um sich zu verabschieden. Er sagte nur zu wenigen ein paar Worte. Wenigstens ihn hat, was geschehen ist, zu einem Unberührbaren gemacht. Es blieb viel Abstand um ihn. Man brachte ihn zum Bahnhof und wird ihm seine Sachen nach Hause schicken. Vielleicht wird er nächstes Jahr wieder nach L. kommen …

Noch zwei Wochen. Der Himmel über L. ist Tag für Tag einheitlich grau, während sich unsere Stimmung immer mehr aufhellt. Wohl keiner, der nicht gern an die Abreise denkt. Obwohl die Prüfung noch bevorsteht, scheinen die persönlichen Bilanzen schon gezogen. Wer die Zeit hier zuerst leichtfertig als eine Art Urlaub mit mehr Freiheit und mehr Spaß angesehen hat, ist vermutlich längst ernüchtert worden. Alle haben sich abgefunden und kehren gern in ihre gewohnten Verhältnisse zurück.
Wirklich alle?
Es war heute Morgen in der großen Pause … Ich ließ mir Zeit beim Verlassen des Hörsaals. Kann nicht einmal sagen, warum ich gegen meine Gewohnheit trödelte. So war die Masse schon drüben, als ich mit den Letzten hinausging. Ich sah erst jetzt, dass Heinz in meiner Nähe war. Er ging drei Schritte vor mir her durch den Vorraum.
Um nicht in dem kleinen Pulk mitgehen zu müssen, vermied ich den kurzen geraden Weg ins Kasino und schlug den längeren durch die kleine Grünanlage am Parkplatzrand ein.
Ich kam an den beschnittenen Buchsbäumchen vorbei, als ich ihn hinter mir hörte. Wir beide waren jetzt allein dort, das war mir sogleich unangenehm. Und dann sang er – Heinz sang! Ich hatte ihn bis dahin noch nie singen gehört.
Er singt nicht gut. Seine Stimme ist ein wenig brüchig und natürlich nie ausgebildet worden. Ich glaube, er ist nur wenig musikalisch und er weiß es wahrscheinlich auch. Es war also nur ein Sprechgesang, mit dem Original kaum zu vergleichen. Umso klarer verstand ich den Text …
Er kopierte Chris Roberts mit Hab ich dir heute schon gesagt, dass ich dich liebe. Er wiederholte einfach nur die Titelzeile, zweimal, dreimal, zunehmend langsamer und auch leiser werdend, wie über den Gehalt des bescheidenen Liedchens nachsinnend.
Sonst nichts. Wir gingen einfach weiter und kamen anderthalb Minuten später im Kasino an. Hockten uns auf unsere gewöhnlichen Plätze. Es war dann alles wie jeden Morgen.
Bisher habe ich in meiner Niederschrift stets festgehalten, was mir in Bezug auf Heinz bedeutsam vorkam. Ich konnte dieses heutige Detail also schwer fortlassen, die Erinnerung ist ja noch zu frisch. Müsste ich nicht auch beschreiben, wie ich mich zu seinem Vortrag verhalten habe, ob ich mir irgendetwas äußerlich habe anmerken lassen und wie ich mich dazu innerlich gestellt habe? Ich kann es nicht. Davon habe ich kein Bewusstsein. Merkwürdig, gewöhnlich beobachte ich mich doch selbst scharf oder glaube es wenigstens. Wenn ich mich bewusst blind und taub stelle, weiß ich das sehr gut. Ich weiß, wann ich fälsche.
Aber diesmal? Ich kann nicht sagen, ob ich langsam oder rascher weitergegangen bin. Und noch weniger weiß ich, was ich währenddessen empfunden habe. Als ob ich gewissermaßen anästhetisiert gewesen wäre.
Schlager an sich mag ich durchaus nicht. Ich kann ihnen nichts abgewinnen, den deutschen am allerwenigsten. Adorno sagt irgendwo – ich kann es hier jetzt leider nicht nachschlagen -, Schlager seien Gefühlsersatz. Ich glaube, er geht noch weiter und behauptet an jener Stelle, die Leute fühlten sich bloß zu bestimmten Gefühlen verpflichtet und um sie sich zu suggerieren, hörten sie die Schlager an. Na ja, das ist vielleicht ein wenig überspitzt formuliert.
Wie auch immer, den gewöhnlichen deutschen Schlager unserer Tage finde ich unsäglich, bloß albern und eben wirklich repressiv. Andererseits muss ich zugeben, dass sie geeignet sind, bei den Massen mächtig auf das Unterbewusste zu wirken. Während sie die Texte anhören oder mitsingen, wird da ohne Zweifel eine Gemütsverfassung ausgedrückt und vor allem vertieft.
Hab ich dir heute schon gesagt, dass ich dich liebe? – Ich weiß ja nicht einmal mit Bestimmtheit, wer oder was ihn in diese Stimmung romantischer Liebebedürftigkeit gebracht haben kann, so wie sie jenes armselige Liedchen ausdrückt.
 
Sehr still verlief auch das Frühstück heute Morgen, dem Morgen nach dem Unglück. Man sprach wenig und leise. Dann schlichen wir alle hinüber in die Vorlesungen. So geht man von einem Grab fort, an dem man sich von einem plötzlich und unerwartet Verstorbenen verabschiedet hat. Es ist da etwas geschehen, das durchaus nicht hätte vorkommen dürfen. Und das Geschehnis empfindet man als einen Vorwurf gegen sich selbst, einen Vorwurf, den man zurückweisen möchte, nur findet man keinen Ansatz, um sich zu entlasten. Wir wissen inzwischen alles über das Unglück, darüber gibt es nichts mehr auszutauschen. Das ist der Zeitpunkt, an dem die peinlichen Gefühle zu überwiegen beginnen.
Der Dozent kam in Begleitung von Doktor Friedrichsen, dem er das Wort zunächst überließ. Der Leiter fand zugleich trockene und ergreifende Worte. Wir standen für eine Minute auf und gedachten des Toten. Damit war den hergebrachten Formen Genüge getan. Wie Doktor Friedrichsen es ausdrückte: Leben und Lehrgang gehen weiter. Wir bereiten uns weiter auf die Prüfung vor und sollen dem schwer Verletzten einen Platz in unserem Hinterkopf einräumen. Von seiner Lebensgefahr war zu unserer Erleichterung nicht mehr die Rede.
Am Nachmittag vollzog sich dann ein allgemeiner Stimmungsumschwung. Die Gespräche belebten sich wie die Gesichter. Wir fanden schon zurück zur Normalität. Es gab wieder andere interessante Themen. Die Teilnahme an dem, was vierundzwanzig Stunden vorher geschehen war, erstarb binnen kurzem. Das war ein sehr auffallender Vorgang, ein sich Wiederbeleben aus bewusstem eigenem Entschluss.
Während ich hier auf meinem Zimmer schreibe, beginnt rundum der Bienenstock wieder in der üblichen Weise zu summen und zu rumoren. Sind wir nicht alle jung? Musik liegt auch schon wieder in der Luft. All das kommt mir vor wie ein absichtliches Vergessen, ein Zurückfallen in den alten, bösen Trott. Sie weigern sich, über das abrupte Ende einer vielleicht sinnlosen Existenz nachzudenken, über seine Ursachen und seine Hintergründe.
Und ich selbst wende mich ja auch ab. Es gab da heute Morgen mitten in der allgemeinen Noch-Trauer oder Schockstarre ein Ereignis, das mich tief berührte und beinahe ein wenig glücklich machte. Ich muss etwas ausholen …
Jetzt, da es zunehmend herbstlich und unfreundlich geworden ist, verbringen die meisten von uns die große Pause zwischen den zwei Vorlesungen morgens nicht mehr draußen bei den immergrünen Büschen. Es hat sich eingebürgert, für eine Viertelstunde ins Kasino hinüberzugehen. Dort findet dann neuerdings auch die Verteilung der Privatpost an die Adressaten statt. Man geht ein wenig herum oder nimmt gleich an seinem gewöhnlichen Tisch Platz. Doch wird die Tischordnung der Mahlzeiten nicht streng beachtet. Wer ein Gespräch sucht, lässt sich auch einmal auf einem fremden Platz nieder.
Heute Morgen saß ich mit Kraushaar und einem Hannoveraner an unserem Tisch zusammen. Die übrigen Berliner fehlten. Mit Kraushaar kann ich gar nicht reden, ich finde ihn nur beschränkt. Umso besser versteht er sich mit dem aus Hannover. Wir saßen keine zwei Minuten, als Heinz hereinkam und sich suchend im Raum umsah. Dann ging er nicht wie sonst zu seinen Frankfurtern, sondern kam auf uns zu. Wir beide sahen uns dabei an, viel länger als es zuletzt üblich war. Er hockte sich mir genau gegenüber hin und blieb da bis zum Ende der Pause sitzen. Er sagte in der ganzen Zeit kein einziges Wort, er saß nur stumm und trauernd da. Das Gespräch der anderen beiden versandete allmählich. Wir gedachten jetzt alle des Toten, vermute ich. Ab und zu sah mich Heinz wieder groß an, und ich las nicht nur Trauer auf seinem jetzt sprechenden Gesicht, sondern noch etwas: Nähe zwischen uns und Einverständnis mit mir.
Er drückte schweigend alles aus. Er war mir wieder nah. Er nahm manches zurück. Er war voller Würde, er war jetzt schön. Als es Zeit war, dass wir wieder hinübergingen, stand er als Letzter auf und seufzte leise.
Wie verschieden er von allen anderen hier ist … Neulich habe ich aufgeschnappt, wie Weber sich einmal über die Herkunft von Nicht Mensch nicht Tier ausließ. Heinz kommt also aus der ländlichen Umgebung von Darmstadt, nicht direkt aus der Stadt. Weber sagte: Du Bauernbub, du Bauerndepp … Und Heinz (der Bergsträßler) gab zurück: Weinbauernbub, Obstbauernbub …
Es waren glückliche Minuten heute Morgen, für mich. Doch jetzt kommt mir ein neuer Gedanke und versäuert mir die Erinnerung: Hätte ich meinen Mund aufmachen und etwas über das Unglück sagen sollen? Hat er das von mir erwartet? Ich stelle fest: Während er mir gegenüber saß, empfand ich nur Übereinstimmung mit ihm und seinen Empfindungen (sie waren ja so deutlich) – aber er, muss er das auch so empfunden haben? Ein Rest Fremdheit bleibt zwischen uns selbst in einer derartigen Grenzsituation. Ich versuche mich mit dem Ort zu rechtfertigen: An einem Tisch sitzend mit zwei mir Gleichgültigen, hätte ich mich ihm gegenüber, der mir hier alles bedeutet, nicht aussprechen können.

Die Akademie ist weiterhin um unsere umfassende Bildung bemüht. Wie alle Lehrgänge vor uns wurde auch unserer jetzt zu den großen Stahlwerken in der Nähe gefahren. Wir sahen, wie in der Kokerei aus Kohle Koks wurde, wir erlebten einen Hochofenabstich, hielten uns längere Zeit in der Rohstahlproduktion auf und wanderten in einer Walzwerkshalle eine mehrere hundert Meter lange Bandstraße entlang.
Man sollte viel öfter Gelegenheit haben, Fabriken von innen zu sehen. Die Werke der Großindustrie sind überwältigend und bedrückend zugleich – überwältigend für die Sinne und bedrückend für den Geist. Die Welt, in der das Millionenheer der Arbeiter Woche um Woche vierzig oder mehr Stunden verbringt, ist uns Verwaltungsmenschen sehr fremd. Ich wusste nichts, gar nichts vom Arbeiter. Nach einem Besuch in diesen Hallen, in der Maschinenwelt vermute ich, dass, wer annähernd den dritten Teil seiner Zeit dort zubringt, notwendigerweise ein anderes Lebensgefühl haben muss als unsereins.
Die in Eisenhütte und Stahlwerk ausgenutzten Elementarkräfte kamen mir schlechthin gigantisch vor. Man sah verhältnismäßig wenige Menschen. Sie hatten nichts Bedrücktes an sich. Der Umgang, der verantwortliche Umgang mit solchen Riesenkräften an Feuer, Wasser, Dampf und Gasen, dieser anschauliche und auf brutale Weise schöpferische Produktionsprozess (wie aus Erz Eisen, aus Eisen Stahl und aus Stahl das jeweils gewünschte Blech wird) – all das scheint mir die dort Tätigen selbstbewusster und „freier“ zu machen als andere Arbeitnehmer, obwohl doch ihre Tätigkeit nicht weniger fremdbestimmt ist.
Vor dem Ende unseres Rundgangs gab es einen Zwischenfall, einen Missklang. Der Ingenieur, der uns führte, ertappte einen von uns, wie er in einer dunklen Ecke sein Wasser abschlug. Er tadelte ihn kurz und mit scharfen Worten und schloss ihn sofort von der weiteren Besichtigung aus. Und der, der mit seinem Pissen den Stolz auf die Industriearbeit und das Gefühl für ihre Würde verletzte, kommt ausgerechnet aus dem Ruhrgebiet …

Wenn mir Heinz vor Augen oder in den Sinn kommt, empfinde ich neuerdings zunehmend starke Schuldgefühle. Warum nur? Er gibt mir doch jetzt immer wieder Zeichen einer viel versöhnlicheren Einstellung … Er ist ohnehin nicht der Mensch, der eine starke Abneigung lange durchhält. Und der schwere, katastrophale Unfall neulich hat bei ihm dann den Durchbruch bewirkt. Schön für mich …
Wir registrieren uns also wieder. Und wir signalisieren uns, dass wir uns registrieren. Das geschieht nicht mehr nur bei den Mahlzeiten, wie früher schon von Tisch zu Tisch – wir vergewissern uns zum Beispiel auch wieder während der Vorlesungen, ob der andere anwesend ist und in welcher Verfassung er sich befindet und wie er auf ein Vorkommnis oder auch nur eine Äußerung, die gefallen ist, reagiert. Dabei sitzen wir im Hörsaal recht weit auseinander.
Es freut ihn sichtlich, wenn ich über einen seiner kindlich harmlosen Späße lache. Er scherzt mit anderen vor meinen Ohren und dann sucht er mein Lächeln. Er sucht es gelegentlich sogar, wie ich sehr wohl bemerkt habe, zu provozieren. Das Schauen und das Lächeln, das sind tatsächlich die einzigen Arten von Kommunikation mit ihm, die bei mir nicht blockiert sind. Dass ich ihn mag, darüber dürfte er sich jetzt endgültig klar geworden sein, so rätselhaft und undurchschaubar ich sonst noch immer für ihn sein mag.

Es war eines von den amüsanteren Berliner Wochenenden – ich verbringe die freien Tage jetzt fast alle wieder in der Stadt. Dort pflegt man die offene Aussprache, dort wenigstens kommt man sich näher … Schon auf der Hinfahrt fange ich gleich hinter Dreilinden an, mich zu entspannen. Ich will mir aber nichts vormachen: Diese Nähe ist keine Herzensnähe. Man ist dort unbeschwerter, da man den anderen gerade so offen und leichtfertig betrachten und beurteilen darf wie sich selbst. Das ist es, was so entlastend wirkt.
Am Freitagabend stieß ich im MC auf Egon, den Chemiestudenten. Wir hatten uns fast ein Jahr nicht mehr gesehen und ich fand ihn sehr verändert. Äußerlich ist er passabler geworden, nicht mehr so dicklich und jetzt erstaunlich unbefangen. Er hat sich etwas verspätet doch noch politisiert. Kaum zu glauben: Egon arbeitet in einer Roten Zelle mit, allerdings einer sehr speziellen. Rufus sagte mir hinterher, zu den wesentlichen revolutionären Neuerungen seiner Gruppe gehöre es, untereinander unablässig weibliche Personal- und andere Pronomina sowie die Anrede Liebe Freundin zu verwenden. Auf mich wirkt es aufgesetzt, wie Egon, der früher so Verklemmte und auf komplizierte Weise Jungenhafte, jetzt mit Worten herumtölt. Seinem physischen Auftreten fehlt sonst jeder feminine Zug. Das ergibt einen seltsamen Kontrast.
Und dann rief mich Gunnar nach langer Zeit wieder einmal an. Er wollte mich am Samstagabend zu Leuten aus der Niebuhrstraße mitnehmen. Ich tat ihm den Gefallen. Wir trafen uns also am Kranzlereck und er bereitete mich unterwegs schonend auf die Verhältnisse vor. Tatsächlich fand ich ein Milieu vor, das mir dem von Egons Roter Zelle genau entgegengesetzt und doch wiederum auf eine vertrackte Weise tief innerlich verwandt zu sein scheint. Die Inhaber der riesigen Wohnung, zwei Männer um die vierzig, boten eine unfreiwillige und ihnen selbst wohl kaum bewusste Parodie auf das gewöhnliche trübe Familienleben. Es fehlten da nur noch die aufsässigen Gören, die wider die etablierten Alten rebellieren.
Die Gäste auf ihrer Geburtstagsparty waren fast alle Tunten um die dreißig, die meisten schon stark verfettet, und ich fand sie beschränkt und in ihren Anschauungen und Gewohnheiten erschreckend bürgerlich. Ein korpulenter, gutmütiger Knabe erkundigte sich gleich hintenherum bei Gunnar, ob ich noch zu haben sei. Später zwang er mich zum Tanzen und er fragte: „Willst du führen?“ Er stank nach Zwiebeln und Knoblauch, das üppige Kalte Buffet schien ihm geschmeckt zu haben. Ich musste auch noch mit dem Geburtstagskind kurz über die Tanzfläche watscheln - es roch penetrant nach Seife. Dann gab es das launische Getue einer alten Lesbierin …
Ich gab Gunnar zu verstehen, dass ich mich langweilte und nicht einmal schuldbewusst sei. Wir gingen recht früh und fuhren in die Rio-Bar. Sie war wieder einmal überfüllt. Wir ließen uns stundenlang treiben und herumstoßen und ich war schon verkatert, als ich um halb sieben nach Hause kam und auch diesmal allein ins Bett ging.

Und doch … Am kommenden Freitag fahre ich schon wieder nach Berlin. Nur dort liegen meine Chancen, ist meine Zukunft. Hier in L. habe ich nichts mehr zu gewinnen. Das führt mir Heinz täglich ungewollt vor Augen, Heinz, meine große Niederlage, vielleicht die letzte außerhalb von Berlin. Er spürt noch immer die Anziehungskraft, die er auf mich ausübt, er versucht noch immer, sich mir zu nähern und mit mir zu sprechen, ernsthaft mit mir zu reden – aber ich werde das nie schaffen: alles einzusetzen und mir jede Rückzugsmöglichkeit abzuschneiden. Furcht und Misstrauen beherrschen mich und ich wage mich nicht aus meinem Schlupfwinkel heraus. Ich speise ihn weiterhin sehr kurz und dabei konventionell lächelnd mit den gängigsten und banalsten Floskeln ab.
Wenn er mir begegnet und wieder einen neuen Anlauf nimmt, nach so vielen gescheiterten, dann ist er rührend und schüchtern. Ich bin auch schüchtern, aber ich rühre nur mich selbst. Und ich bin in Wahrheit nicht wirklich schüchtern, sondern nur gehemmt.
Ich glaube nicht, dass sich zwischen uns noch viel ändern wird. Ich könnte mich damit belügen und mir vortäuschen, meine Niederlage im Kampf gegen mich selbst hätte nicht endgültig sein müssen, wenn uns mehr Zeit zur Verfügung gestanden hätte. Dass auch die räumliche Enge hier an der Akademie schuld sei. Oder die vielen Hundert Kilometer, die zwischen Berlin und Darmstadt liegen. Oder dieser Ring an seiner Rechten …
All das sind nur Umschreibungen. Ich glaube, tatsächlich würde alles fortgerissen werden, wenn wir uns näher kommen könnten. Genau das habe ich von Anfang an gespürt und ich habe es heimlich auch gehofft. Und ich kann es nicht verwirklichen. Es ist nicht anders.
Nur noch drei Wochen bis zur Prüfung und zur Abreise. Er hat schon jetzt seinen Bart abgenommen, auch den Schnurrbart. Nun wirkt er noch sanfter und oft verlegen. Ich sehe vor mir einen weichen, einen kindlichen Mann ohne Falschheit, ohne Bosheit.
Ich werde das nie verwinden.

Sie nannten ihn heute bei Tisch das Charakterschwein Beck. Er hat sich doch tatsächlich noch einmal hierher gewagt, um seinen abschließenden einstündigen Vortrag zu halten. Welche Woge von Hass ihm entgegenschlug, in Form von Blicken, Körperhaltungen und Verfärbungen der Mienen … Mir scheint, je ohnmächtiger sie damals bei der Klausur waren, umso mehr hassen sie ihn jetzt. Und ich … versuchte ihn zu studieren. Ob es ihm innerlich zu schaffen machte, war für mich nicht zu erkennen. Deutlich war nur sein Bemühen, sich auf keinen Fall unterkriegen zu lassen, den Vortrag trotz dieser mächtig anbrandenden Woge von Ablehnung zu Ende zu bringen. Wir hatten es mit einem fanatischen Selbstbehauptungswillen zu tun.
Bin ich da zum ersten Mal einem Prototyp des, wenn man so sagen darf, grenzenlos bornierten Machtmenschen persönlich begegnet? Er ähnelt jenem anderen auffallend, der in diesen Zeiten unbedingt unser nächster Kanzler werden will. Er wirkt anämisch wie jener, ist eisern diszipliniert, fern von jeder Emotion. Mit äußerster Präzision verfolgt er sein einziges Ziel – auf lange Sicht Leiter der Akademie zu werden -, dieses Ziel, dem alles untergeordnet ist. Er ist roboterhaft, auf tausend Widerstände schon programmiert. Er kennt alle Finessen von Strategie und Taktik, er kann ebenso gut stahlhart-autoritär sein wie verlogen-schleimig. Eine seelenlose Maschine, mit Fleisch und Blut nur getarnt, das ist Beck – ich hasse ihn nicht, mir graut nur vor ihm.
Ist einer wie er der Mann der Zukunft? Produzieren ihn der allgegenwärtige Leistungsdruck, die Vergötzung der Funktionalität, der permanente Zwang zur Anpassung?
Ich sah gelegentlich zu Heinz hinüber. Er hielt den Blick dauernd gesenkt, spielte mit seinem Schreibgerät.
In diesen Tagen hat uns Doktor Friedrichsen versteckte, gleichwohl nicht misszuverstehende Andeutungen über einige Gegenstände der Prüfungsklausuren gemacht. Er kam eigens dazu in eine morgendliche Vorlesung und unterbrach sie für vier, fünf Minuten. Wir erfuhren nun auch, dass sich im Vorjahr ein Trio von Prüflingen hinterher daheim beschwert hat: über ihn, Doktor Friedrichsen, über die Dozenten, über Unterkunft, Verpflegung, Lärmbelästigung und die Klausuren … Bei der schriftlichen Prüfung sei massiv gepfuscht worden. Es rumorte damals eine Zeitlang im Verband. Um den Schein zu wahren, schloss man drei Teilnehmer, die es zu arg getrieben hatten, von der mündlichen Prüfung aus. Womit man sich Prozesse einhandelte, die zum Teil noch laufen.
Doktor Friedrichsen suggerierte uns geschickt die Moral hinter der Geschichte: Im eigenen Interesse Maul halten. Pfuschen ist erlaubt, aber es muss unter uns bleiben. – Über die drei Denunzianten herrschte sogleich allgemeine Empörung. Und ich? Mir ist dieser Doktor Friedrichsen immer noch ein wenig angenehmer als sein mutmaßlicher Nachfolger.
Seine Eröffnungen haben den Lerneifer noch einmal beflügelt. Jetzt hocken sie auf ihren Zimmern und machen sich kundig – wahre Spezialisten. Und nimmt man die Geräuschkulisse als Maßstab, so muss die allgemeine Stimmung prächtig sein. Von oben wie von unten und von allen Seiten höre ich es klingen, singen, juchzen, fiedeln, schrammeln und wummern. Das ganze Haus ist jetzt eine einzige Musicbox.
Gestern erschien plötzlich wie ein Schatten der Todesfahrer im Kasino. Er war sehr bleich unter seinem dichten schwarzen Haar und ging an Krücken. Sie hatten ihn eben aus dem Krankenhaus entlassen, und er kam, um sich zu verabschieden. Er sagte nur zu wenigen ein paar Worte. Wenigstens ihn hat, was geschehen ist, zu einem Unberührbaren gemacht. Es blieb viel Abstand um ihn. Man brachte ihn zum Bahnhof und wird ihm seine Sachen nach Hause schicken. Vielleicht wird er nächstes Jahr wieder nach L. kommen …

Noch zwei Wochen. Der Himmel über L. ist Tag für Tag einheitlich grau, während sich unsere Stimmung immer mehr aufhellt. Wohl keiner, der nicht gern an die Abreise denkt. Obwohl die Prüfung noch bevorsteht, scheinen die persönlichen Bilanzen schon gezogen. Wer die Zeit hier zuerst leichtfertig als eine Art Urlaub mit mehr Freiheit und mehr Spaß angesehen hat, ist vermutlich längst ernüchtert worden. Alle haben sich abgefunden und kehren gern in ihre gewohnten Verhältnisse zurück.
Wirklich alle?
Es war heute Morgen in der großen Pause … Ich ließ mir Zeit beim Verlassen des Hörsaals. Kann nicht einmal sagen, warum ich gegen meine Gewohnheit trödelte. So war die Masse schon drüben, als ich mit den Letzten hinausging. Ich sah erst jetzt, dass Heinz in meiner Nähe war. Er ging drei Schritte vor mir her durch den Vorraum.
Um nicht in dem kleinen Pulk mitgehen zu müssen, vermied ich den kurzen geraden Weg ins Kasino und schlug den längeren durch die kleine Grünanlage am Parkplatzrand ein.
Ich kam an den beschnittenen Buchsbäumchen vorbei, als ich ihn hinter mir hörte. Wir beide waren jetzt allein dort, das war mir sogleich unangenehm. Und dann sang er – Heinz sang! Ich hatte ihn bis dahin noch nie singen gehört.
Er singt nicht gut. Seine Stimme ist ein wenig brüchig und natürlich nie ausgebildet worden. Ich glaube, er ist nur wenig musikalisch und er weiß es wahrscheinlich auch. Es war also nur ein Sprechgesang, mit dem Original kaum zu vergleichen. Umso klarer verstand ich den Text …
Er kopierte Chris Roberts mit Hab ich dir heute schon gesagt, dass ich dich liebe. Er wiederholte einfach nur die Titelzeile, zweimal, dreimal, zunehmend langsamer und auch leiser werdend, wie über den Gehalt des bescheidenen Liedchens nachsinnend.
Sonst nichts. Wir gingen einfach weiter und kamen anderthalb Minuten später im Kasino an. Hockten uns auf unsere gewöhnlichen Plätze. Es war dann alles wie jeden Morgen.
Bisher habe ich in meiner Niederschrift stets festgehalten, was mir in Bezug auf Heinz bedeutsam vorkam. Ich konnte dieses heutige Detail also schwer fortlassen, die Erinnerung ist ja noch zu frisch. Müsste ich nicht auch beschreiben, wie ich mich zu seinem Vortrag verhalten habe, ob ich mir irgendetwas äußerlich habe anmerken lassen und wie ich mich dazu innerlich gestellt habe? Ich kann es nicht. Davon habe ich kein Bewusstsein. Merkwürdig, gewöhnlich beobachte ich mich doch selbst scharf oder glaube es wenigstens. Wenn ich mich bewusst blind und taub stelle, weiß ich das sehr gut. Ich weiß, wann ich fälsche.
Aber diesmal? Ich kann nicht sagen, ob ich langsam oder rascher weitergegangen bin. Und noch weniger weiß ich, was ich währenddessen empfunden habe. Als ob ich gewissermaßen anästhetisiert gewesen wäre.
Schlager an sich mag ich durchaus nicht. Ich kann ihnen nichts abgewinnen, den deutschen am allerwenigsten. Adorno sagt irgendwo – ich kann es hier jetzt leider nicht nachschlagen -, Schlager seien Gefühlsersatz. Ich glaube, er geht noch weiter und behauptet an jener Stelle, die Leute fühlten sich bloß zu bestimmten Gefühlen verpflichtet und um sie sich zu suggerieren, hörten sie die Schlager an. Na ja, das ist vielleicht ein wenig überspitzt formuliert.
Wie auch immer, den gewöhnlichen deutschen Schlager unserer Tage finde ich unsäglich, bloß albern und eben wirklich repressiv. Andererseits muss ich zugeben, dass sie geeignet sind, bei den Massen mächtig auf das Unterbewusste zu wirken. Während sie die Texte anhören oder mitsingen, wird da ohne Zweifel eine Gemütsverfassung ausgedrückt und vor allem vertieft.
Hab ich dir heute schon gesagt, dass ich dich liebe? – Ich weiß ja nicht einmal mit Bestimmtheit, wer oder was ihn in diese Stimmung romantischer Liebebedürftigkeit gebracht haben kann, so wie sie jenes armselige Liedchen ausdrückt.
 



 
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