An jedem Donnerstag Nachmittag, ich weiß nicht mehr wie viele Jahre schon, ist Andi hier draußen auf seinem Kahn und werkelt. Nur nicht, wenn der Donnerstag ein Feiertag ist. Dann ist es ihm zu unruhig im alten Werfthafen. Dann laufen dort zu viele Besucher herum. Früher habe ich Andi häufiger besucht. Es war eine Menge Arbeit, aus dem alten vergammelten Wrack eines ehemaligen Kanalschleppers, das er in Holland billig erstanden hatte, wieder ein ansehnliches und funktionstaugliches Schiff zu machen. Die Helligen, Werkstätten und Magazine an den hohen Uferböschungen dieses geschlängelten Wurmfortsatzes des Kohlenhafens, in dem sein Schiff schwimmt, sind längst verschwunden. Nichts erinnert mehr daran, dass hier vor Generationen Schiffe gebaut und ausgebessert wurden. Heute baut hier nur noch Andi.
Die verschnörkelten, dicht aneinander gedrängten Fassaden der alten Häuser oben, auf der anderen Seite der Uferstraße, lassen noch erahnen, dass es hier einmal sehr geschäftig zugegangen sein muss. Jetzt wirkt es, mit den alten Ahornbäumen, die beidseitig die Straße säumen, verschlafen. Wenn man wie Andi ist und graue Kälte durch den Hafen zieht, wird die Melancholie spürbar, die in der Luft liegt. Auch Schiffstypen wie Andis Kahn wurden hier gebaut. Wenn alte Schiffe eine Seele haben, dann werden sie sich hier wohl fühlen.
Anfangs hatte ich Andi bei der Arbeit geholfen. Fürs Grobe fehlten ihm manchmal ein paar Hände. Unter jeder Planke, die er entfernte, hinter jedem Blech, im Motorraum, in der Bilge, der Kajüte, den Verkleidungen des Steuerhauses, einfach überall fanden sich die Metastasen des Krebsgeschwüres, dessen erste Zellen bereits beim Stapellauf vor 120 Jahren, versteckt irgendwo an Bord, ihr zerstörerisches Werk begonnen hatten; Rost. Als ich zum ersten Mal an Bord war und mich umgeschaut hatte vom Bugsprit bis zur Heckschanz hielt ich es für ein schier aussichtsloses Unterfangen, dieses Wrack wiederzubeleben ... eigentlich. Ich sprach das nicht aus. Nicht weil ich höflich oder rücksichtsvoll sein wollte. Ich schaute Andi an. Wir kannten uns schon lange. Er war nie ein Mann großer Worte oder Gesten. Was ich sah, war so etwas wie Zufriedenheit in seinem Gesichtsausdruck. Obwohl er nicht blind war und den Umfang der notwendigen Arbeiten ganz nüchtern erkannte. Ich wusste nicht, was mich hinderte, meine Zweifel auszusprechen. Ich sah ihn an und zweifelte an meinen Zweifeln.
Damals saßen wir noch zwischen Müll und Trümmern am Tisch in der Kajüte. Andi drehte für uns Zigaretten während das Teewasser auf dem Campingkocher heiß wurde. Eine Petroleumlampe an der Decke, ein paar Kerzen auf dem Tisch, herunterrinnendes Kondenswasser an den Scheiben; eigentümliche Heimeligkeit in dem Chaos. Es roch nach Teer, verbranntem Öl, und wenn man die Tasse nahe genug unter die Nase hielt, auch nach Tee. Bedächtig, umständlich, erzählte Andi dann von seinen Fortschritten. Nie haben wir uns an Bord über etwas anderes unterhalten. Er zeigte mir den Fortgang der Arbeiten, und er dachte laut über das weitere Tun nach. Später half ich ihm nicht mehr. Ich wollte ihm die Arbeit nicht wegnehmen. Ich sah ihm Tee trinkend zu. Es roch jetzt mehr nach Holz und Farbe. Seine stille Zufriedenheit blieb. Meine anfänglichen Zweifel aber waren verflogen.
Ich kenne auch Andis Frau und seine Kinder. Sie ist ein ziemlich vorlautes Wesen, eine Ökoziege, die gerne auf ihrer Gartenbank zwischen Heckenrosen und Kräuterbeet sitzt ... und Andi auf den richtigen Weg gebracht hat. Sie weiß immer, welcher der richtige Weg ist. Damals, als Andi nach Berlin ging, lernte er sie kennen. Andi arbeitete halbtags als Apotheker und malte ansonsten. Es gefiel ihm in Kreuzberg. Damals fuhr er noch Motorrad. Nach ein paar Wochen war sie schwanger, und deshalb heiratete sie ihn. Andi mag Kinder. Er muss besoffen gewesen sein, als sie ihn bumste. Zumindest durfte er zurück nach Duisburg. Was sollte er auch noch in Berlin. Sie nahm dafür ein paar ihrer Freunde mit zum Ausgleich. Die wohnen seither auch in dem Haus, das Andi kaufen konnte, weil er seit der Rückkehr aus Berlin eine eigene Apotheke besitzt in Duisburg. Frau und Kinder verpflichten. Andi schweigt dazu. Harmoniebedürftigkeit ist eine schlimme Krankheit.
Mein letzter Besuch auf seinem Schiff liegt nur wenige Wochen zurück. Ich hatte eine Flasche Rotwein mitgebracht. Wir saßen in der Kajüte am Tisch, und Andi drehte uns Zigaretten. Draußen trübten dicke Stratuswolken das Tageslicht, wie meist, wenn ich ihn besuchte. So erinnere ich es zumindest. Oder gehört das zu dem Bild in meinem Kopf, das ich von diesem Arrangement "Schiff im alten Hafen nebst Kulisse" habe? Nach ein paar Zügen an seiner Zigarette und einem Schluck Wein aus der Flasche fragte mich Andi, ob ich mich an Franziska erinnere. Franziska sei jetzt geschieden. Andi würde so etwas nicht beiläufig fragen. Ich schaute ihn forschend an, fand aber keine Regung in seiner Miene. Ja, ich erinnerte mich an Franziska. Es hatte eine Beziehung zwischen ihm und Franziska gegeben, früher, lange bevor Andi nach Berlin ging. Es war eine eigenartige Beziehung aus der Sicht der Bekannten und Freunde. Sie hingen zusammen und sie bekämpften sich. Sie trafen sich mit Freunden und nahmen kaum Notiz voneinander. Sie saßen sich stundenlang schweigend gegenüber. Sie hielten sich weltvergessen in den Armen. Sie beschimpfte ihn, und sie weinte, wenn er sich abwandte. Er suchte sie tagelang, wenn sie mal wieder unauffindbar war. Sie machten sich atemlos. Andi war nie ein Schwätzer. Als sie ihn verließ, wurde er noch stiller.
Andi drehte die nächsten Zigaretten. Er hatte kein Wort mehr gesprochen. Ich schaute ihn immer noch an, und ich verstand. Nach vielen Besuchen auf seinem Kahn verstand ich endlich ... seine Flucht nach Berlin, den Kahn, das Fleckchen Hafen am Arsch der Welt, die freien Donnerstage, einfach alles, jetzt nur zu gut.
Die verschnörkelten, dicht aneinander gedrängten Fassaden der alten Häuser oben, auf der anderen Seite der Uferstraße, lassen noch erahnen, dass es hier einmal sehr geschäftig zugegangen sein muss. Jetzt wirkt es, mit den alten Ahornbäumen, die beidseitig die Straße säumen, verschlafen. Wenn man wie Andi ist und graue Kälte durch den Hafen zieht, wird die Melancholie spürbar, die in der Luft liegt. Auch Schiffstypen wie Andis Kahn wurden hier gebaut. Wenn alte Schiffe eine Seele haben, dann werden sie sich hier wohl fühlen.
Anfangs hatte ich Andi bei der Arbeit geholfen. Fürs Grobe fehlten ihm manchmal ein paar Hände. Unter jeder Planke, die er entfernte, hinter jedem Blech, im Motorraum, in der Bilge, der Kajüte, den Verkleidungen des Steuerhauses, einfach überall fanden sich die Metastasen des Krebsgeschwüres, dessen erste Zellen bereits beim Stapellauf vor 120 Jahren, versteckt irgendwo an Bord, ihr zerstörerisches Werk begonnen hatten; Rost. Als ich zum ersten Mal an Bord war und mich umgeschaut hatte vom Bugsprit bis zur Heckschanz hielt ich es für ein schier aussichtsloses Unterfangen, dieses Wrack wiederzubeleben ... eigentlich. Ich sprach das nicht aus. Nicht weil ich höflich oder rücksichtsvoll sein wollte. Ich schaute Andi an. Wir kannten uns schon lange. Er war nie ein Mann großer Worte oder Gesten. Was ich sah, war so etwas wie Zufriedenheit in seinem Gesichtsausdruck. Obwohl er nicht blind war und den Umfang der notwendigen Arbeiten ganz nüchtern erkannte. Ich wusste nicht, was mich hinderte, meine Zweifel auszusprechen. Ich sah ihn an und zweifelte an meinen Zweifeln.
Damals saßen wir noch zwischen Müll und Trümmern am Tisch in der Kajüte. Andi drehte für uns Zigaretten während das Teewasser auf dem Campingkocher heiß wurde. Eine Petroleumlampe an der Decke, ein paar Kerzen auf dem Tisch, herunterrinnendes Kondenswasser an den Scheiben; eigentümliche Heimeligkeit in dem Chaos. Es roch nach Teer, verbranntem Öl, und wenn man die Tasse nahe genug unter die Nase hielt, auch nach Tee. Bedächtig, umständlich, erzählte Andi dann von seinen Fortschritten. Nie haben wir uns an Bord über etwas anderes unterhalten. Er zeigte mir den Fortgang der Arbeiten, und er dachte laut über das weitere Tun nach. Später half ich ihm nicht mehr. Ich wollte ihm die Arbeit nicht wegnehmen. Ich sah ihm Tee trinkend zu. Es roch jetzt mehr nach Holz und Farbe. Seine stille Zufriedenheit blieb. Meine anfänglichen Zweifel aber waren verflogen.
Ich kenne auch Andis Frau und seine Kinder. Sie ist ein ziemlich vorlautes Wesen, eine Ökoziege, die gerne auf ihrer Gartenbank zwischen Heckenrosen und Kräuterbeet sitzt ... und Andi auf den richtigen Weg gebracht hat. Sie weiß immer, welcher der richtige Weg ist. Damals, als Andi nach Berlin ging, lernte er sie kennen. Andi arbeitete halbtags als Apotheker und malte ansonsten. Es gefiel ihm in Kreuzberg. Damals fuhr er noch Motorrad. Nach ein paar Wochen war sie schwanger, und deshalb heiratete sie ihn. Andi mag Kinder. Er muss besoffen gewesen sein, als sie ihn bumste. Zumindest durfte er zurück nach Duisburg. Was sollte er auch noch in Berlin. Sie nahm dafür ein paar ihrer Freunde mit zum Ausgleich. Die wohnen seither auch in dem Haus, das Andi kaufen konnte, weil er seit der Rückkehr aus Berlin eine eigene Apotheke besitzt in Duisburg. Frau und Kinder verpflichten. Andi schweigt dazu. Harmoniebedürftigkeit ist eine schlimme Krankheit.
Mein letzter Besuch auf seinem Schiff liegt nur wenige Wochen zurück. Ich hatte eine Flasche Rotwein mitgebracht. Wir saßen in der Kajüte am Tisch, und Andi drehte uns Zigaretten. Draußen trübten dicke Stratuswolken das Tageslicht, wie meist, wenn ich ihn besuchte. So erinnere ich es zumindest. Oder gehört das zu dem Bild in meinem Kopf, das ich von diesem Arrangement "Schiff im alten Hafen nebst Kulisse" habe? Nach ein paar Zügen an seiner Zigarette und einem Schluck Wein aus der Flasche fragte mich Andi, ob ich mich an Franziska erinnere. Franziska sei jetzt geschieden. Andi würde so etwas nicht beiläufig fragen. Ich schaute ihn forschend an, fand aber keine Regung in seiner Miene. Ja, ich erinnerte mich an Franziska. Es hatte eine Beziehung zwischen ihm und Franziska gegeben, früher, lange bevor Andi nach Berlin ging. Es war eine eigenartige Beziehung aus der Sicht der Bekannten und Freunde. Sie hingen zusammen und sie bekämpften sich. Sie trafen sich mit Freunden und nahmen kaum Notiz voneinander. Sie saßen sich stundenlang schweigend gegenüber. Sie hielten sich weltvergessen in den Armen. Sie beschimpfte ihn, und sie weinte, wenn er sich abwandte. Er suchte sie tagelang, wenn sie mal wieder unauffindbar war. Sie machten sich atemlos. Andi war nie ein Schwätzer. Als sie ihn verließ, wurde er noch stiller.
Andi drehte die nächsten Zigaretten. Er hatte kein Wort mehr gesprochen. Ich schaute ihn immer noch an, und ich verstand. Nach vielen Besuchen auf seinem Kahn verstand ich endlich ... seine Flucht nach Berlin, den Kahn, das Fleckchen Hafen am Arsch der Welt, die freien Donnerstage, einfach alles, jetzt nur zu gut.