Niemals wieder Frühlingszeit

Tadeya

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NIEMALS WIEDER FRÜHLINGSZEIT

Nico saß am Küchentisch, eine dampfende Tasse vor sich und eine Zigarette in der Hand. Er blickte auf und sah Karen in der Tür stehen.
„Ähm...“, machte Karen verlegen. „Hast du noch etwas Teewasser für mich übrig?“
Er nickte und griff kurz hinter sich, um die Herdplatte mit dem Wasserkessel noch einmal anzuschalten.
„Stört es... stört es dich, wenn ich mich zu dir setze?“ fragte Karen schüchtern weiter.
„Is` okay. Setz dich ruhig“, meinte Nico.
Das Wasser kochte sofort, denn es war noch sehr heiß gewesen. Wortlos stand Nico auf, holte ihr eine Tasse aus dem Schrank, legte einen Teebeutel hinein und goß das Wasser darauf.
Den Tee stellte er auf den Tisch, dann setzte er sich wieder und blickte Karen nochmals an:
„Was ist? Willst du im Stehen trinken?“
Karen schüttelte den Kopf und setzte sich hastig auf den Stuhl ihm gegenüber.
Er drückte die Zigarette im Aschenbecher aus und zündete sich sofort eine neue an.
„Rauchst du viel?“ fragte Karen, der nichts Besseres einfiel
„Stört es dich?“
„Nein, nein“, beteuerte Karen eilfertig. Dann trat Stille ein, während sie verlegen in ihre Tasse starrte.
„Hast du inzwischen wieder etwas gezeichnet?“ fragte Nico plötzlich.
Karen blickte auf. Noch immer etwas zögernd erklärte sie ihm: „Ich... zeichne immer. Jeden Tag... Ich zeichne meine Gedanken und Gefühle. Das brauche ich irgendwie, weißt du?“
Nico nickte. Seine Augen waren heute nacht ganz dunkel, so daß die Pupille und die Iris völlig miteinander verschmolzen.
Vielleicht war es auch das gedämpfte Licht im Raum, das diesen Eindruck erweckte.
Karen fuhr fort: „Ich sitze manchmal stundenlang da und zeichne. Dabei merke ich gar nicht, wie die Zeit vergeht. Und hinterher fühle ich mich richtig erlöst. Weil ich mir wirklich etwas von der Seele gezeichnet habe.“
„Michelle tat das auch...“ murmelte er und zog geistesabwesend an seiner Zigarette. „Sie malte mit Farben, die direkt aus der Seele kamen. Und sie versank in ihren Bildern...“.
Karen war erstaunt. Daß er ihr – einer eigentlich völlig Fremden – gegenüber Michelle erwähnen würde, damit hatte sie nicht gerechnet.
Sie schwieg und sah ihn an. So aufmerksam, wie er auch sie vorhin angeblickt hatte.
„Sie hat nicht einfach nur gemalt. Sie hat sich selbst geöffnet und all ihre Wärme und Harmonie, die sich in ihrem Herzen fand, in Bilder übertragen. Es war großartig, wenn sie das tat. Ich habe ihr oft beim Malen zugesehen. Ihre Gestik... ihr Gesicht... es war großartig...“
Karen schluckte. Die Traurigkeit in seiner Stimme ging ihr so nahe, daß ihr innerlich ganz kalt wurde. Sie sah, daß seine Augen feucht schimmerten und seine Mundwinkel zuckten leicht. Dennoch sprach er weiter mit seiner wunderbare, tiefen Stimme:
„So, wie sie malte, hat sie auch gelebt: Immer mit voller Hingabe und aus ganzem Herzen. Oberflächlichkeit war ihr fremd. Vorurteile hat sie nie gekannt. Sie ging allen Dingen auf den Grund.“
Er stockte, schien auf etwas zu lauschen, vielleicht ein Laut aus der Vergangenheit.
Dann sagte er, zuerst scheinbar zusammenhangslos:
„Die Camargue war für mich von Anfang an der schönste Platz, den ich während unserer Tour gesehen habe. Wir hätten damals lieber die großen Städte erobert, sicher. Besonders Paris. Aber sie wollten uns nur in den kleineren Orten. Mitten in dieser faszinierenden Landschaft...“.
„Hast du Michelle dort kennengelernt?“ konnte Karen es sich nicht verkneifen, zu fragen.
Er nickte: „Sie war auf einem unserer Konzerte. Ich habe sie gesehen, unten im Publikum. Ihr Gesicht glänzte von Schweiß, so hat sie getanzt.“ Er lächelte in sich hinein. Es war das erste wirkliche Lächeln, das Karen bei ihm je gesehen hatte. „Ihr Tanz war irre. Es war, als würden die Schwingungen der Musik vollständig ihren Körper beherrschen. – Ich konnte sie immer nur ansehen...“. Er lachte kurz und schüttelte den Kopf: „Ich habe andauernd meinen Text vergessen. Robin hätte mich am liebsten dafür erschlagen!“
Karen trank einen Schluck ihres heißen Tees, wobei ihre Augen nicht von seinem Gesicht wichen.
„Nach dem Konzert strömten alle Leute in den Saal. Ich habe mir nicht einmal die Zeit genommen, in die Garderobe zu gehen. Ich bin einfach rausgelaufen, durch den Hinterausgang und zu der Menschenmenge am Tor. Es hat ewig gedauert, bis ich sie unter den vielen Leuten gefunden hatte. Meine Angst, sie überhaupt nicht mehr zu finden, war schon zur Gewißheit geworden, als ich sie endlich entdeckte. Als wir dann voreinander standen, schien alles so klar zu sein: Sie sah mich an, lächelte nur und ihre Augen sprachen zu mir... Ich habe dann die Situation kaputt gemacht, indem ich versucht habe, einen französischen Satz auf die Beine zu stellen. Sie lachte so laut und schallend darüber, daß ich völlig verwirrt war. Ich weiß bis heute nicht, was ich zu ihr gesagt habe. Es muß wohl ein ziemlicher Nonsens gewesen sein...“.
Karen bekam das Gefühl, daß er sie jetzt überhaupt nicht mehr wahrnahm. Er war in der Welt seiner Gedanken verschwunden und sagte eine Weile gar nichts mehr, sondern zog nur hin und wieder an seiner Zigarette.
Seine Augen waren heute doch nicht so schwarz, wie sie eben noch geglaubt hatte. Sie hatten eine dunkle Regenwetterfarbe. Karen bekam eine leichte Gänsehaut, während sie sich ansahen. Ihr wurde in diesem Moment klar, daß sie seinen Schmerz niemals wirklich würde begreifen können. Auch, wenn er ihr vielleicht heute noch die ganze Geschichte erzählen würde.
„Erzähl mir bitte mehr von ihr“, bat Karen ihn, denn das Schweigen im Raum begann, unangenehm für sie zu werden.
„Was willst du wissen?“ fragte er zurück. „Du kennst doch den Rest der Geschichte von Ralf, oder nicht?“
Karen schüttelte den Kopf: „Nein. Ralf erzählt mir nicht die Privatsachen seiner Freunde.“
„Weißt du, daß sie eine Schwarze war?“ wollte Nico wissen und die Gewitterwolken in seinen Augen schienen in Bewegung zu geraten. „Weißt du auch, daß es schon allein eine Sünde ist, mit der falschen Hautfarbe geboren zu sein, daß es aber ein Kapitelverbrechen ist, die Rassen untereinander zu vermischen?“
Karen war erstaunt über seinen plötzlichen Zorn, der aber nicht in seiner Stimmlage, sondern einzig und allein an seinem Gesicht abzulesen war.
„Es gibt Leute, die vertragen es nicht, Weiß und Schwarz nebeneinander zu sehen. Es kränkt ihr Gefühl für deutsche Sauberkeit“, erklärte Nico weiter in einem sarkastischen Tonfall.
Karen wußte darauf nichts zu antworten. Sie schluckte nur und strich sich unsicher durch die zotteligen Haare.
„Michelle kam damals hierher mit all ihrer Lebensfreude und ihren großen Erwartungen. Wir hatten vorher viel Zeit in Frankreich miteinander verbracht, meist in der Camargue, in dieser herrlich heilen Welt, in der sie aufgewachsen war. Als sie dann zu mir zog, war sie so voller Zuversicht und freudiger Erwartung... Ich habe ihr ein Atelier gemietet, nur eine Straße von unserer Wohnung entfernt. Ein perfekter, kleiner Traum wurde wahr...“.

Michelle
Michelles Atelier war nur ein kleiner Raum direkt unter dem Dach. Überall an den Wänden lehnten bemalte Leinwände, meist mehrere übereinander. Der Geruch nach Ölfarbe und Firnis hing in der Luft und Nico empfand ihn als durchaus angenehm.
Er hörte Michelles Schritte auf der Treppe, leichtfüßig und schnell. Momente später kam sie zur Tür herein.
„Ist alles in Ordnung, Mitch?“ wollte Nico sofort wissen und sah sie gespannt und etwas besorgt an.
„Oh, chéri, du brauscht dir nicht zu machen Sorgen. Dein kleiner Junge ischt völlig gesund und so luschtig, daß er schlägt Purzelbäume in meine Bauch“, lachte sie und ihre großen, dunklen Augen leuchteten dabei.
Nico streichelte zärtlich über ihre Wange und nahm sie dann wortlos in den Arm. Er spürte die Wölbung ihres Bauches dabei ganz deutlich und der Gedanke an dieses neue, winzige Wesen, das da in ihr heranwuchs, erfüllte ihn mit stiller, unbeschreiblicher Freude.
Als Michelle einige Minuten später ihren Mantel abgelegt und die Schuhe ausgezogen hatte, nahm sie das halb fertige Bild von der Staffelei und lehnte es zu anderen an die Wand. Dann griff sie nach einer neuen Leinwand.
„Isch habe gesehen unseren kleine Milschkaffee heute auf dem UV-Bildschirm“, erzählte sie ihm.. „Er musch unbedingt auf die Leinwand, so wie er ischt in meinem Kopf.“
Nico lächelte. Sie beide verwendeten – solange die wirkliche Namensgebung noch ausstand – manchmal dieses Kosewort für das Baby in ihrem Bauch.
„Du willst den Kleinen malen?“ Nico war erstaunt und zugleich gespannt. Er ließ sich auf dem Fußboden schräg vor der Staffelei nieder, wie er es immer tat, wenn er ihr bei ihrer Arbeit zusah.
Als Michelle nach den seitlich neben ihr stehenden Ölfarben griff, sah Nico ihren runden Bauch, der unter der körperbetonten Kleidung wie ein praller Luftballon wirkte. Nico wäre in diesem Moment am liebsten selbst ein Maler gewesen, um die weichen Rundungen ihres Körpers für immer festhalten zu können.
Dunkelrot wurde das Wesen auf der Leinwand, mit dem großen, runden Kopf und den winzigen Gliedmaßen. Dunkelrot – wie das Blut. Wie die Liebe. Wie das Leben... Und rundherum bewegtes, dunkles Wasser. Die orangerote Nabelschnur als Verbindung zur Mutter führte nicht etwa seitlich aus dem Bild heraus, sondern lief direkt auf den Betrachter zu, in sich gedreht und von feinen Adern durchzogen.
Michelle vergaß in ihrer Darstellung auch nicht, daß es sich hier um einen kleinen Jungen handelte. Mit verschmitztem Lächeln setzte sie das kleine Geschlechtsteil mit zwei gezielten Strichen an seine Position. Dann drehte sie sich zu Nico um und präsentierte ihm das in weniger als einer halben Stunde entstandene Werk. Nico fand es wunderschön. Es spiegelte genau das wider, was er selber gegenüber diesem noch ungeborenem Leben empfand: Faszination und tiefe Wärme.

Am selben Abend noch hatte Nico einen kurzen Auftritt als Rahmenprogramm bei einer Jubiläumsfeier eines größeren Betriebes in Hilverstein. Michelle und er nutzten die Gelegenheit, um vorher noch in Ralfs Studentenbude vorbeizusehen. Die drei saßen an diesem Abend in dem Raum zusammen, den Ralf sein „Wohnzimmer“ nannte. Das einzige, was jedoch an ein Wohnzimmer erinnerte, war die Couch mit dem dazugehörigen Tisch. Ansonsten waren die Wände mit handbeschriebenen Zetteln und Computerausdrucken tapeziert. Es waren Ralfs selbst erdachte Liedertexte, Gedichte, kurze Geschichten und spontane Einfälle, die den Raum seine eigenwillige Tapezierung verliehen.
Eng nebeneinander saßen Nico und Michelle nun auf der Couch, während Ralf das kleine Keyboard, das wohl eher als Kinderspielzeug gedacht gewesen war, aus dem Schrank holte und mit Einsatz des Zeigefingers die Melodie klimperte, die Nico und er sich bei ihrem letzten Treffen erdacht hatten.
„Ich bin mit dem Text fast so weit“, erklärte Ralf, während er angestrengt weiter spielte. „Ich würde ihn dir gerne vorsingen, aber irgendwie versage ich dann meist kläglich.“
„Kann ich ihn mal haben?“ fragte Nico seinen Freund und Ralf unterbrach sein jämmerliches Geklimpere, um ihm einen Zettel zu reichen, den er von der Wand abnahm. Der Text handelte von den tristen Tagen des Herbstes, von Traurigkeit und Einsamkeit. Die Melodie hatte wirklich nach etwas Sentimentalem verlangt, das war Nico klar. Und er bemerkte, daß Text und Melodie nicht besser hätten zusammenpassen können.
Er wollte den Klang des neuen Liedes einfach mal ausprobieren, deshalb begann er, es zu singen:
„Sommerträume sind verweht, das Jahr ist alt.
Erinnerungen quälen mich, in mir ist es kalt.
Die Welt ist voller Tod und Leid, die Pflanzen sterben ab.
Ich weiß, es ist jetzt kalt, in deinem dunklen Grab....“
Ich möcht’ mit den Vögeln fliehen, möchte mit ihnen nach Süden ziehen, fliegen bis an’s Ende dieser Welt. Vergessen, was mit dir geschehen, vergessen, daß ich je den Sommer hab‘ gesehen...
Ich möchte‘ in deine Augen sehen, möchte‘ mit dir durch’s Herbstlaub gehen, träumen bis an’s Ende dieser Welt...“.
Als das Lied zu Ende war, war es zuerst einige Sekunden lang andächtig still im Zimmer, dann begann Michelle, begeistert zu applaudieren.
Nico nahm den Textzettel mit, um ihn auswendig zu lernen.

Die Jubiläumsfeier, bei der Nico auftreten sollte, war stimmungsvoll und die Gäste waren mit ihrem Applaus nicht geizig. Michelle lauschte hinter der Bühne, wie Nico einige aus den momentanen Charts sehr populäre Lieder sang. Er mußte mehrere Zugaben geben, denn man tanzte, sang und klatschte begeistert mit. Und am Ende brachte jemand den Wunsch vor, das Lied „Maria“ aus der West-Side-Story zu singen. Ob Nico das könne?
Die vorher noch etwas unruhigen Leute wurden plötzlich ganz still, als Nico begann. Michelle erhob sich automatisch von ihrem Stuhl hinter der Bühne und lauschte auf diese wundervolle, gefühlvolle Stimme, die ihr so vertraut war und ihr doch jedesmal neue Schauer über den Rücken jagte. Als der letzte Ton verklungen war, brach ein Beifallssturm los, in den Michelle von ihrem Platz aus mit einstimmte.
Draußen fiel leichter Regen und das erste Herbstlaub auf den Straßen war feucht und rutschig. Michelle stellte sich auf den Bürgersteig und sang aus voller Kehle: „Maria, Maria, Mariaaaaaa!“
Nur, wenn sie Glück hatte, traf sie manchmal den ein oder anderen Ton, aber diese Gesangseinlage mißlang völlig. Nico lachte über ihre leidvoll hochgestellten Augenbrauen und die gerunzelte Stirn.
Die Hauptstraße von Hilverstein hatte eine Fußgängerunterführung. Eine breite Treppe führte hinab in den schwach beleuchteten, menschenleeren Tunnel. Sie hätten um diese Tageszeit auch die Straße oberirdisch überqueren können, denn der Verkehr war nur noch sehr schwach. Eigentlich stiegen die beiden nur aus purer Gewohnheit in die Unterführung hinab.
Auf halber Treppenhöhe fiel Michelle auf, daß hier eine besondere Akustik herrschte. Sie schmetterte „Mariaaaa“ so durchdringend in das vor ihnen liegende Halbdunkel hinein, daß Nico sich ganz automatisch die Ohren zuhielt, denn dieser Ton lag bereits hinter der Schmerzgrenze.
„Warte, ich habe etwas Anderes, als Maria, zur Abwechslung“, sagte er und holte den Zettel heraus mit dem von Ralf geschriebenen Liedertext. „Wie wäre es mit einem netten Duett?`“ fragte er sie.
Nico summte den Anfangston und Michelle traf sogar die richtige Note, allerdings zwei Oktaven höher:„Sommerträume sind verweht, das Jahr ist alt. Dunkel sind die Tage nun...“, sangen sie beide nun in nicht eben perfekter Harmonie.„Der Frost in meinem Herzen zeigt, der Winter ist nicht weit. Ich weiß, für mich wird’s niemals wieder Frühlingszeit.“
Kein Passant kam vorbei, niemand ging die Stufen hinauf oder hinunter. Sie waren ganz allein, sie beide und diese schwermütige Musik. Michelles schimmernde Augen blickten zu ihm auf und die vollen, roten Lippen zitterten ein wenig. In diesen Augen sah er seine Zukunft, sein ganzes Leben.
„Daß es einen so treffen kann...“, flüsterte er ihr zu.
Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und berührte seinen Mund sanft mit ihren Lippen. Während sie dann die restlichen Stufen hinabstiegen, hatte Nico seinen Arm um ihre Schultern gelegt und spürte ihre Wärme noch durch die Mäntel, die sie beide trugen.
Dann kamen plötzlich diese Männer aus irgendeiner dunklen Nische. Provozierend stellten sie sich ihnen in den Weg und grinsten die beiden an.
Nico beschleunigte seinen Schritt und wollte Michelle an ihnen vorbeiziehen, denn er ahnte nichts Gutes. Doch sie ließen sie nicht davonkommen, schlossen die Lücke, durch die Nico schlüpfen wollte und begannen damit, aggressive Bemerkungen zu machen.
„Na, wie süß! Haste dir ein Niggerweib angelacht, Junge? Sicher heißer, als weiße Frauen, was?“
„Scheiß Niggerbrut, schleicht sich überall ein. Nur, weil’s deutsche Kerle gibt, die auf einen schwarzen Hintern abfahr’n!“
Michelles Blick war ängstlich und verwirrt. Nico, der keinen Weg an diesen Männern vorbei sah, zog seine Freundin fester an sich. Er überlegte krampfhaft nach den richtigen Worten, die diese Kerle vielleicht besänftigten könnten, mußte sich aber schnell eingestehen, daß es solche Worte wahrscheinlich nicht gab.
„Singen wie die Nachtigallen, die beiden Süßen!“ amüsierte sich der Jüngst der Gruppe, der sehr kurze hellblonde Haare und einen spärlichen Bartwuchs hatte. „Vielleicht sollte man der Niggerin noch ein paar Voodoo-Trommeln geben!“
Die anderen lachten grölend über diesen Witz.
„Laßt uns bitte durch“, sagte Nico mit einer möglichst entschlossenen, ruhigen Stimme und fixierte einen Mann mit geflickter Brille, der anscheinend der Wortführer der Clique war. Er erntete daraufhin nur ein weiteres, gehässiges Lachen.
„Wer so höflich fragt, kriegt auch die richtige Anwort“, lachte der Wortführer, gab ein Handzeichen und die vier stürzten plötzlich auf Nico und Michelle los und rissen die beiden auseinander. Nico war viel zu überrascht, um seine Freundin wirklich festhalten zu können. Michelle stieß einen erschreckten, kurzen Schrei aus und dann war sie von einer Sekunden auf die andere nicht mehr neben ihm.
Der Kerl mit der geflickten Brille und ein anderer, recht stämmiger Mann drückten Nico mit dem Rücken gegen die Wand und der Stämmige stellte sich direkt vor ihn und verdeckte seine Sicht.
„Mitch!“ rief Nico und versuchte, sich aus den harten Griffen der beiden Männer zu winden. Doch zwei waren zusammen viel stärker, als er. Der Stämmige streckte blitzschnell den Arm aus und knallte seine Handfläche so heftig gegen Nicos Stirn, daß dieser mit dem Hinterkopf gegen die harte Wand schlug. Es war eine Schmerzexplosion in Nicos Kopf und für einen Augenblick war er ganz benommen:
„Das ist für’s Niggerficken, du dreckiges Schwein“, lachte der Kerl und rotzte dabei Nico direkt ins Gesicht.
Nico hörte Michelles Stimme. Sie war voller Angst und hallte zwischen den kahlen Wänden geisterhaft wider. Was sie sagte, konnte er nicht verstehen.
Der Stämmige machte einen Schritt zur Seite, ohne ihn loszulassen, und gab Nico den Blick frei.
Der jüngere, blonde Mann und ein rotgesichtiger, versoffen aussehender Kerl hatten Michelle den Mantel heruntergerissen. Michelle setzte sich so heftig zur Wehr, daß es für einen Moment so aussah, als könne sie ihm entkommen. Doch die beiden Männer hatten sie schnell wieder im Griff und der Rotgesichtige kniff ihr feixend in den Bauch: „Hey, hey, seht mal! Da ist ein kleines Niggerlein unterwegs!“ rief er den anderen zu.
In dem Moment, als der Fremde den Bauch seiner Freundin berührte, kroch in Nico eine unglaubliche Wut hoch. Er preßte die Lippen aufeinander und hatte das Gefühl, etwas Heißes, Brennendes in sich zu haben. Der Zorn gab ihm Kraft, sich loszureißen, nach vorne – in Michelles Richtung – zu stürzen und dem Rotgesichtigen mit einer Wucht ins Gesicht zu schlagen, daß dieser mit blutiger Nase rückwärts taumelte und ein ganz dämlich-überraschtes Gesicht machte.
Im nächsten Moment schmiß sich der Stämmige von hinten auf Nico und warf ihn zu Boden. Dann hagelte es Tritte und Schläge von allen Seiten, vor allem auf Bauch und Brust, so daß Nico die Luft wegblieb und er am Enden nur noch keuchend auf der Erde lag.
Er konnte nicht mehr nachdenken, sah keinen Ausweg mehr, spürte nur noch seinen schmerzenden Körper. Der mit der gepflückten Brille und der Stämmige packten ihn an den Armen und rissen ihn wieder hoch. Erschreckt stellte Nico fest, daß seine Beine unter ihm nachgaben und er beinah auf die Knie gesackt wäre, wenn diese beiden Kerle ihn nicht festgehalten hätten.
Das Atmen fiel ihm schrecklich schwer und schmerzte. Er hatte für einen kurzen Moment das Bild einer gebrochenen Rippe vor sich, die einen Lungenflügel durchbohrte.
Der Wortführer zog Nicos Kopf an den Haaren nach hinten und kam mit seinem Gesicht ganz nah an ihn heran, als er sagte:
„Niggerbrut gehört abgetrieben, das ist doch klar?“
Nico roch seinen stinkenden Atem und sah die großporige, fettige Haut. Die Augen hinter der verschmierten Brille waren glasig und die Pupillen stark erweitert.
Nico zitterte vor Angst und Wut, brachte keine Antwort heraus.
Der Wortführer ließ Nicos Kopf wieder los und Nico mußte mit ansehen, wie der Rotgesichtige an Michelles schwarzen Haaren herumspielte. Er versuchte, mit einem Ruck seine Arme zu befreien, aber es gelang ihm nicht. Michelles Gesicht war derartig von Entsetzen erfüllt, daß sie mit Sicherheit die zuletzt gesprochenen Worte gehört haben mußte. Nico wollte sie beschützen. Es war ihm nun egal, wie sehr sein eigenes Leben in Gefahr war. Nur Michelle, betete er: Rette nur Michelle... Mit einer heftigen Armbewegung knallte der Rotgesichtige Michelle seinen Ellbogen ins Gesicht, so daß ihr Kopf nach hinten flog.
Nico brüllte so laut er konnte nach Hilfe und hoffte, daß irgendwelche Passanten ihn dort draußen hören würden. Es klickte an seinem Ohr und als er einen Blick zur Seite warf, sah er, daß der Stämmige ein Klappmesser in der Hand hielt. Er setzte das Messer direkt an Nicos Halsschlagader an und meinte mit drohendem Blick:
„Beim nächsten Mal bist du tot...“.
Michelle gab merkwürdig erstickte Laute von sich und Nico mußte bestürzt feststellen, daß ihr Gesicht blutig war. Ihr ganzer Körper zitterte und sie sah ihn so erbärmlich an, daß sich sein Herz zusammenkrampfte.
„Mitch“, brachte Nico hervor und seine Stimme klang nicht wie seine eigene, sondern ganz klein und ganz weit entfernt.
„Du bewegst dich keinen Millimeter, Niggerficker“, drohte der Stämmige.
Der Rotgesichtige legte beide Hände auf Michelles Bauch: „Oh, es bewegt sich!“ spottete er.
„Los, jetzt“, forderte ihn der Wortführer ungeduldig auf.
Der Rotgesichtige gehorchte nun auf der Stelle. Er versetzte der jungen Frau einen schnellen, kräftigen Tritt in den Bauch. Michelle schrie laut auf und ging in die Knie.
Reflexartig riß Nico seine Arme nach vorn, um freizukommen. Sein Herz raste und er hatte das Gefühl, der Tritt hätte ihn selber getroffen. Die beiden Männer hielten ihn auch diesmal wieder fest, so daß er nicht entkommen konnte und mit einer kurzen, fast beiläufigen Bewegung stieß der Stämmige ihm sein Messer in den Oberarm.
Der beißende Schmerz war Nico egal, er kämpfte weiter gegen den Griff der beiden Kerle an.
Der Blonde rammte seine Schuhspitze in den Bauch der wehrlosen, am Boden liegenden Frau. Michelles Gesicht war schmerzverzerrt. Sie hatte die Augen weit geöffnet und ihr Blick traf Nicos.
Nico stieß einen Schrei aus, der ihn selber an ein verletztes Tier erinnerte.
Michelles Hände lagen schützend auf ihrem Bauch, doch das half ihr nichts.
Der Rotgesichtige schien Gefallen an seiner eigenen Brutalität zu finden und trat immer öfter und immer heftiger zu.
Nico sah, wie das Blut ihre Jeans rot färbte. Michelles Augen waren ganz groß und so unaussprechlich schmerzerfüllt...
Irgendwann, nach unendlich langer Zeit, ließen die beiden Männer ihn los und kraftlos stolperte er auf seine Michelle zu, die nun regungslos lag.
Er hörte noch die Schritte der vier Kerle, wie sie sich entfernten, und ihre aufgeregten, aber zutiefest befriedigten Stimmen, dann hielt er seine liebe Mitch in den Armen. Ihr Körper war völlig ohne Leben, und die Augen starrten ins Leere, aber ihr Gesicht war noch immer von Pein gezeichnet.
Nico brauchte nur diese Augen zu sehen und er wußte, daß Michelle nie wieder aufwachen würde.
Er vergrub seinen Kopf in ihr schwarzes Haar und weinte, am ganzen Körper zitternd.


„Schwarz und Weiß – wir kommen schon durch. Wenn einer was sagt, dann lachen wir ihn halt aus...“, sagte Nico leise.
Karen war entsetzt über die Geschichte, die sie gerade gehört hatte. Es war, als habe Nico jede einzelne Szene dieses grausamen Ereignisses wie ein genaue, detaillierte Zeichnung festgehalten und sie ihr vor Augen geführt.
Er starrte in seine leere, kalte Tasse und redete wie zu sich selbst.
Karen ging es schlecht. Hilverstein war nur wenige Kilometer von hier entfernt und sie konnte sich sogar noch dunkel daran erinnern, einen Artikel in der Lokalzeitung überflogen zu haben, in dem es um den Mord an einer schwarzen schwangeren Frau gegangen war. Sie hatte zu dem Zeitpunkt, als sie davon gelesen hatte, dieses typische ist-ja-nicht-real-Gefühl gehabt, daß sie bei solch schrecklichen Dingen immer befiel.
Aber es war real. Und es waren Nicos Freundin und Nicos Kind gewesen. Und er hatte dabei zusehen müssen.
„Ich habe sie hierher geholt und ich habe ihr nicht helfen können, als es geschah. Und damit soll ich jetzt leben und kann nichts mehr ändern“, sagte Nico nachdenklich in seine Teetasse hinein.
Karen konnte gar nichts erwidern. Sie schluckte nur und fühlte sich ganz leer und dumm.
Das Geräusch des Regens, der gegen die Fensterscheiben klatschte, erfüllte den Raum, als niemand mehr etwas sagte.
Karen bemerkte erst jetzt, daß Ralf in der Küchentür stand, mit hängenden Schultern und betroffenem Gesicht. Er hatte fast die ganze Geschichte mitbekommen und es war das erste Mal, daß er alles so detailliert von Nico selbst gehört hatte.
Nico entdeckte Ralf, als er seinen Blick ruhelos von der Tasse durch das Zimmer schweifen ließ.
„Niemals wieder Frühlingszeit, Ralf“, zitierte er den Liedertext, den sein Freund geschrieben hatte.
Ralf schwieg eine Weile dazu, schien zu überlegen, dann meinte er:
„Das Lied ist nicht Schuld daran. Wenn du meinst, das Lied war ein Omen für diese furchtbare Nacht, dann mußt du mir die Schuld geben. Ich habe den Text geschrieben.“
„Es war für mich das letzt Lied“, sagte Nico. „Und der letzte Traum.“
 

Tadeya

Mitglied
Kommentare erwünscht

Ich bin neu auf der Leselupe und habe heute meine ersten drei Beiträge in drei verschiedenen Kategorien eingestellt. Auf Kommentare bin ich gespannt, möchte auch gerne konstruktive Kritik lesen.
 
S

schwafelfasel

Gast
Willkommen auf der Leselupe!

Die Geschichte find ich gut, aber sehr erschütternd. War wohl auch so beabsichtigt, schätz ich mal. Es ist auch wichtig, dass sich jemand dieser Thematik annimmt. Das Lied, das ja eine ziemlich zentrale Rolle spielt in der Geschichte, gefällt mir allerdings weniger. Wahrscheinlich liegt's daran, dass ich einfach unmusikalisch bin und mir keine Melodie dazu vorstellen kann. Mit Melodie ist's wahrscheinlich gleich ganz was Anderes. Aber die Worte allein sagen mir eigentlich kaum was. "Die Welt ist voller Tod und Leid" - find ich etwas melodramatisch, aber gut, das Ganze s o l l ja sentimental sein. Aber Vögel, die nach Süden ziehen... das ist irgendwie ein etwas abgegriffenes Bild, findest du nicht?

Schwafelfasel
 

Tadeya

Mitglied
Weißt du, auch mir ist der Liedertext ein Stück zu melodramatisch. Ziemlich kitschig, wie ein nicht eben gut gelungener Schlager.
Ich sollte mir vielleicht ein anderes Lied ausdenken.

Danke für deinen Kommentar.
 



 
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