Nie ist etwas perfekt...

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Marc Olivier

Mitglied
Als ihn um vier Uhr der Wecker aus einem letzten Traum holte, fiel ein helles Licht durch die Lüftungsschlitze des Rolladens.
„Verdammt!“ entfuhr es ihm spontan. „Bitte nicht!“ flehte er.
Panisch stürzte er zum Fenster und riß den Rolladen krachend hoch. Über Nacht war Schnee gefallen. Typisch! Das passte ihm überhaupt nicht. Die Schuhe, für die er sein Konto geplündert hatte, konnte er vergessen. Also stapfte er grollend zum Schrank und nahm die Gummistiefel heraus. Aber er konnte seine schönen Slipper ja vor Ort anziehen, fiel ihm ein.
Nach einer belebenden Dusche zog er den besten Anzug an. Widerwillig, aber die Situation nicht verkennend schlüpfte er in die Stiefel und krempelte die Hosenbeine hoch. Er warf einen letzten Blick in sein Loft und stellte zufrieden fest, dass er beim Aufräumen und Blankwienern tatsächlich nichts vergessen hatte.
Ein kurioses Bild: Ein junger Bankertyp mit schniekem Anzug, Gummistiefeln und einem Seil in der Hand. Aber Gott sei Dank war dies eine Großstadt, in der sich angesichts solcher Außergewöhnlichkeiten keiner mehr Gedanken machte oder gar verständnisvoll schaute.
Als er schließlich zum Wald lief, sah es nicht so aus, wie er es sich gewünscht hatte. Eigentlich hing hier immer ein Schleier über dem Boden, grau und irrational. Der wurde jetzt natürlich vom Schnee verschluckt. Aber es war ja nie etwas perfekt!
Schließlich dachte er zum Ausgleich an die Menschenmenge, die er bald anziehen würde, und seine Laune besserte sich.
An seinem Baum angekommen, zog er die Slipper an und machte sich an den Aufstieg. Oben angelangt, befestigte er das Seil. Im nächsten Moment rutschte er ab und fiel schreiend zu Boden, wo er mit dem Kopf aufschlug.
Am nächsten Tag schrieben die Zeitungen:
„Selbstmörder tödlich verunglückt! Vom Baum gefallen und erfroren!“
 

annaps

Mitglied
Das ist auf jeden Fall der erste Selbstmörder, von dem ich höre, dass er sich vorher neue Schuhe gekauft hat! Sehr rücksichtsvoll von ihm.
 

annaps

Mitglied
Nicht mit schmutzigen Schuhen im Himmel anzukommen!
Er zieht extra die Gummistiefel vorher an! Selbst wenn er in die Hölle kommen sollte, was ich nicht glaube bei einem so ordentlichen Menschen ...
 

Marc Olivier

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Achso, danke für die Aufklärung! Das war mir zunächst nicht klar! Und ob er ordentlich ist, sei mal dahingestellt! Menschen, die Suizid begehen, werfen sich dafür oft "in Schale".
 

Inu

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Hallo Marc Olivier

Hab die anderen Kommentare nicht gelesen, aber ich finde den letzten Satz ganz toll und die Geschichte super geschrieben, nur fällt es mir schwer, die Motivation des Typen für den Selbstmord und seine akribischen, letzten Handlungen zu begreifen. Als Satire ist es wieder nicht beißend genug, da fehlt irgendwie der Kick.

Liebe Grüße
Inu
 

Marc Olivier

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Hallo Inu,

vielen Dank zunächst für Deine Antwort und Dein Lob! Was die Motivation des Protagonisten angeht, habe ich bewußt nicht viel verlauten lassen, um der Fantasie des Lesers Spielraum zu lassen, damit jeder das ihm wichtig Erscheinende hineininterpretieren kann. Ich versuche lediglich, ihn als einen Pedanten zu beschreiben, den die Fehlerhaftigkeit unserer Welt schließlich zu diesem Schritt treibt. Welche Fehler das sind, möchte ich jedem Leser selbst überlassen.

Als Satire war es auch nicht gedacht, sondern als eine kurze, offensive Geschichte, die eine gewisse Bitterkeit rüberbringt und ein mögliches Lachen abwürgt. Ich habe also bewußt keine deutliche Richtung eingeschlagen.

Viele Grüße, Marc Olivier
 

egotrip

Mitglied
Nie ist etwas perfekt....

Hallo Marc,

... die Menschenmenge die er anziehen würde. Evtl. würde ich schreiben .. den Effekt, den er damit erzielen würde.... oder so ähnlich. Ansonsten hat die Geschichte, trotz makaber einen schönen Witz. Bravo!!
 

Marc Olivier

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Hallo Susa,

vielen Dank für Deine positive Resonanz. Dein Verbesserungsvorschlag ist durchaus gut, nur: Dann wäre das geforderte Wort "Menschenmenge" nicht mehr im Text. Vielleicht könnt man schreiben: "...an den Effekt, der eine große Menschenmenge anziehen würde"...

Viele Grüße, Marc
 



 
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