Mein Freund der Baum ist tot, er starb im frühen Morgenrot
Als ich diesen Text las, stand er in der Lesergunst auf Wertung 9 (von möglichen 10). Ich habe bei der Leselupe noch nie einen so hoch gehandelten Text gefunden, aber doch schon ein paar, die ich mit mehr Vergnügen gelesen habe.
Ich würd’s zwar gerne fordern, hab aber natürlich keine Chance, damit durchzukommen: das Gesetz gegen Prosa, die tut, als wäre sie Lyrik.
Jemand hat irgendwas erlebt und gesehen und gedacht und gefühlt und sich dazu noch was ausgedacht, was er niemals erlebt, niemals gefühlt und niemals erlebt hat. Das zu erzählen, wäre nun einfach Prosa. Aber tut er nicht, er verwandelt alles in ein paar Stimmungsvaleurs und kleine, zwar nicht sonderlich originelle, aber recht einleuchtend wie hintergründig, verweisend, erhellend tuende Miniaturansichten eines Hauses und eines Gartens. Darin ein Er, eine Sie, ein bisschen Zuneigung und viel Verzweiflung. Und fertig ist das Mondgesicht.
Jemand erzählt mir nicht, was er zu erzählen hätte, sondern liefert mir eine kleine Fibel von Metaphern, in die ich so ziemlich alles reinlesen kann, was ich mag. Vor allem Gefühl, Schmerz, Enttäuschung, Isolation, Sehnsucht, Poesie, Schaumgebäck, die hohen Kunst des Zinntellerziselierens.
So etwas kann der Jemand in zwei Stunden schreiben. Und er riskiert damit nichts, überhaupt nichts. Er riskiert nur, für einen ach so poetischen Protokollanten des Fühlens gehalten zu werden.
Hätte dieser Jemand mir erzählt, heute Nachmittag sei er in der Wartezone des Finanzamts gewesen, hätte die Kübelpflanzen und die elster-Werbung betrachtet und sich vorgestellt, wie die Leute, die sonst dort saßen, ihr Geld verdienen und wie sie den Staat bescheißen, dann hätte dieser Jemand an so einer Geschichte vielleicht vier Tage lang feilen müssen, bis sie so interessant gewesen wäre, dass ich die sechs Seiten, die sie mindestens lang geworden wäre, als Leser auch zu Ende gelesen hätte. Und riskiert hätte er zumindest, dass ich ihn als Trottel angesehen hätte, als jemand, der über Finanzämter, Staatsbürger, Geld, Steuerehrlichkeit und so weiter ganz anders denkt als ich und wesentlich dümmer. Aber, wo’s nur um weiße Fensterrahmen und alte Bäume und fröstelnde Seelchen geht...
„Sie ist nicht, wie er sie wollte. Sie war nie so, wie sie sein sollte.“
Ja, das schätze ich schon auch. Obwohl ich von den 55 Werken Memos bisher nur dieses eine kenne.
ABER: Überhaupt niemand, kein Mensch ist so, wie er sein sollte. Und auch sehr selten nur so, wie er sein wollte. Das ist keine Nachricht. Ich war mal in einem Journalistenkurs. Da lernte man: Eine Nachricht ist, was von breiterem oder allgemeinem Interesse ist und was neu ist. Wohl gemerkt: UND – nicht oder.
Ich will einfach nicht einsehen, dass ein Text so toll gelungen sein soll (zu 90 Prozent und „Werk des Monats“ im April 2010 auch noch), der so kurz ist und in der Kürze schon so viele sprachlich-stilistische Mängel aufweist. (Rechtschreibung, Zeichensetzung ist mir eher egal.) Nämlich:
„Selbst, als er ihren Rücken berührt, fröstelt sie in seiner heißen Hand.“
In der Hand, das lässt sogleich an den Handteller, an eine haltende Vertiefung denken. In der Hand kann also ihr Fuß, ihre Hand, ihr Ohr, ihre Brust sein – oder umgekehrt sein Schniedelwutz vielleicht in ihrer. Aber der Rücken kann nicht in der Hand sein, dafür ist er zu groß.
„Festgehalten in einer Gegenwart, die sie in Zeitlupe erstarrt zurücklässt.“
Etwas zurücklassen heißt weiter gegangen sein und es hinter sich sehen oder verschwinden sehen. Eine erstarrte Zeit geht nicht, kann also nichts hinter sich lassen. Ginge die Gegenwart und ließe SIE zurück, dann befände SIE sich folglich mittlerweile in der Vergangenheit. Aber da steht, in der Gegenwart sei sie festgehalten, nicht also in der Vergangenheit.
„Sie horcht in die aufbrausende Leere, die ihr sich über die Hand ergießt.“
Ja, steht so tatsächlich da, wenn man die Einschübe wegkürzt. Eine Leere, die sich irgendwohin ergießt... Das finde ich ein überspanntes, pseudopoetisches Bild. Wenn sich dann aber die Leere über eine Hand ergießt, wird’s sprachlich zum Massaker. Leere, also Nicht-Stofflichkeit, wird zu etwas Flüssigem, also Stofflichem, denn sie ergießt sich. Diese Masse ergießt sich über eine Hand. Wäre wohl eklig, vielleicht klebrig, wenn es nicht Nichtstoffliches wäre, nämlich Leere. „Hui, da tropft grad wieder Leere auf meine Hand, komisches Gefühl immer.“ Jetzt braust diese Leere zu allem hin aber auch noch auf. Wie eine Orgel vermutlich oder eine Stalinorgel. Wobei das nicht geht, denn Brausen, das sind Klänge, ist Übertragung von Schallwellen. Die werden nicht übertragen, wo alles leer ist, wo es keine Luft gibt.
„Plötzlich sieht sie die Schaukel im Garten. Ein altes Brett fehlt. Jedes Mal, wenn sie in die Höhe fliegt, fürchtet sie durchzubrechen.“
Ungeschickt formuliert. Man ist geistig bei der Schaukerl, sie, die Schaukel. Jedes Mal wenn sie, die Schaukel, denkt man, in die Höhe fliegt, was Schaukeln manchmal tun, fürchtet sie irgendwas. Was? Die Schaukel fürchtet? Man wundert sich. Ach so... Nein, sie, die da sitzt in der Hand des Mannes, die fürchtet sich, wenn sie fliegt, auf der Schaukel, nicht jetzt, jetzt ist sie ja im Haus, aber sonst, bzw. jetzt auch, die Schaukel ist ein ach, so poetisches Bild für irgendwas, was der Leser sich bitte selber denken möge. Wir müssen hier doch nicht alles erzählen, was los ist.
Auch das ist alles andere als eine Nachricht: Jemand, der extreme Gefühlserfahrungen macht, fürchtet sich, durchzubrechen. So what?
Aber eine ganz simple Sache stört mich hier extrem. Dass das Brett der Schaukel „alt“ sein muss. Angenommen, ich bin städtischer Anlagenkontrolleur. Ich stehe nachmittags mal nicht im Finanzamt, sondern am Rande eines von Kindern belebten Spielplatzes. Eine Frau kommt, deutet auf eine gerade nicht besetzte Schaukel, deren Sitz man also gut inspizieren kann. Sie sagt: „Ihr Amt muss da was machen. Diese Schaukel ist gefährlich! Sehen sie, das sind nur Holzbretter, dieser Sitz! Sehen Sie das?“ „Hm“, murmle ich. „Dann sehen Sie auch, dass da was fehlt! Da fehlt eines von den Brettern. Es ist weg, das Brett.“ Ja, stimmt, denke ich. „Und es ist ALT!“, schreit die Frau. Ich gucke besorgt die Frau an, nicht die Schaukel.
„Draußen ist der hohe Baum im seltsam unschuldigen Licht, dessen dicker Ast beinahe ins Zimmer ragt.“ Wie eben: Licht, dessen... wir erwarten was übers Licht... dicker Ast... Hääää? Ein Licht mit Ast, geht’s noch?
„So als locke er sie. Sie wollte aufstehen und nachsehen ob sie die raue Rinde berühren könne.“ Konnte oder könnte, hat aber bestimmt der Kollege schon gesagt. Und warum bessert sie so simple Komma- und Zeitenfehler dann nicht einfach mal aus, sondern denkt drüber nach, ob sie das wirklich tun sölle?
„Der alte Baum lockt sie nicht mehr. Sie wagt nicht, den Ast zu berühren.“
Rhabarber, Rhabarber! Erstens, wenn Bäume einen locken, sie zu berühren, warum eigentlich nicht einfach den Stamm? Das geht am einfachsten! (Zumal bei HOHEN Bäumen, deren Äste sind selten in Griffhöhe - oder Griffweite, was das Fenster im ersten Stock angeht, dann werden sie nämlich beschnitten, bevor sie im Sturm die Scheiben zerschlagen.)
Und zweitens habe ich selbst schon so oft im Leben die Rinde von Bäumen berührt, dass ich wirklich weiß, dass dann gar nichts passiert. Die fühlt sich an wie Rinde. Das ist alles. Alles Weitere hat mit den Bäumen nichts zu tun, sondern mit dem eigenen Gefühl und wie sehr man sich dabei gefallen kann, in ihm zu suhlen. Von daher: Sie könnte ruhig wagen zuzufassen!
Aber holla! Ich bin ja so unsensibel! Das ist doch wieder Poesie. Das ist doch kein Baum, das ist doch kein Ast, das ist doch keine Rinde. (Nebenbei: Ich habe Texte, wo Bäume als Bäume, Äste als Äste und Rinde als Rinde vorkommen, lieber als solche.) Okay, kapiert. Das ist ein dicker Mann von den Zeugen Jehovas, der Hausbesuche macht und einen geschmacklosen, braunen Karopullunder trägt. Und das ist eine ziemlich gehunfähige Achtzigjährige, die im Geist allmählich wieder ein kleines blondbezopftes Mädchen wird und draußen auf der Schaukel zum Himmel fliegt, die an dem Apfelbaum (nee, nicht Apfel, die sind nicht hoch) hängt. Der Zeuge Jehovas streicht ihr übers Haar und legt ihr die Hand auf, damit sie die Macht des Herrn strömen fühlt. Dann kommt ihr der Zeuge, trotz des braunen Pullunders, wie der Schaukelbaum im Garten vor, der sie ins Sonnenlicht schwingen lässt. Und wenn sie die Hand ausstreckt, um ihren Freund, den Baum, zu berühren, fasst sie diesen extrem weit über die Hose hängenden Spitzbauch des Gottesmannes an. Das ist wie ein Ast am braunen Baum. Und schrecklich. Darum traut sie sich das bald nicht mehr.
Das Weiß ist übrigens auch braun, wenn man erst mal in die Risse eintaucht. Und vielleicht sogar kariert.
(Alle, die jetzt die Art von mir ganz eklig finden, quälen sich mal durch meinen absolut überlangen Text „Ahoj, junger Freund“, der steht bei Erzählungen, ist aber einfacher über meine Werkliste anzusteuern. Da könnt ihr euch dann erst mal aufregen! Versprochen.)