Noahs Angst

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Wie findet ihr diese Kurzgeschichte? Mehrdimensionale Kritik wäre schön ;-)


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Max Neumann

Mitglied
Noah, das ist ein Junge von acht Jahren mit mandelbraunen Augen und lockigem schwarzem Haar, der Drachen und Elefanten liebt. Gerade sitzen er und sein Papa Frank im Wohnzimmer am Esstisch, vor den Fenstern peitscht ein Schneesturm durch die Dunkelheit...

Ich bin auch noch da, sagt ein Drache, der in einer Ecke des Zimmers in Angriffsstellung lauert. Mein Name ist der Große Überwilde und ich komme aus der Kinderserie „Dragons“ – mein Körper ist so groß wie zehn Ochsen aufeinandergestapelt, meine Flügel sind bedeckt von schwarzen Zacken. Mein Schwanz ist gigantisch und, wenn ich dich mit ihm schlage, tödlich. Ach ja: außerdem habe ich blutrote Augen.

Jetzt meldet sich ein Elefant zu Wort und trompetet: Törööö! Ich bin der Benjamin Blümchen. Man könnte mich schwer nennen, aber ich liebe Zuckerwürfel über alles, denn sie zu verspeisen, ist meine Leidenschaft. Mjam! Ansonsten bin ich der ruhige Typ, vermeide Streit, und kann keiner Fliege was zuleide tun.

Noah und Papa wollen Uno spielen. Gerade hat Frank die Karten zu Ende gemischt, den Stapel auf den Tisch gelegt und zu einer frisch geöffneten Bierflasche gegriffen. Frank setzt an und trinkt die Flasche in einem Zug leer.

Noah folgt der Trinkbewegung. Als Frank fertig ist, fragt Benjamin: Weißt du was, Noah?
Was denn? will Noah wissen.
Och, brummt Benjamin.
Hast du was gesagt? fragt nun Frank.
Nö, hab nur laut gedacht, antwortet sein Sohn, als ihm der Große Überwilde grollend zuraunt: Ich hasse es, wenn Frank trinkt. Dann schnaubt der Drache so lange, bis lauter Glühwürmchen aus seinem Rachen aufsteigen. Sie schwirren durchs Wohnzimmer und setzen sich überall ab, wie neongelber Staub.
Mag keinen Schmutz auf dem Tisch, beschwert sich Noah.
Hast recht, Noah, die Karten sind gut gemischt, sagt Frank, nachdem er die zweite Flasche geöffnet hat. Er trinkt sie ungefähr zur Hälfte leer und summt: Kartenspielen macht Mordsspaß, weißt du früher, als ich jünger war als du jetzt, da habe ich auf den Geburtstagsfeiern meiner Oma, die grandios waren, jeden mit meinen Kartentricks begeistert.
Während Frank spricht, äfft Noah ihn heimlich nach.
Ha! Das war schon was, ergänzt Frank, fährt sich durch die Haare und leckt über die Lippen. Wenn die bloß nicht immer soviel gesoffen hätten, das hat mich als Kind gestört und dazu geführt, dass ich flüchtete, um darüber nachzudenken, wie man das größte Kartenhaus der Welt bauen könnte, indessen sind Omi und Opi beim Tanzen aneinander gestoßen, was für herzhaftes Gegröle sorgte.

Reflexartig greift Frank zur halbvollen Bierflasche und trinkt sie aus.
Nach der Party lagen die besoffen auf dem Teppich, fügt Noah leise hinzu. Frank scheint das nicht gehört zu haben und ergänzt: Zum Schluss lagen die besoffen auf dem Teppich. Ach ja, eigentlich gute Menschen, aber sie konnten ihr –
Noah flüstert: Aber sie konnten ihr Trinken nicht kontrollieren.

Frank beachtet das nicht; er beglotzt die leere Bierflasche. Seine Oberschenkel wippen auf und ab. Wieder leckt Frank über die Lippen. Weißt du was, Noah? Teil mal die Karten aus. Kennste ja, jeder acht Stück, und nicht schummeln.

Nachdem Frank aufgesprungen ist und das Wohnzimmer verlassen hat, faucht der Große Überwilde: Der Frank ist nicht gut, denn er redet nur von sich selbst, von seiner Kindheit. Aber was ist mit dir, Noah? Das kotzt mich an, brüllt er tobend und speit wieder Feuer, diesmal ohne Rücksicht auf Verluste, so dass Noah in Deckung gehen muss und unter Benjamins Beinen nach Schutz sucht.
Die rubinroten Augen des Großen Überwilden zerschneiden mit ihrem Glanz das Dämmerlicht und er speit eine Feuersalve nach der anderen aus, so wie es Flammenwerfer anrichten...

Bitte hör auf! brüllt Noah. Der Drache erwidert: Vergiss es. Hier muss alles brennen. Wir müssen die Erinnerungen deines Vaters auslöschen. Nur dann wird er dich lieben lernen. Außerdem hasst du das Wohnzimmer, nicht wahr – weil Frank hier immer trinkt.
Lass dich nicht ins Boxhorn jagen, brummt Benjamin gemütlich. Der Überwilde spuckt Feuer, schön und gut, aber was kaputtmachen... Das, murmelt Benjamin gähnend, kann der doch gar nicht.

Da geht die Feuersbrunst zurück, während Noah zwischen Benjamins Beinen kauert, mit aufgerissenen Augen. Frank kommt zurück, in der rechten Hand eine Bierflasche, trinkend. Als er sieht, wie Noah sich eingerollt hat, prustet er vor Lachen los und spuckt das Bier, das in seinem Mund ist, auf seinen Sohn. Noah scheint das nicht zu registrieren. Angsterfüllt starrt er den Großen Überwilden an, der in ruhender Haltung, ein rotes Auge geöffnet, auf die nächste Attacke wartet.

Au Backe, ü'erall Bier! lallt Frank, knallt die Bierflasche auf den Tisch und beugt sich hinunter zu Noah, um ihn in den Arm zu nehmen. Scheiße! Frank läuft ins Badezimmer, holt ein Handtuch und kommt wieder, rubbelt Noah sorgfältig die Haare trocken.
Iih, meckert Noah. Ich hasse das.
Frank schaut Noah verständnislos an: Die Haare müssen doch abgerubbelt werden. Oder etwa nicht?
Glaub ihm nicht, zischt der Große Überwilde. Er belügt dich, Noah.
Benjamin sagt gleichzeitig zu Noah: Siehst du, Frank liebt dich. Er rubbelt dir ja die Haare ab. Und außerdem hat der ein schlechtes Gewissen wegen dem verschütteten Bier.
Noahs Gesicht ist kreidebleich. Hört auf, hört auf, hört auf, wispert er und hält sich dabei die Ohren zu.

Frank sieht seinen Sohn besorgt an. Er lässt das Handtuch sinken und nimmt langsam Noahs Hände von seinen Ohren, streicht ihm ein nasses Haar, das auf Noahs Stirn klebt, aus dem Gesicht.
Das ist ja nicht mit anzusehen, sagt Frank sanft. Ohne zu zögern pikst er Noah mit den Fingern in die Magengegend und verkitzelt ihn, dass Noah erst zaghaft, dann etwas mehr und schließlich in schallendes Gelächter ausbricht.
Mit Leibeskräften versucht der, die Hand seines Vaters abzuschütteln, doch es gelingt nicht, allerdings muss Frank, um ihn weiter zu kitzeln, komische Verrenkungen machen. Die beiden verschlingen sich ineinander und kommen aus dem Lachen nicht mehr raus.
Aber dann hört Noah auf zu lachen und fragt: Papa, warum trinkst du Bier?

Mit einer solch direkten Frage scheint Frank nicht gerechnet zu haben. Er stockt einen Moment und antwortet: Weil's gut schmeckt. Warum trinken Männer denn?
Noah zuckt mit den Schultern. Weiß nicht. Bin noch kein Mann. Aber wenn's gut schmeckt, warum trinkst du so schnell? Da denke ich nämlich immer, du magst das Bier nicht.
Na ja, grummelt Frank, so schnell trinke ich nicht, das wäre eine Angelegenheit, mit der ich mich näher befassen müsste, da muss abgewägt und gründlich überlegt werden, bevor man voreilige Schlüsse zieht.
Der Große Überwilde flüstert verstohlen: Er lügt, Noah. Glaub ihm kein Wort.
Benjamin sagt: Frank ist süchtig nach dem Bier. Aber er will dir nichts Übles.

Diesmal lässt Noah sich nicht aus der Ruhe bringen. Und stellt ruhig die nächste Frage: Schmeckt's dir oder nicht?
Franks Augen streifen durchs Zimmer, als suche er nach etwas. Der Große Überwilde schnaubt leise; Benjamin verspeist gut gelaunt eine Handvoll Zuckerwürfel.
Na, weißt Du Noah – ich mag das Bier schon. Aber früher hab' ich's viel langsamer getrunken.
Noah sieht Frank ernst und traurig an. Du meinst, als Mama noch da war.
Frank antwortet mit den Augen. Und nickt, kaum erkennbar.
Vater und Sohn schweigen. Siehst du, sagt Benjamin: Du und Papa, ihr seid durch etwas verbunden: Durch den Tod deiner Mutter Ruth.
Der Große Überwilde spricht: Frank stürzt das Bier herunter, weil er deine Trauer nicht aushält, Noah. Und Ruth liebt er viel mehr als dich. Er wünscht sich, dass du anstelle von ihr gestorben wärst.

Können wir die Musik anmachen, Papa?
Welches Lied meinst du?
„So wie du warst“, antwortet Noah. Du weißt schon, von?
Unheilig, antwortet Frank. Dann steht er auf und geht ins Nachbarzimmer, um den Song auf YouTube zu spielen.
Läuft die Sound-Bar, Noah?
Noah schaut nach. Da fallen ihm zahllose Glitzerlichter auf, die um den Boxenblock herum schwirren, funkelnd wie Sterne in Milchstraßen. Von diesem Anblick ist Noah magisch angezogen, starrt mit weit geöffnetem Mund die Lichter an und streckt den Zeigefinger danach aus...
Noah! ruft Frank. Ist die Anlage jetzt an oder nicht?
Nein, antwortet Noah. Die Sterne sind nicht mehr da.
Was? Red doch nicht so'n Stuss, meckert Frank und kehrt ins Wohnzimmer zurück. Unwirsch schiebt er Noah zur Seite. Lass mich mal nachseh'n. Frank beugt sich hinunter zur Soundbar, fummelt an der Verkabelung herum. Kein Wunder, Noah: Das optische Kabel ist gerissen. Warst du das?
Noah sieht Frank ebenso vielsagend wie nichtssagend an. Weißt du was, Papa. Lass uns doch lieber Karten spielen.

Frank scheint unzufrieden. Tritt unruhig von einem Bein aufs andere. Nimmt die Bierflasche vom Tisch und stellt frustriert fest, dass sie leer ist. Verdammt, schimpft Frank, doch dann sieht er Noah an und wird rot.
Ich hab' 'ne Idee! ruft Noah plötzlich aus. Lass uns'n Deal machen, Papa. Du holst dir ein Bier.
Und dann? fragt Frank skeptisch.
Na ja: Heute trinkst du in Ruhe. Probier das aus. Oder hast du Angst?
Angst? ruft Frank im Davoneilen.
Kurz darauf kehrt er zurück, in der Hand eine geöffnete Bierflasche, aus der noch nichts getrunken wurde. Er setzt die Flasche an, trinkt zügig die ersten zwei Schlücke, unterbricht, stellt die Flasche auf den Tisch und reibt sich über den Bauch.
Jetzt muss ich aber auf Toilette, mein lieber Scholli.
Zu diesem Zeitpunkt ist Benjamin schon eingeschlafen, zwischen Rüsselspitze und Boden klebt ein Zuckerwürfel.
Noah lächelt. Als sein Vater das Wohnzimmer verlassen hat, sagt Noah, ohne hinzuschauen, zum Großen Überwilden: Siehst du – Papa liebt mich. Sonst würde er nicht langsamer trinken. Ist ganz einfach, oder etwa nicht?
Keine Antwort.
Noah dreht sich um, nachzusehen. Dort, wo der Große Überwilde kauerte, liegt nun eine kleine Drachenfigur. Vorsichtig schleicht Noah an sie heran und als er spürt, dass keine Gefahr von ihr ausgeht, hält er sie ans Ohr und fragt: Papa liebt mich, nicht wahr?


So Wie Du Warst
 

hein

Mitglied
Hallo Tissop,

gute Geschichte, aber .....

Der Junge denkt nicht wie ein Achtjähriger, sondern wie ein Erwachsener (Nennung von Namen das Vaters und seiner Mutter, usw.).

LG
hein
 

Max Neumann

Mitglied
Hallo Hein,

in dem Falle muss ich passen, denn ein Junge, dessen Mutter früh verstarb und der einen alkoholkranken Vater ertragen muss, ist frühzeitig dazu gezwungen, zumindest Denkzüge von Erwachsenen anzunehmen. (In der Psychologie/Psychoanalyse sprechen wir von forcierter Autonomie.) Zudem leidet er an visuellen und akustischen Halluzinationen, dem Drachen und dem Elefanten.

LG
Tissop
 



 
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