Nikas erste Lektion (Escorian)

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Aneirin

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Nikas erste Lektion

»Du musst dich konzentrieren.« Escorian saß auf dem blanken Steinfußboden. Er hatte nicht einmal ein Kissen. Seine reich bestickte Magierrobe war staubig, in einem Ärmel klaffte sogar ein langer Riss und sein am Morgen noch kunstvoll frisiertes Haar lag wirr um seinen Kopf.
»Ich kann nicht.« Vor ihm stand die junge Nika und schaute auf ihren Lehrer herunter. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Escorian wappnete sich gegen einen weiteren Ausbruch. Erst würde Nika weinen, und dann würde ihr Kummer in ungezügelte Wut umschlagen. Er hatte das oft genug erlebt, seit Nika als Trägerin wilder Magie in die Schule der Zauberer gekommen war. Damals war Escorian selbst noch ein Schüler gewesen. Gemeinsam mit seinem Lehrer war er ausgeschickt worden, um Nika zu holen und die Verheerungen der wilden Magie zu bannen. Gefangen in einem magischen Netz war sie in der Schule angekommen, und ihm hatte sie als einzigem Vertrauen geschenkt und sich von ihm leiten lassen. Deshalb war er ihr Lehrer geworden und verbrachte ganze Tage mit ihr in ihrer Kammer.
»Du musst dir Mühe geben. Konzentriere dich zuerst auf deine Atmung, tief und gleichmäßig. Fühle wie die Luft in deine Lungen strömt und sie wieder verlässt.« Escorian machte es ihr vor. Er fühlte den Luftstrom als rauchgraues Band in seinem Körper. »Setz dich hier hin und mach mit.« Mit einer Hand klopfte er vor sich auf die Erde, ohne die Atemübung auch nur einen Moment zu unterbrechen.
Nika gehorchte. Die Gefahr eines Zornausbruchs war fürs erste gebannt. Sie holte tief Luft. Escorian sah sie in Nikas Körper strömen. Bei ihr war die Luft allerdings nicht rauchgrau, sondern ein an den Rändern ausgefranstes zartgelbes Band.
»Ausatmen«, erinnerte er sie. »Atme nicht mit mir zusammen, finde deinen eigenen Rhythmus. Achte auf die Luft in deinem Körper.«
Nika folgte seinen Anweisungen mit vor Anstrengung gerunzelter Stirn. Die zartgelben Ränder glätteten sich.
»Du machst das sehr gut. Denke jetzt an Deine Magie. Spüre die Kraft, die durch deinen Körper fließt.
Nikas Stirnfalten vertieften sich noch. Sie schloss die Augen und die Atmung geriet aus dem Takt. Der Luftstrom franste wieder aus.
»Gleichmäßig atmen.«
»Ich kann nicht.« Mit einem lauten Pfeifen stieß Nika die angehaltene Luft aus. Wilde Magie wurde mit einem Schlag freigesetzt und brach sich an den Wänden der Kammer. Sie konnte nicht hinaus, denn die Kammer war durch Schutzzauber vom Rest der Schule abgeschirmt. Den schon vorhandenen Verwüstungen fügte sie neue hinzu. Ein Stuhl fiel krachend von der Decke, an den ein früherer Ausbruch wilder Magie ihn katapultiert hatte, auf den Boden und zerbarst. Holzsplitter flogen umher. Einer verletzte Nika an der Wange. Ein Kissen, das ebenfalls an der Decke schwebte, explodierte und eine Wolke Flaumfedern schneite herab. Die Bettdecken sausten von einer Ecke in die andere und blieben zu einem Klumpen zusammengeballt liegen. Einzig die Truhe, die Nikas wenige Habseligkeiten enthielt, blieb wegen ihres Gewichtes stehen und weil Escorian sie mit einem Dämfpungszauber belegt hatte, damit sie niemanden erschlug. Er war aber nicht stark genug, um Nika und die anderen Gegenstände im Raum zu schützen.
Trotz Ihrer Magie war Nika doch auch ein neunjähriges Mädchen und floh entsetzt über das, was sie wieder angerichtet hatte in die Arme ihres Lehrers. Escorian barg ihren Kopf an seiner Brust und wischte das Blut von ihrer Wange. Er war ratlos. Seine eigenen magischen Kräfte konnten sich mit denen Nikas nicht messen. Er hatte nach seiner Ankunft in der Schule nur wenige Tage gebraucht, um zu lernen, wie sie zusammenzuziehen und zu kontrollieren waren. Die Anwendung war nachher das Schwierige gewesen.
Und wenn es Nika nicht bald gelang, ihre Kräfte zu beherrschen, würde der Rat der Magier sie töten, um die Gefahr zu beseitigen, die von ihr ausging. Sie wusste nichts davon, als sie leise in Escorians Armen schluchzte.
»Ich werde es nie lernen«, schniefte sie. »Meine Kraft ist überall. Ich kann sie nicht an einer Stelle meines Körpers zusammenziehen. Wie habt ihr es gelernt, Meister?«
»Genauso wie ich versuche, es dir beizubringen und in dieser Kammer.«
»Wenn ich doch nur einmal den Himmel sehen könnte, dann würde ich es vielleicht können. Die Wände erdrücken mich.«
»Stell dir vor, was geschieht, wenn du wilde Magie in der Schule freisetzt. Die ganze Burg könnte einstürzen, oder du könntest Dutzende von Personen verletzen.«
Nika war in den Bergen von Tramontana zu Hause gewesen und den ganzen Tag wie eine Bergziege herumgestrolcht. Escorian verstand sie nur zu gut. Er sehnte sich immer noch nach einem Leben in Müßiggang, das er wegen seiner bescheidenen magischen Kräfte nicht haben konnte.
»Lasst es mich doch versuchen, Meister. Ich verspreche, ich werde gut Acht geben und niemanden verletzen.«
»Das kannst du nicht versprechen, Nika. Aber wir versuchen etwas anderes.« Escorian hatte eine Idee, und er schimpfte sich selbst einen Narren, dass es ihm nicht schon früher eingefallen war. »Warte einen Augenblick.«
Er verließ die Kammer und als er zurückkam, hielt er einen großen Strauß Blumen in der Hand. Bei ihrem Anblick leuchteten Nikas Augen auf. »Sind die für mich?«
»Natürlich.« Escorian setze sich wieder neben seine Schülerin auf den Boden und gab ihr die Blumen. Sofort versenkte Nika ihre Nase in den Blütenkelchen.
»Vergiss das Atmen«, sagte Escorian. »Schau auf die Blumen und sammle deine Kräfte in dir.«
»Aber wie soll ich …?«
»Versuche es einfach.«
Nika legte den Strauß neben sich auf die Erde, runzelte die Stirn und starrte die Wand an.
»Nein, nein. Nimm die Blumen und freu dich daran. Sammle deine Kräfte nebenbei«, unterbrach sie Escorian. »Ich glaube, es kann dir besser gelingen, wenn du etwas hast, was dich freut.«
Sie tat wie ihr geheißen, roch an den Blüten und mühte sich. Eine Eruption wilder Magie riss die Blumen aus Nikas Hand und verteilte sie in der Kammer.
»Es ging doch schon besser. Du wirst es schaffen«, ermunterte Escorian sie.
Nika sammelte die Blumen ein und setzte sich erneut hin. Vier Versuche später glaubten beide daran, dass es ihr gelingen könnte. Sie kam jedes Mal ein Stück weiter, bis die wilde Magie ausbrach, und die Blumen folgen jedes Mal weniger heftig durch die Raum.
Als Escorian die Übung für heute beenden wollte, bettelte Nika noch um einen einzigen, letzten Versuch. Die Blumen waren kaum noch als solche zu erkennen, aber sie roch wieder an ihren. Escorian konnte spüren, wie sich die wilde Magie in Nikas Körper zusammenzuziehen begann, zu einem immer kleineren Ball wurde. Alle Kraft strömte in ihre Körpermitte. Auf ihrer Oberlippe sammelten sich Schweißtropfen.
Sanft griff Escorian nach ihrem Handgelenk. »Es ist gut, Nika. Lass ganz langsam wieder los. Fühle wie die Magie wieder in jede Faser deines Körpers zurück rinnt.«
Nika begann zu zittern. Escorian musste sie festhalten.
»Was ist passiert, Meister?« Ihre Stimme kam von weit her.
»Du hast es geschafft, das ist passiert. Als nächstes musst du nun lernen, deine Magie zu bündeln und zu halten, ohne dass du deine ganze Konzentration brauchst.«

© Aneirin, 2003
 

MelP

Mitglied
Begeistert

Hallo Aneirin,
wieder mal eine supi Geschichte von Dir, würde gern mehr davon hören!!!
Viele Grüße
MelP
 

Aneirin

Mitglied
DANKE

Hallo Mel,

viele Dank für Deine aufmunternden Worte. Ich kann sie gebrauchen. Ich nehme gerade an einem Workshop im Internet teil - in 6 Wochen zum Buch. Da soll aus Escorian und Nika ein längeres Werk werden. Bisher gibt es aber nur ungeordnete Szenen, bei denen ich befürchte, langsam den Überblick zu verlieren. Da gingen mir Deine Worte wie Balsam runter.

Eine Geschichte hatte ich noch mal eingestellt, die heißt - ein Kranich stand im Weg - und handelt auch von Escorian.

Viele liebe Grüße
aneirin
 

MelP

Mitglied
Weitermachen

Hallo Aneirin,
kann mir ziemlich gut vorstellen, dass man da mal schnell Überblick und Mut verliert - geht mir ja schon bei Kurzgeschichten manchmal so. Brenne trotz allem auf mehr bzw. die Forsetzung, werd auf jeden Fall mal nach der älteren Geschichte suchen! Also, Augen zu und durch! Du machst das schon. Lieb grüßt

Mel
 



 
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