Nihil novi sub sole

Svalin

Mitglied
Nihil novi sub sole

Dass es nichts (wesentlich) Neues (mehr) unter dieser Sonne (zu entdecken) gibt, ist ein Problem, mit dem sich wohl nicht nur Autoren herumschlagen müssen. Selten/ mitunter/ oft hat man das "Vergnügen", selbst entwickelte Gedanken (auch Motive, Metaphern, Figuren) oder einen eigenen Stil später zufällig in frappierend ähnlicher Weise an anderer Stelle wiederzuentdecken.
Ist euch das auch schon einmal ähnlich ergangen? Gab es bei euch Fälle solcher Parallelität, wo man unabhängig von anderen und ohne je etwas von ihnen gehört zu haben(1), >Gleiches< gedacht bzw. geschrieben hat? Das finde ich sehr interessant. Vielleicht geht es ja nicht nur mir so ;-)

"daß wir begreifen, was uns ergreift" - Emil Staiger

Mein eigenes Beispiel ist die überraschende Feststellung, dass meine ganz persönliche Herangehensweise an lyrische Texte - der Zugang über das eigene, allersubjektivste Gefühl - schon vor Jahrzehnten ein Bestandteil der sog. werkimmanenten Interpretation war, eine der vorherrschenden literaturwissenschaftlichen Theorien im Nachkriegsdeutschland, die maßgeblich von Emil Staiger begründet wurde:
Anhand von Eduard Mörikes Gedicht Auf eine Lampe zeigt Staiger nun seinen methodischen Weg vom naiven Wortverständnis über die affektive Einfühlung zur sogenannten Stilkritik. "Diese Verse bedürfen keines Kommentars. Wer Deutsch kann, erfaßt den Wortlaut des Textes." Aber der Interpret versucht "etwas über die Dichtung auszusagen, was ihr Geheimnis und ihre Schönheit, ohne sie zu zerstören, erschließt". Möglich scheint dies nur auf Grundlage einer affektiven Wirkung: "die Verse sprechen uns an; wir sind geneigt, sie wieder zu lesen, uns ihren Zauber,ihren dunkel gefühlten Gehalt zu eigen zu machen. [...] Das allersubjektivste Gefühl gilt als Basis der wissenschaftlichen Arbeit! Ich kann und will es nicht leugnen."

Allerdings soll das affektive Berührtsein, ja die 'Liebe' zum Text in analytische Erkenntnis umgesetzt werden. Staiger möchte "begreifen, was mich ergreift". Alle Beobachtungen am Text (etwa zu Wortwahl, Klang, Metrik und Rhythmus) haben ein gemeinsames Ziel: die stilistische Individualität des Werkes zu bestimmen. "Wir nennen Stil das, worin ein vollkommenes Kunstwerk - oder das ganze Schaffen eines Künstlers oder auch einer Zeit - in allen Aspekten übereinstimmt. [...] Im Stil ist das Mannigfaltige eins. Er ist die Dauer im Wechsel. Daher denn alles Vergängliche unvergänglichen Sinn gewinnt durch Stil. Kunstgebilde sind vollkommen, wenn sie stilistisch einstimmig sind."

Solche Stilkritik ist nur teilweise erlernbar, zum anderen Teil bleibt sie intuitiv. Daraus folgt auch für Staiger: "Nicht jeder Beliebige kann Literarhistoriker sein. Begabung wird erfordert, außer der wissenschaftlichen Fähigkeit ein reiches und empfängliches Herz, ein Gemüt mit vielen Saiten, das auf die verschiedensten Töne anspricht."
Grüße Martin
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(1) hervorgehoben, weil es in diesem Thread nicht um die (bewußte oder wissentliche) Imitation von bzw. Inspiration durch Quellen gehen soll, die einem selbst bekannt sind.
 
C

Casper Jacob

Gast
nicht alleine ...

hi martin,

nein, du bist nicht alleine in der feststellung, dass vermeintlich eigene ideen schon weit vor der zeit von anderen umgesetzt wurden. je länger wir auf diesem planeten weilen, umso mehr müssen wir akzeptieren, dass unsere geahnte genialität sich als irrtum erweist. nehmen wir's in demut hin.

auch halte ich nichts von einer "ästhetik des rechenschiebers". ein wenig seele, ein wenig herz, eine prise verstand - das sind schon ganz gute voraussetzungen, um literatur zu produzieren, die uns berührt. ganz subjektiv ...

keep on rockin' in a free world ...

viele grüße

axel
 

Svalin

Mitglied
Hallo Axel

> unsere geahnte genialität sich als irrtum erweist

Sag doch sowas nicht ;-) Dann muß ich ja mein Lieblingszitat von Franz Xaver Kroetz einstampfen: "Ich habe den Ehrgeiz, etwas zu schreiben, das man nicht übertreffen kann. Nach mir soll Literatur nicht mehr möglich sein." :D

Natürlich hast du Recht. Wesen, die auf dem selben Planeten leben, denken und fühlen, müssen wohl zwangsläufig Ähnliches erfahren, gerade weil das zentrale Daseinsmotiv unverändert geblieben ist: Suchen ... Nahrung, Lebenspartner, Sinn und was nicht alles ;-)
Was mich im vorliegenden Fall so verblüfft hat, war vor allem das Wiederfinden (m)einer an sich eher laienhaften Sichtweise in einer hochwissenschaftlichen (?) Theorie. Für gewöhnlich versteht man von diesen lebensfernen Dingen nur Bahnhof ;-) Ich kann mich noch gut an den Deutsch-Leistungskurs erinnern: Sprachtheorie, Kommunikationsmodell und Faust. Alles sehr weit an dem vorbei, was mich (mittlerweile) an und in der Literatur interessiert. Eigentlich schade.

Liebe Grüße
Martin
 



 
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